Vorgeblättert

Leseprobe zu Katharina Born: Schlechte Gesellschaft. Teil 2

31.01.2011.
Die Panne des Fremden (Juni 1865)

An einem der wenigen Sonnentage im regnerischen Juni von 1865 hatte in der Melsbacher Hohl unterhalb der Kirche ein junger Herr mit seinem Landauer eine Panne. Der glänzende Wagen machte noch mit gebrochener Vorderachse und schief am matschigen Fuß der Hüh stehend, großen Eindruck auf die herbeigekommenen Dorfbewohner. Der Herr selbst trug einen samtblauen Gehrock und war von so offensichtlich städtischer Eleganz, dass keiner der jungen Männer, die auf dem angrenzenden Feld mit dem Ausbringen von Mist beschäftigt waren, es wagte, ihm zu helfen. Er hatte aussteigen müssen, um das Pferd zu beruhigen, was ihm sichtlich schwerfiel, so aufgebracht war er. Als seine glanzledernen Stiefel im Schlamm versanken, begann er laut zu fluchen.
     Die Mädchen kehrten gerade vom Markt in Arlich zurück und sahen schon von weitem den Wagen. Die großen leeren Körbe im Arm, liefen sie über den matschigen Waldpfad aus der Hohl heran, um den Fremden genauer zu besehen. Die Jungen, die nun ebenfalls vom Kurtenacker herbeigerannt kamen, fingen in ihrer Aufregung an zu johlen und die Mädchen zu zwicken. Diese aber kicherten beim Anblick des jungen Herrn nur noch nervös, senkten den Blick und versuchten ihre von den Waldbeeren blaugefärbten Hände hinter den schmutzigen Röcken zu verstecken.
     Allein Irma stand wie angewurzelt da und beobachtete den schimpfenden Mann, seinen schnaubenden Braunen, die blitzende Kutsche und den schönen Rock. Schnapp sprang um das Mädchen herum und bellte den Wagen an. Langsam öffneten sich Irmas Lippen. Aber sie schlossen sich sofort wieder, als der Mann sie ansah.
     Im Jahr 1865 war Irma Wittlich dreizehn Jahre alt. Zwar hatte sie, wie alle ihre Geschwister, die Wittlichschen Ohren, das starke Kinn und die etwas zu große Nase. Was bei den anderen aber zu dem ärmlichen, hohläugigen und dümmlichen Ausdruck geführt hatte, für den die Familie bekannt war, verschmolz in Irmas Gesicht zu einer extravaganten Schönheit, einer gebrochenen Harmonie.
     Die Wittlichs hatten nie Glück gehabt. So lange man sich in Sehlscheid erinnern konnte, waren sie Trinker gewesen, rauhbeinige, brutale Bewohner der Lehmhütte auf der Hüh, die es mit ihrem kleinen, unfruchtbaren Stück Land nie weiter brachten als ihre Väter. Jeden Morgen mussten die Töchter dem Alten den Eimer ans Bett bringen, denn bevor er den Kopf ins kalte Wasser getaucht hatte, durfte niemand das Wort an ihn richten. Abends umwickelten die Großen den Kleineren mit Lappen die Füße, damit die Ratten nicht an ihnen fraßen. Sie bauten Kohl und Kartoffeln an, zogen Kaninchen und Ziegen. Aber allein mit dem Verkauf von Heidelbeeren im nahegelegenen Arlich konnte die Familie Vorräte für den langen Winter anlegen.
     Meistens trug Irma die schweren Körbe in die Stadt, weil sie bei den Händlern, die aus den Beeren den bekannten Westerwälder Morbelswein machten, mit ihrem hübschen Lächeln ein paar Pfennige mehr bekam. Nie wurde sie den Geschwistern vorgezogen, und sie drückte sich vor keiner der Arbeiten. Allein die große Anhänglichkeit des Hundes Schnapp, schon der dritte seiner Art, seit Irma in der dunklen Hütte geboren worden war, sprach für ihre besondere Stellung in der Familie. Und auch in der weiteren Umgebung war sie bekannt, denn das Mädchen galt noch bis ins Aulbachtal hinein als der lebende Beweis für ein völlig unverdientes Glück.
     "Wie alt bist du", fragte der fremde Herr mit jäher Dringlichkeit. Alles Necken und Johlen verstummte sofort.
     "Dreizehn", sagte Irma, ohne den Blick abzuwenden.
     "Wo wohnst du?"
     "Auf der Hüh."
     "Wie heißt dein Vater?" Nun begann das Kichern um die Kutsche herum von neuem.
     "August Wittlich", sagte sie.
     Inzwischen näherten sich auch die Männer dem kaputten Gefährt. Bauer Gehrke nahm mit entschiedenem Griff den Braunen am Zaum, so dass der Herr einen Schritt zurück auf die grasbewachsene Böschung tun konnte. Der alte Brink machte sich an der Vorderachse zu schaffen, und von weitem sah man auch schon den Gemeindevorsteher und den Lehrer herankommen, die allein über die Worte verfügten, mit dem Fremden angemessen zu sprechen.
Es stellte sich heraus, dass der junge Mann aus dem linksrheinischen Koblenz stammte und ein Verwandter des Besitzers der Walzwerke in Arlich war. Johann Georg Vahlen, der Neffe des Fabrikanten Sebastian Gotthelf Vahlen, befand sich auf dem Weg zur Jagdpacht seines Onkels.
     Der Gemeindevorsteher Lacher ließ es sich nicht nehmen, den Herrn, dessen Familie zu den wichtigsten des unteren Westerwaldes gehörte, über die neuesten Zahlen der Dorfgemeinschaft zu Viehstand, Feuervorkehrungen, Forstwirtschaft und Bevölkerungswachstum zu unterrichten. Als das Pferd aber abgeschirrt, die Reparatur des Landauers organisiert und der Fremde mit einer eilig aus der Pfarrei beschafften Kleiderbürste vom schlimmsten Dreck befreit worden war, bat Vahlen als erstes, man möge ihn zu einem Gasthaus führen.
     "Verzeihen der Herr", sagte der Lehrer. "Es gibt in Sehlscheid kein Gasthaus. Wenn Sie mit der Lehrerstube vorlieb nehmen könnten, lade ich sie gerne auf ein Glas Morbelswein zu mir ein."
     Nachdem er vier Gläser des dunklen Waldbeerenweins geleert hatte, hielt der Fremde den Zeitpunkt für gekommen, den Lehrer nach Wittlich zu fragen. Ferdinand Schütz, der sich gerade ausmalte, wie im Dorf über die unerwartete Ehre gedacht wurde, die ihm durch den Besuch des Fremden zuteilwurde, und dessen Blick vom reifen Wein bereits aufs angenehmste verschwamm, verstand die Frage sofort. Auch er kam von außerhalb und kannte als Mann des Wortes und der Bildung durchaus die neueren Moden, Gesprächsthemen und Gepflogenheiten der städtischen Bevölkerung. Er hatte gleich gesehen, dass er es bei dem jungen Vahlen mit einem Lebemann zu tun hatte, dessen Interesse sicherlich eher den Frauen, der Jagd und dem Wein galt als der Politik.
     Vor vier Jahren war Schütz aus Düsseldorf angereist, um vom alten Lehrer, der wegen Trunksucht entlassen worden war, die Dorfschule im Gebück und die angrenzende Wohnung mit Gemüsegarten und Obstbäumen zu übernehmen. Als er Irma zum ersten Mal in seiner Schulklasse sah, kannte er außer dem Pfarrer, dem Gemeindevorsteher und der Frau Gehrke, die ihm täglich von einer ihrer Töchter ein warmes Mittagessen bringen ließ, niemanden im Dorf. Schütz nahm zunächst an, das hübsche Mädchen wäre das Kind eines der wohlhabenderen Bauern aus dem Unterdorf oder komme von außerhalb. Doch Irmas dünngewordenes Kleidchen, das ihre langen, fast durchsichtig weißen Beine nur bis zu den Knien bedeckte, ihr von einem ausgeblichenen Band zusammengehaltenes Haar wiesen darauf hin, dass sie über das in Sehlscheid übliche Maß hinaus arm war.
     Von Anfang an hatte Schütz dem seltsamen Kind die größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt. Irma hatte schnell Fortschritte im Lesen und Schreiben gemacht. Und als sie mit elf aus der Dorfschule entlassen werden sollte, hatte Schütz all seinen Mut zusammengenommen, war zu ihrem Vater auf die Hüh gestiegen und hatte August Wittlich vorgeschlagen, seine Tochter als erstes der Mädchen im Dorf nach Arlich auf eine weiterführende Schule zu schicken.
     Wittlichs Trinkergesicht hatte sich im selben Augenblick verwandelt. In die abstehenden Ohren war das Blut geschossen. Seine Lippen hatten über dem Kinn zu zittern begonnen. Schütz war nicht sicher gewesen, ob der Mann Angst hatte oder ob er wütend war.
     "Niemals", hatte Wittlich gestammelt. "Das Irma geht nicht weg. Das bleibt hier." Beim letzten Satz war aus den zögernden Worten ein Grollen geworden.
     Wittlich, soviel war Schütz sofort klar, ging es nicht darum, dass Irma für die Familie die Heidelbeeren zu verkaufen hatte, dass sie wie ihre Schwestern die Ziegen zu hüten, die Kartoffeln zu klauben und den Kaninchen das Fell abzuziehen hatte. Es ging nicht um die Angst, Schulgeld zahlen zu müssen oder im Dorf für Neid und Missgunst zu sorgen. Gegen diese Einwände hätte der Lehrer, der immerhin in Düsseldorf das Seminar besucht hatte, Argumente bereit gehabt. Er musste sich eingestehen, dass er sich ausgemalt hatte, Irma werde eines Tages als kluge, bescheidene, mit haushälterischen Kenntnissen ausgestattete Frau in großer Dankbarkeit zu ihm zurückkehren. Der alte Wittlich hatte verstanden, dass der Lehrer ihm seine Tochter wegnehmen wollte. Und Schütz wiederum hatte verstanden, dass Irmas Vater in dieser Sache das letzte Wort behielt.
     "Der Alte Wittlich ist ein Säufer", sagte Schütz. "Er hat alle Mühe, die Münder seiner sieben Kinder satt zu kriegen. Drei Pfennige bekommen die Mädchen für das Pfund Heidelbeeren in Arlich - für das, was der Vater nicht selber zu Schnaps brennt." Der Lehrer tippte gegen sein Glas.
     "Ich interessiere mich für seine Tochter", sagte der Herr geradeheraus, so dass den Lehrer Angst ergriff. Doch gleich fasste er sich wieder, weil er meinte, das sicher ohnehin nur oberflächliche Interesse des reichen Städters bremsen zu können.
     "Eine müsste im heiratsfähigen Alter sein …"
     "Sie ist dreizehn."
     "Irma", entfuhr es Schütz, und als hätte Vahlen das nicht gerade gesagt: "Sie ist erst dreizehn."
     "Sehr hübsch", sagte der andere. "Ich komme wieder, wenn sie sechzehn ist. Richten Sie das August Wittlich aus. Und geben Sie ihm das hier." Er ließ einen Taler auf den Tisch rollen und sah Schütz prüfend an. Dann zog er einen zweiten und einen dritten Taler aus der Tasche und stapelte sie neben der anderen Münze übereinander. "Das ist für Ihre Umstände", sagte Vahlen und ging.
     Nach einer durchwachten Nacht machte sich der Lehrer am Morgen auf den Weg, um den Auftrag auszuführen. Ein Hahn krähte. Vor den Häusern im Unterdorf hängten junge Mädchen ihre Wäsche zum Trocknen auf. Die Frauen am Burplatz schwatzten über den schönen Rock des Fremden. Ansonsten war mit seiner hastigen Abfahrt und einigen Talern für den Gemeindevorsteher und den Bauern Gehrke, der die Reparatur des Landauers übernommen hatte, im Dorf wieder Ruhe eingekehrt. Die Sonne schien warm auf die aufgeweichten Wege. Die Waldhänge standen dampfend über den Feldern des Aulbachtals. Das Tosen der Obermühle drang bis zum Marktplatz vor.
     Als Schütz mit pochenden Schläfen, den Morbelswein noch in allen Gliedern, den glitschigen Pfad zur Hüh heraufkam, empfing ihn der Hund mit aufgeregtem Bellen. Schütz trat das Tier beiseite. Dann fiel sein Blick auf die kleine Wittlich, die mit traurigen Augen und einem geheimnisvollen Lächeln eine Ziege hinter sich herzog.
     "Guten Morgen, Herr Lehrer", sagte sie.
     "Guten Morgen, Irma", sagte Schütz, den die unerwartete Begegnung aus dem Konzept brachte. "Ist dein Vater auf dem Acker?"
     "Im Haus." Irma zeigte auf den mit Sacktuch verhängten Eingang. Sie lächelte noch immer, die Sonne auf den Wangen, als wäre dieses matschige, mühsame Leben, wie sie es nie anders gekannt hatte, nur eine Übergangslösung, die Vorbereitung auf eine entfernte, schönere Zukunft.
"Danke, Irma." Er sah lange in ihre Augen. Und in diesem Moment wuchs Schütz, der sich bisher nicht klar darüber gewesen war, was er dem alten Wittlich tatsächlich von Vahlens Vorhaben sagen wollte, über sich hinaus. Als er Irmas Lächeln sah, nahm der Lehrer sich feierlich vor, alles zu tun, um ihr das Fortkommen aus Sehlscheid zu ermöglichen.


Kittels Mädchen (Februar 2007)

Wie so oft hatte Wieland das Gefühl, Kittel habe auf ihn gewartet, als er die Tür zum Büro seines Doktorvaters öffnete. Der Raum lag in einem abgelegenen Flur des Institutsgebäudes, und das Licht der Straße fiel nur spärlich durch die Fenster. Der Professor saß, die Arme auf die Lehne gestützt, rücklings auf seinem Stuhl und blickte den Doktoranden über einen Haufen von Bonbonpapieren hinweg an. Kittel hatte weißes, volles Haar, sein Gesicht wirkte klug, beinahe gerissen. Hartnäckig hielt sich an der Universität das Gerücht, er bevorzuge hübsche Studentinnen. Aber das nervöse Kichern, das seine auffällige Erscheinung bei den Erstsemestern auslöste, schien er gar nicht zu bemerken. Und Wieland war an seinem Professor vor allem die trotzige Nachlässigkeit desjenigen aufgefallen, der ganz mit sich selbst beschäftigt ist.
     Mehrere fleckige Kaffeetassen waren über den Tisch verteilt, die Bürolampe stand auf einem aufgeschlagenen Buch. Am Institut war allgemein bekannt, dass Kittels Sekretärin vor einer Weile gekündigt hatte, und Wieland sagte sich, dass der Professor mit seiner Unordnung gegen die Verwaltung protestieren wollte, die sich nicht beeilte, die Stelle neu zu besetzen.
     Hans Ullrich Kittel war kein namhafter Germanist. Er hatte in Frankfurt studiert, nach einer wenig beachteten Monographie einige Aufsätze zur klassischen Dramentheorie veröffentlicht und sich seit der Übernahme des Postens in Duisburg ausschließlich um seine Vorlesungen gekümmert. Die meisten seiner Studenten wussten es zu schätzen, dass er ihnen viel Freiraum ließ.
     Im kommenden Jahr würde eine einzige Postdoktorandenstelle vergeben werden. Die Fördergelder waren genehmigt. Wieland rechnete sich gute Chancen aus, auch wenn seine Konkurrentinnen sicher nur darauf warteten, dass er mit seinem Dissertationsprojekt scheiterte. "Kittels Mädchen" wurden sie genannt, und Wieland ärgerte sich, dass er als einziger männlicher Anwärter wie selbstverständlich dazugezählt wurde. Er konnte nicht einmal behaupten, die drei Frauen seien unqualifiziert oder unkollegial. Und doch kam es ihm vor, als wären alle ihre Überlegungen zu Schillers Tragödien, zu Hauptmanns Realismus oder zur Polyglossie in Shakespeares Königsdramen allein gegen seine wissenschaftliche Laufbahn gerichtet.
     "Noch immer Vahlen?", fragte Kittel.
     "Noch immer Vahlen", sagte Wieland.
     Der Nachlass Peter Vahlens enthielt sicherlich die interessantesten Briefe Gert Gellmanns. Aber bisher blieben alle Anfragen, die Wieland über den Verlag an die Familie des Schriftstellers gestellt hatte, unbeantwortet. Der Lektor hatte ihm lediglich mitgeteilt, es handele sich um eine "schwierige Witwe", da könne man nichts machen. Inzwischen ließ der Mann sich von seiner Sekretärin verleugnen, wenn Wieland anrief. Er ahnte langsam, warum sich kaum einer seiner Kollegen mit Gegenwartsliteratur beschäftigte.
     Etwas Ähnliches schien Gellmann gemeint zu haben, als er ihn bei ihrem ersten Treffen so seltsam begrüßt hatte. Wieland hatte den Dramatiker angeschrieben, und dieser lud ihn umgehend zu einem Theaterfestival im Ruhrgebiet ein. Verloren hatte der Doktorand nach der Vorstellung im Foyer gestanden. Gellmann war umringt von Freunden, mit denen er sich lachend unterhielt. Wieland stellte sich an die Bar und wartete, bis Gellmann etwas bestellen kam. Aber als der Dramatiker schließlich neben ihm stand, wagte Wieland es nicht, ihn anzusprechen. Eine große, schlanke Frau war Gellmann gefolgt, und er legte den Arm um ihre Taille. Dabei sah er Wieland an, als wisse er längst, wer vor ihm stand.
     "Wie geht’s?", fragte Gellmann nach einer Weile. Die Frau musterte Wieland mit herablassender Neugier, während er seinen Namen nannte.
     "Ach", rief Gellmann übertrieben laut. Sein Blick schweifte dabei über den Saal, als wolle er auf diese kuriose Begegnung auch andere aufmerksam machen. "Das ist also der Mann, der mich unsterblich machen will."
     Der Professor zog jetzt einen Ordner aus dem Stapel auf seinem Schreibtisch und ließ ihn in den Mülleimer zu seinen Füßen fallen. "Da haben Sie es wohl mit einer schwierigen Witwe zu tun", sagte er.
     "Wenn ich wenigstens wüsste, wo diese Witwe zu finden ist. Niemand will mir ihre Adresse geben. Es ist, als gebe es sie gar nicht. Sagen Sie, ist das ein feststehender Begriff, schwierige Witwe?"
     "Mein Lieber, es gibt ganze Studien über 'schwierige Witwen'", sagte Kittel. "Zumindest sollte es sie geben. Haben Sie noch nie von der Stummer-Witwe gehört? Oder von der des Kanzlers Sandheim?"
     "Das sind doch Politiker", sagte Wieland.
     "Ja, aber es geht letztlich immer um dasselbe", antwortete Kittel. "Verbitterte, renitente, geldgierige Frauen mit allen möglichen Befindlichkeiten und überzogenen Vorstellungen vom Wert ihres Besitzes. Die sitzen auf dem Nachlass und keiner kommt ran. Hat es immer gegeben. Wird es wohl immer geben. Interessant wäre nur zu wissen, wie es mit den Witwern berühmter Frauen aussieht. Den Fall gab es bisher selten."
     "Hat denn niemand die Witwe zumindest aufgesucht? Vahlen war doch ein wichtiger Autor."
     "Sicher. Vielleicht ist sogar alles vollständig durchgesehen, und es hat sich nichts weiter gefunden. Die Witwe behauptet einfach, dass sie niemand an den Nachlass heranlässt, um dem Ganzen eine geheimnisvolle Aura zu geben. Darüber freuen sich Journalisten und junge Wissenschaftler wie Sie. Das hebt den Marktwert, denkt die Witwe. Und vielleicht hat sie sogar recht."
     "Ah, so", sagte Wieland wenig überzeugt.
     "Auf jeden Fall sind Sie mit Ihrer Arbeit schon weit gekommen. Sie können eine kleine Fußnote einfügen, in der Sie anmerken, dass die Erben keine Anstalten gemacht haben, Ihnen zu helfen. Damit werden Sie zum Fortbestehen des Mythos der ›schwierigen Witwe‹ beitragen."
     Kittels Gleichmut begann Wieland zu ärgern. Der Professor wusste doch genau, was die Anstellung am Lehrstuhl für ihn bedeutete und wie sehr sie vom Erfolg seiner Arbeit abhing.
     "Da fällt mir etwas ein", rief Kittel plötzlich. "Kennen Sie Freddy?"
     "Nein. Wer ist das?"
     Freddy - der Philosophische Gärtner aus Villa Westerwald." Mit einer schlecht durchgehaltenen Fistelstimme sprach der Professor weiter: "›Die Margerite denkt im Rosenbeet mehr Licht zu bekommen. Aber sie hat vergessen, dass es sich um ein Rosenbeet handelt.‹"
     Wieland verstand nicht, wovon sein Doktorvater redete.
     "Mein Armer", rief Kittel. "Sie kennen Villa Westerwald nicht? Und Sie wollen über Vahlen schreiben? Ach, ja. Die Studenten halten heutzutage nichts vom Fernsehen. Schauen Sie sich das an. Das ist eine Wahnsinns-Sache. Nach drei Folgen können Sie nicht mehr abschalten. Ich bin gerade bei der vierten Staffel. Und noch immer ist die Alte nicht mit ihrer Jugendliebe zusammengekommen. Das Verlagshaus wird vom Urenkel in den Ruin gefahren. Die Tochter schläft mit allem, was zwei Beine hat, Sie verzeihen, aber so geht es da zu."
     "Ich hatte bisher nicht die Zeit …", entschuldigte sich Wieland.
     "Quatsch", unterbrach ihn Kittel. "Es reicht nicht, Adorno, Foucault und Schiller zu lesen. Das sage ich den Studenten immer wieder. Das Leben! Das Leben müsst ihr kennen! Wie wollt ihr sonst die Penthesilea verstehen?"
     Wieland fand Kittels Ausbruch unpassend.
     "Westerwald ist etwas anderes als so eine Verfilmung im Fernsehen", sagte er.
     "Ja, ja. Westerwald", antwortete Kittel. "Peter Vahlen ist ein wunderbarer Romancier. Aber das Buch geht höchstens bis zur Mitte der zweiten Staffel. Da kommt die Tochter zum Beispiel noch gar nicht richtig vor. Ich sage Ihnen, holen Sie sich den Jubiläums-Schuber mit Staffel eins bis fünf. Das lohnt sich."
     Wieland nickte. Er packte seine Papiere zusammen und klopfte auf den Ordner, der das vierte Kapitel seiner Arbeit enthielt und den er dem Professor zum Lesen auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er ging gerade aus der Tür, als Kittel ihm noch etwas hinterherrief.
     Wieland drehte sich um.
     "Das Drehbuch hat übrigens Vahlens Frau geschrieben, die schwierige Witwe." Dem Doktoranden schien es, als habe der Professor wieder die Stimme des Philosophischen Gärtners imitieren wollen. "Und die Serie spielt - das wissen Sie ja sicher, wenn Sie das Buch gelesen haben - im Westerwald, in Peter Vahlens Heimatort Sehlscheid."

Teil 3