Vorgeblättert

Leseprobe zu Leila Guerriero: Strange Fruit. Teil 1

14.04.2014.
Die Stimme der Knochen

El País Semanal, Spanien
13. April 2008


Er ist nicht groß. Vier mal vier Meter vielleicht, und ein Fens­ter, durch das trübes, himmelblaues Licht einfällt. Hohe Decke. Einfach geweißte Wände. Der Raum - in einem alten Bezirk mitten in Once, einer Wohn- und Geschäftsgegend von Buenos Aires - wirkt unauffällig: Niemand kommt versehentlich herein. Der Holzfußboden ist mit Zeitungen ausgelegt, auf den Zeitungen liegen ein gestreifter Pullover - zerrissen -, ein verdrehter Schuh, der wie eine schwarze, ausgedörrte Zunge aussieht, ein paar Strümpfe. Und die Knochen.
     Schienbeine und Oberschenkelknochen, Wirbel und Schädel, Becken, Kiefer, Zähne, Rippenstücke. Es ist vier Uhr nachmittags an einem Donnerstag im November. Patricia Bernardi steht im Türrahmen. Sie hat große Augen und kurzes Haar. Sie greift nach einem glatten Femur und stützt ihn auf ihren Oberschenkel.
     "Frauenknochen sind anmutiger."
     Und es stimmt: Frauenknochen sind anmutiger.

Das argentinische Militärregime ließ zwischen 1976 und Dezember 1983 Tausende von Menschen entführen und hin­richten und auf geheimen Friedhöfen und in geheimen Massengräbern anonym beisetzen. Im Mai 1984, bereits zu Demokratiezeiten, kamen auf Anfrage der Abuelas de Plaza de Mayo, der "Großmütter der Plaza de Mayo" (einer Gruppierung von Frauen, die nach ihren Enkeln suchten, den Kindern ihrer Kinder, die seit der Diktatur vermisst werden), sieben Mitglieder der American Association for the Advancement of Science ins Land. Darunter ein anthropologischer Foren­siker - Experte in der Identifizierung von Knochenresten: jemand, der darin die Spuren von Leben und Tod lesen kann - namens Clyde Snow. Geboren 1928 in Texas, genoss Snow hohes Ansehen: Er hatte die Überreste Josef Mengeles in Brasilien identifiziert. Ansonsten soff er wie ein Kosake, rauchte Zigarren, trug texanische Cowboyhüte, entsprechende Stiefel und war daran gewöhnt, in einem Land zu leben, wo die Kriminellen Individuen waren, die sich gegenseitig umbrachten: und keine staatliche Maschinerie, die die Menschen verschlang und ihre Knochen wieder ausspuckte. Auf jener Reise - der ersten von vielen - veranstaltete er in La Plata, in der Provinz Buenos Aires, ein Seminar über Forensik und desaparecidos, die Opfer des Verschwindenlassens, und die Dolmetscherin, von den vielen Fachausdrücken überfordert, gab mittendrin auf. Darauf meinte ein vor Charisma strotzender blonder Mann: "Ich mach's, ich kann Englisch." Und so kam es, dass Morris Tidball Binz, 26 Jahre alt, Student der Medizin, der perfektes Englisch sprach, den Weg von Clyde Snow kreuzte.
     In den folgenden Wochen führte Snow, auf Bitten von Richtern und Angehörigen von Verschwundenen, verschiedene Exhumierungen durch, stets in Begleitung seines neuen Dolmetschers. Im Juni, als er auf einem Vorstadtfriedhof sieben Leichen zu exhumieren hatte, beschloss er, dass er Hilfe gebrauchen konnte, schrieb dem Graduiertenkolleg für Anthropologie einen Brief und beantragte Unterstützung. Aber er erhielt keine Antwort. Darauf meinte Morris Tidball Binz: "Ich habe da ein paar Freunde."
     Morris' Freunde waren ein einziger: Und der hieß Douglas Cairns, studierte Anthropologie an der Universität von Bue­nos Aires und verbreitete die Nachricht - "Irgendein Gringo sucht Leute, um Knochenreste von Verschwundenen auszugraben" - unter seinen Kommilitonen.
     "Ich bin eher daran gewöhnt, Guanakos auszubuddeln, nicht Menschen", sagte Patricia Bernardi, 27 Jahre alt, Studentin der Anthropologie, Vollwaise, in der Firma ihres Onkels tätig.
     "Friedhöfe mag ich nicht", wird Luis Fondebrider gesagt haben, Erstsemester in Anthropologie, beschäftigt in einer Schädlingsbekämpfungsfirma.
     "Ich hab noch nie eine Exhumierung gemacht", sagte Mercedes Doretti, Anthropologie-Studentin im höheren Semester, Fotografin und in einer Leihbibliothek angestellt.
     Aber dann dachten sie wohl, dass sie nichts zu verlieren hätten, sich das einmal anzuhören, und so kam es, dass sich Pa­tricia Bernardi, Mercedes Doretti, Luis Fondebrider und Douglas Cairns am 14. Juni 1984 um sieben Uhr abends mit Clyde Snow und Morris Tidball Binz in der Innenstadt von Buenos Aires trafen, in einem Hotel namens Continental.
     "Clyde kam uns ziemlich seltsam vor, wir dachten, 'was der trinkt, wie viel der raucht'", sagte Patricia Bernardi. "Er lud uns auf ein Getränk ein, und als er uns erklärte, worum genau es ging, dachte ich, es verschlägt uns den Appetit. Aber anschließend lud er uns zum Essen ein, und wir waren ja Studenten und noch nie in einem vornehmen Restaurant ge­wesen. Wir fraßen wie die Tiere. Aber wir waren auch nervös. Das Land war sehr instabil, und wir dachten: 'Wenn was schiefläuft, dann geht der Gringo in sein Land zurück und wir sitzen hier.'"
     An dem Abend verabschiedeten sie sich von Clyde mit dem Versprechen, sich die Sache durch den Kopf gehenzulassen und sich zu melden.
     "Das rührte mich, aber die waren ja völlig unerfahren", erzählte Clyde Snow Jahre später der Tageszeitung Página/12. "Ich sagte ihnen, dass die Arbeit dreckig, deprimierend und gefährlich ist. Und dass es außerdem kein Geld gibt. Sie meinten, dass sie das untereinander bereden und sich am folgenden Tag melden. Ich dachte, das ist eine höfliche Art zu sagen: 'Ciao, Gringo.' Aber am Tag drauf waren sie da."
     Am Tag drauf waren sie da.
     "Wir beschlossen, es erst mal mit der anstehenden Ex­humierung zu versuchen und dann zu sehen, ob wir weiter­machen", meint Patricia Bernardi. "Wir trafen uns früh, im Foyer des Hotels, und sie fuhren uns mit Polizeiautos zum Friedhof raus. Es war schon komisch, da mitzumachen. Und anschließend sind wir so oft in Polizeiautos durch die Gegend gefahren worden. Ich war nie zuvor auf einem Friedhof gewesen, aber mit Clyde schienen einem selbst schwere Dinge ein bisschen leichter zu fallen. Er stand mit uns im offenen Grab, machte sich dreckig wie wir, rauchte und aß in der Grube. In heiklen Momenten war er ein guter Lehrer, weil es was ganz anderes ist, die Knochen von Guanakos oder Seelöwen zu bergen, als einen menschlichen Schädel. Als die menschlichen Überreste zum Vorschein kamen, verfingen sich Stofffetzen im Pinsel, und ich fragte: 'Was soll ich jetzt machen?' Und Clyde sah mich an und meinte nur: 'Komm, weiter, weiter.' An dem Tag gruben wir die ganzen Überreste aus, fuhren damit ins Leichenschauhaus, und es stellte sich heraus, dass es nicht die waren, nach denen wir gesucht hatten. Clyde begann, sich mit dem Personal dort über die Flugbahn eines Projektils zu unterhalten. Wir verstanden kein einziges Wort. Die Familienangehörigen waren auch da, und ich meinte zum Richter: 'Sagen Sie ihnen, dass das nicht die Überreste sind, diese Leute haben schon so viel mitgemacht.' Als er es ihnen sagte und die Angehörigen in Tränen ausbrachen, war das … Wir sind da um drei Uhr morgens raus. Es war die längste Exhumierung meines Lebens."
     Aber es sollten viele folgen. Zwischen 1984 und 1989 nahm Clyde Snow mehr als zwanzig weitere allein in Argentinien vor, und auf jeder seiner Reisen begleiteten ihn die Studenten und begaben sich immer weiter in die Unwägbarkeiten eines Berufes, der hierzulande weder Vorgeschichte noch Ansehen hatte.
     "Niemand verstand, was wir taten. Spezialtotengräber? Forensische Mediziner?", so Mercedes Doretti später von New York aus. "Der Universitätsbetrieb nahm uns nicht ernst, sie meinten, dass das keine wissenschaftliche Arbeit sei."
     Mit gerade mal zwanzig Jahren, schlecht bezahlt in absurden Jobs, Studenten von Fächern, die sie überhaupt nicht auf das Schicksal vorbereiteten, von dem sie noch nichts ahnen konnten, verbrachten sie die Wochenenden auf Vorstadtfriedhöfen und hoben, unter den Augen der Angehörigen, die noch frischen Schlünde jüngerer Gräber aus.
     "Wir hatten auf Anhieb eine Art Verhältnis zu den An­gehörigen", wird Luis Fondebrider später sagen. "Wir waren so alt wie ihre Kinder, als die verschwunden waren, und sie brachten uns ganz besondere Zuneigung entgegen. Es hatte bestimmt auch damit zu tun, dass wir ihre Toten berührten. Dadurch entsteht eben ein besonderes Verhältnis."
     Weil sie Angst hatten, blieben sie immer zusammen. Und weil sie immer zusammenblieben, begann man, sie "den Schwarm" zu nennen. Sie sprachen mit niemandem über das, was sie taten, und um untereinander über das zu reden, was sie taten, trafen sie sich bei Patricia oder Mercedes zu Hause.
     "Wir träumten alle nur noch von Knochen und Skeletten", so Luis Fondebrider. "Nichts Originelles. Aber wir haben uns solche Sachen immer erzählt."
     "Wir hatten alle Alpträume", wird Mercedes Doretti später sagen. "Einmal bin ich schreiend aufgewacht, ich hatte von einer Kugel geträumt, die aus einer Pistole kam, und ich erwachte, als die Kugel gerade in meinen Kopf eindrang. Ich hatte das Gefühl zu sterben und dachte: 'Wieso habe ich das nicht kommen sehen? Wieso habe ich es nicht kommen sehen, dass ich sinnlos sterben werde? Wieso habe ich es nicht kommen sehen, als ich begann, da mitzumachen?'"
     1985 reisten sie nach Mar del Plata, um die Überreste einer Verschwundenen zu exhumieren, in der festen Überzeugung, auf Seiten der Guten zu stehen. Die Mütter, die Madres de Plaza de Mayo, eine Gruppierung von Frauen, die nach ihren vermissten Kindern sucht, erwarteten sie schon.
     "Sie wollten die Exhumierung aufhalten", sagt Mercedes Doretti. "Sie meinten, Snow sei ein CIA-Agent und dass die Regierung versucht, alles zu vertuschen, indem sie Säcke voller Knochen anliefert. Wir wurden beschimpft und beleidigt, das war ganz schön hart. Zu sehen, wie die, die ja unsere Heldinnen waren, gegen uns protestierten, das war schon heftig. Schließlich haben wir doch exhumiert, und danach sind wir an den Strand gegangen, alle ziemlich bedrückt."
     Im selben Jahr sagte Clyde Snow vor dem Juicio a las Juntas aus - wo den Militärs, die während der Diktatur an der Macht gewesen waren, der Prozess gemacht wurde - und zeigte ein Dia von der Exhumierung in Mar del Plata: eine junge Frau namens Lilian Pereyra, der Schädel voller Kugeln.
     "Was wir hier machen", erklärte Snow gegenüber Página/12, "verhindert, dass künftige Revisionisten leugnen können, was wirklich passiert ist. Jedes Mal, wenn wir das Skelett eines jungen Menschen mit einem Einschussloch im Genick bergen, wird es für die schwieriger, mit irgendwelchen Argumenten zu kommen."
     Es verging einige Zeit, sie trieben Geld auf, Stipendien, und als sich andeutete, dass sie davon vielleicht würden leben können, kündigten einige ihre Jobs. 1987 ließen sie sich unter dem Namen Equipo Argentino de Antropología Forense - Argentinische Arbeitsgruppe für Forensische Medizin - als gemeinnützigen Verein eintragen, mit dem Zweck, "mit Hilfe foren­sischer Anthropologie Fälle von staatlicher Gewalt, Verletzung von Menschenrechten und Verbrechen gegen die Menschheit" aufzuklären. Später schlossen sich der Gruppe an: Darío Olmo, Student der Archäologie, Gemeindeangestellter; Alejandro Incháurregui, Student der Anthropologie und Kartenverkäufer auf der Pferderennbahn; Carolos Somigliana (Maco), Student der Anthropologie und der Rechtswissenschaften, am Juicio a las Juntas Assistent der Staats­anwälte Moreno Ocampo und Strassera; Silvana Turner, Studentin der sozialen Anthropologie, sowie Anahí Ginarte, Studentin der Anthropologie.
     1988 wurden sie als Sachverständige berufen, um im Sektor 134 des Friedhofs von Avellaneda zu graben, in einer Vorstadt von Buenos Aires, wo die Militärs Hunderte verscharrt hatten. Kaum einer von ihnen war älter als 22 Jahre.
     Das Grab in Avellaneda blieb zwei Jahre lang offen, und sie holten 336 Leichen heraus, fast alle mit Einschusslöchern im Schädel, viele sind noch immer nicht identifiziert worden.

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