Vorgeblättert

Leseprobe zu Linda Le: Flutwelle. Teil 3

21.07.2014.
Lou war die Jüngste in einer großen Familie gewesen und hatte sich mit ihren Halbbrüdern aus erster Ehe nicht vertragen. In ihrem Elternhaus in Quimper herrschte eine tiefe Abneigung zwischen ihr, dem Federgewicht, und den drei Kraftbolzen, die ständig Stunk machten. Als sie mit mir zusammenkam, gelobte sie daher, nie mehr als ein einziges Kind zu haben, und bitte um Himmels willen ein Mädchen! Die männliche Dominanz hing ihr nämlich zum Hals heraus, und so solidarisierte sie sich jedes Mal mit Laure, wenn ich es wagte, ihr einen Jungen, der besser war, als Vorbild zu empfehlen. Beide argumentierten, dass der schließlich Nachhilfe bekomme und sein Vater, ein Ingenieur, ihn fördere, während ich keinen Cent für Mathestunden lockermachte, aber ständig an ihr rumkrittelte. Dann war Feuer am Dach. Lou beschuldigte mich, ein egozentrischer Macho zu sein, Laure behauptete, die Lehrer zögen die kleinen Pickligen, die nie etwas sagten und keine Ideen hätten, zornigen, phantasievollen Wesen wie ihr vor. Das Zerwürfnis wurde von Tag zu Tag größer, Lous Augen schleuderten Blitze, ich versuchte die Wogen zu glätten, und Laure nutzte das aus, um die Erlaubnis zu kriegen, in die Disco zu gehen, obwohl sie noch nicht genug gelernt hatte, worauf sie zu Recht durch die mündliche Prüfung fiel. Nicht dass sie unbegabt war, sie hatte ganz gute Noten in Französisch und Kunst, aber das Gymnasium engte sie ihrer Meinung nach zu sehr ein und erstickte ihre Kreativität, die sich allerdings in eher bizarren Allüren zeigte: Laure machte, mit einem gewissen Talent, wie ich zugeben muss, Schwarz-weiß-Fotos von Straßen ohne Passanten und kahlen Bäumen. Josef Koudelkas Panoramabilder faszinierten sie, und so wenig sie westliche Gesichter inspirierten, so sehr träumte sie davon, das Leben der Zigeuner zu porträtieren. Sie hatte auch eine Gipsyphase, in der sie lange Blumenkleider,schwere Armbänder und Klimperohrringe trug, bevor sie sich für Gothic entschied, da dieses Outfit besser zu ihrer antibürgerlichen Haltung passte. Sie hatte recherchiert, sogar Dokumente über die Roma in der Bibliothek Parmentier entliehen und damit wenigstens ein Thema gründlich studiert. Sie war ziemlich stolz, mich auch einmal überraschen zu können, indem sie mir einen ausführlichen Vortrag über die Migration dieser Nomaden hielt. Leider waren solche Gefechtspausen, die ihre Revolte gegen die Erwachsenen punktuell durchbrachen, selten. Im Allgemeinen war sie ein Trotzkopf, als ob sie ihre Originalität nur beweisen könnte, indem sie nie einen Fußbreit zurückwich, als ob es bei unseren Kämpfen, die immerhin mit Samthandschuhen ausgetragen wurden, nur darum gegangen wäre, den anderen in den Sack zu hauen. Und da Lou und ich nie an einem Strang zogen und daher keine wirkliche Autorität über Laure hatten, gab sie sich nie geschlagen und gehorchte ausschließlich ihren Launen.
     Bevor Ulma auftauchte, war ich weder glücklich noch unglücklich. Meine Ehe lief soso lala, aber ich hatte auch keine Abenteuer. Ich will nicht leugnen, dass ich manchmal in Versuchung geriet. Das Lächeln einer Nachtschwärmerin in einer Bar, die nackten Beine einer Urlauberin, die sich am Strand sonnte, das hübsche Dekolleté einer Italienerin, die sich in Paris verirrt hatte, die rosige Haut einer üppigen Bäckerin, der herbe Charme einer Lolita reichten, um meine Sinnlichkeit zu wecken. Manche wären auch durchaus empfänglich gewesen für meine zurückhaltende Art, die mich von hemmungslosen Angebern unterschied. Aber es blieb immer bei ein paar Worten, einem Mojito, einem Spaziergang im Jardin des Plantes, einem Kinoabend, auch wenn sie mir beim Abschied die Arme um den Hals legten, sich an mich schmiegten oder mich sogar verstohlen auf den Mund küssten. Den Kopf voller Bilder von ihnen, bewahrte ich Stillschweigen über diese harmlosen Seitensprünge, Lou hätte doch nur gesagt, ich laufe jedem Rock hinterher und plustere mich auf, wie nicht anders zu erwarten. Sie habe keine Lust, Dinge zu beschönigen, ich wolle ja doch nur das eine, lauere ständig auf Gelegenheiten, meiner Fleischeslust zu frönen, und würde selbst die elftausend Jungfrauen zur Strecke bringen, wenn man mich ließe. Bestimmt hätte ich sie mehr als einmal betrogen, sie, die noble Gefährtin, die nie auf die Idee käme, ihren Mann auszuspionieren, wie sie mit süßsaurem Ton hinzufügen würde, eine Frau mit Köpfchen, der gebrochene Treueversprechen nichts anhaben könnten. Wenn sie eins meiner Bücher aufschlug und auf dem Deckblatt einen hingekritzelten weiblichen Vornamen samt Telefonnummer fand, versteinerte sich ihr Gesicht, aber sie blieb gefasst, als ob nichts, was von mir kam, sie erschüttern könnte. Hoheitsvoll gab sie mir zu verstehen, dass es sie nicht kratzte, wenn ich mich mit etwaigen Eroberungen amüsierte, eine Erotomanin da, eine Männerfresserin dort, das ließ sie kalt. Sie war schließlich kein Gendarm und betrachtete ihren Mann nicht als ihren Gefangenen und so weiter. Trotzdem unterstellte sie mir, in jedes Bett zu hüpfen, das am Wegesrand stand, zu jedem Flittchen, das nicht bei drei auf dem Baum war. Sie habe mich lange zappeln lassen, erzählte sie Laure, und Bedingungen gestellt, als ich ihr in aller Form den Hof gemacht hätte, nach endlosen mühsamen Annäherungsversuchen habe sie mir einen Kuss gewährt und mir erst am Morgen nach der Hochzeit ihre Schlafzimmertür geöffnet.
     Dabei sei ich bei Weitem nicht der Einzige gewesen, der ihr nachgelaufen sei, ich hätte mit einem ihrer Mitstudenten, einem pausbäckigen Latinisten, rivalisiert, mit einem holländischen Immobilienmakler, der ihr die Studentenwohnung im Quartier des Abesses vermittelt habe, und einem unermüdlichen Karrieristen. Im Hintergrund habe es noch andere, weniger eifrige Mitbewerber gegeben, einen mondänen Rastignac, der sehr viel geschrieben habe, unter anderem Reden für einen Abgeordneten, und einen Gymnasiallehrer für Englisch, der ganz schön was auf dem Kasten gehabt habe. Pech für sie, dass sie sich für mich entschieden habe, bei dieser Auswahl! Mit dreiundzwanzig sei sie ziemlich aufgefallen, auf der Straße hätten sich die Passanten nach ihr umgedreht, Lastwagenfahrer ihr hinterhergepfiffen und die größten Weiberhelden sie angesprochen. Und am Ende hätte ich den Zuschlag bekommen, warum, wisse sie selbst nicht genau, vielleicht weil ich ein "Zugereister" war und wie ein verwirrtes Genie aussah, was sie dahinschmelzen ließ. Sie hatte nur eine vage Vorstellung von Asien, das für sie der Kontinent des Zen-Buddhismus war, und verschwommene Bilder von meiner Heimat: endlose Reisfelder, palmengesäumte Strände, vom Krieg verheerte Landschaften. Sie war erst zehn, als antiimperialistische Demonstranten den Abzug der amerikanischen Truppen aus Vietnam forderten, und machte gerade ihr Abitur, als der Exodus der Boatpeople, die vor dem aufkommenden Totalitarismus flohen, die Schlagzeilen beherrschte. Sie konnte sich daran erinnern, dass Ho Chi Minh als Befreier Indochinas gefeiert wurde, als zweifacher Sieger, einmal in der Schlacht gegen die französischen Fallschirmjäger und dann im Kampf gegen die amerikanischen GIs, auch wenn er vor der Einnahme Saigons durch die Kommunisten und der Errichtung einer sozialistischen Republik im wiedervereinigten Vietnam verstorben war.
     Ich beklagte mich nicht über mein Emigrantendasein, ich hatte einfach mit einem Strich ein paar Seiten meiner Biografie getilgt. Und wie ein Maurer ein Mäuerchen verfugt, hatte ich meine Verteidigungslinie mit unübertretbaren Prinzipien befestigt: das Vaterland nicht überall mit hinschleppen, die Haltetaue lichten, ohne mit Mann und Maus unterzugehen, den Zähler auf null stellen, wenn der Staub der Vergangenheit von meinen Schultern gebürstet ist, nichts vergessen, nichts verleugnen, aber nicht wie ein Hund zu seinem Erbrochenen zurückkehren, meine Empfindsamkeit im Zaum halten, auch wenn ich mir Gewalt antun muss. Auf diese Weise erreichte ich ein scheinbares Gleichgewicht, das nicht ohne falsche Töne auskam, ich log, indem ich Dinge wegließ, wenigstens brüstete ich mich nicht mit dieser vermeintlichen Offenheit, in deren Namen so viele Taktlosigkeiten begangen werden.
     Das alles wäre noch eine ganze Weile lang gut gegangen, wenn Ulma nicht am Horizont erschienen wäre. Als ich ihren Brief bekam, wurden mir die Knie weich. Das war vor knapp einem Jahr. Weder meiner Frau noch meiner Tochter gegenüber erwähnte ich etwas davon. Aber sie kamen bald dahinter, dass es Ulma gab. Laure war es egal, Lou heuchelte Gleichmut, aber in ihrem Inneren kochte und brodelte es, was sie durch Andeutungen oder erpresserisches Schweigen verriet. Tatsächlich hatte ein wahres Erdbeben stattgefunden, dessen Ausmaß ich erst allmählich begreifen sollte. Lou brütete über dunklen Plänen, und ich bewies auf meine Kosten die Gültigkeit des Sprichworts: "Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht." Lou, die ahnte, dass ich ihr nicht alles sagte, engagierte einen Detektiv und beauftragte ihn, mir nachzuspionieren. Die Tragikomödie um mein kleines Geheimnis fand kein Happy End: Als ich um zwei Uhr früh Ulmas Wohnung in der Rue des Quatre-Vents verließ und den Boulevard Saint-Germain überquerte, raste eine alte Kiste, die mir irgendwie bekannt vorkam, auf mich zu und fuhr mich über den Haufen. Ich flog durch die Luft und fiel tot auf die Straße. Ich hatte gerade noch gesehen, dass Lou am Ende des Steuers saß.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Dörlmemann Verlages
(Copyright Dörlemann Verlag)


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