Vorgeblättert

Leseprobe zu Martha Gellhorn: Ausgewählte Briefe. Teil 3

07.09.2009.
An Eleanor Roosevelt
                                                                       8. Januar 1937
                                                                       Key West
                                                                       Florida
Liebe Mrs. Roosevelt
Ich bin in Key West: Es ist das Beste, was ich bislang in Amerika gefunden habe. Es ist heiß und heruntergekommen, und die Menschen scheinen sich wohl zu fühlen. Viel passiert hier nicht, träge werden mal ein Schwamm oder eine Schildkröte gefischt, man lebt bequem von der Fürsorge, klaut Kokosnüsse von den Stadtstraßen, streicht herum und fängt einen faulen Fisch, der sich Grunzer nennt, tratscht, döst, bekommt einen Sonnenbrand und läßt die Jahre gähnend an sich vorüberziehen. Ich für mein Teil finde das prima, und wenn überall auf der Welt die Sonne schiene, gäbe es bestimmt viel weniger Ärger und noch viel weniger von diesem bedauerlichen Phänomen mit der offiziellen Bezeichnung Fortschritt.
     Ich bin mit Mutter und Alfred hier heruntergekommen, um Weihnachten in Saint Louis zu entkommen, sie sind wieder abgereist, ich bin geblieben und bete zu meinen persönlichen Göttern (die beide aussehen wie Schreibmaschinen) für ein Fünkchen Eingebung. Ich habe alles, was ich geschrieben habe, weggeworfen, das macht mich grottentrüb, aber etwas anderes fällt mir dazu nicht ein. Entweder dieses Buch stimmt und ist in jedem Augenblick lebendig, oder es wird kein Buch und ich versuche nach Kräften, ein verlorenes Jahr zu verschmerzen. Na, jedenfalls hat eine Woche Grübeln einen neuen und ziemlich brauchbaren detaillierten Entwurf für das Buch hervorgebracht. Die Geschichte ist wunderschön und schrecklich, und ich weiß, daß sie stimmt: aber mir fehlt das Rüstzeug, um sie stimmig zu machen. Also tüftele ich vor mich hin, schreibe, hoffe und zerstöre und gehe meinen geschätzten Mitmenschen auf die Nerven. Schön wird das Leben sein, wenn das alles überstanden ist.
     Ich sehe Hemingway ab und zu, der (wie ich finde) bessere Dialoge schreibt als irgend jemand sonst heutzutage auf Englisch. Er ist ein komischer Kauz, sehr liebenswert, voller Verve und ein glänzender Geschichtenerzähler. (Bei einem Schriftsteller ist das Phantasie, bei allen anderen Lüge. Das nennt man Genie.) Also sitze ich da und habe gerade das Ms. zu seinem neuen Buch gelesen und gebe dazu furchtbar kluge Dinge von mir; anderer Leute Bücher zu beurteilen ist ein Kinderspiel, das eigene eine Qual. Hemingway erzählt mir schöne Geschichten über Kuba und den Hurrikan, dann komme ich nach Hause und versuche mich trostlos mutlos an einem gescheiten Entwurf für ein Buch, das irgendwie ein Denk-Buch ist, in dem alle dauernd sitzen und reden und brüten und nichts passiert. Das kann den Stärksten irremachen.
     Ende der Woche zurück nach Hause, da werde ich so lange sitzen und erst gefrieren und dann kochen, bis das Ding fertig ist.
     Wenn Hitler, dieser Verrückte, zwei Divisionen nach Spanien entsendet, ist für meine Begriffe der Krieg näher, als die ärgsten Pessimisten befürchtet haben. Schreckliche Vorstellung, daß Deutschland beinahe vor Lebensmittelunruhen steht und dieser Wahnsinnige - der sich anscheinend nicht mal mehr um Geschichte
oder Tatsachen schert, von nichts aufgehalten und durch Schrecken geschützt wird - eine solide Nation in etwas hineintreiben kann, das sie gründlich erledigen wird. Wenn es Krieg gibt, wird unser normales Tun und Treiben zum größten Teil hinfällig. Mein Gefühl ist, man sollte Tag und Nacht arbeiten und schwimmen und die Sonne an die Haare lassen und so viele Menschen lieben, wie man auftreiben kann, und das ganz fix, weil die Zeit tagtäglich knapper wird.
     Sie sind mir lieb und teuer, und ich freue mich immer zu hören, daß Sie wohlauf sind.
          Ihre
               Marty

                                         *


An Ernest Hemingway
                                                                       28. Juni 1943
                                                                       [Kuba]
Meine liebste Laus;
Wie ich mich nach Dir sehne. Meine Katzen sind sehr lieb zu mir, aber glücklicher- oder unglücklicherweise können sie weder lesen noch sprechen. Ich sage zu ihnen: Es ist ein gutes Buch; und sie fegen wie nichts über den Tisch und tollen mit dem Kabel herum, und Friendless setzt sich mit ihrer Schnurrmaschine kurz auf meinen Schoß.
     Alicia, die das Tippen übernommen hat, amüsiert mich. Sie ist mit Sicherheit die einzelligste Frau, mit der ich je zu tun hatte. Heute sagte sie zu mir: "Martha, ich hasse Männer." Und das glaube ich ihr: so wie die Arbeit das Kapital haßt. Sie findet meine Bücher "fesselnd"; ihr gefallen Marcs "Reaktionen". Wie eigenartig das alles ist; wie eigenartig das Leben ist. Wer hätte je gedacht, daß ich, die mit dem Traum vom Schreiben auszog (und dieser Traum hat sich zumindest nie geändert), in einem maison de passe neben der Madeleine gewohnt hat und, so romantisch und verlegen, statt Frühstück einen Strauß Veilchen als Schmuck für die Jobsuche kaufte, in dieser vollkommenen, geborgenen Pracht landen und mein fünftes Buch beenden würde. Aber ach. Ich will nicht älter werden; nicht einmal, wenn ich dann viel besser schreibe, mehr weiß und ein beneidenswertes Leben führe statt des ziemlich schäbigen, unsicheren, das nur durch meinen Habitus aufgewertet wird. Ich will überhaupt nicht älter werden. Ich will es so wenig, daß ich jetzt, auf der Stelle, das erbärmliche erste Buch gegen dieses vielleicht hervorragende fünfte Buch eintauschen würde: um, inbegriffen in den Tausch, die Angst, die Überraschung und die Hoffnung der Zwanziger zurückzubekommen.
     Vom Verstreichen der Zeit hat man im Grunde nichts. Und ich war nicht schön, als ich jung war, keine hat es behauptet, und ich fand es auch nicht; und es war weiß Gott eine Plackerei. Heute habe ich so viel, daß es mich erschreckt: üppigste Segnungen. Aber was ich weiß, gefällt mir eigentlich nicht; Weisheit und Erfahrung können mir im Grunde gestohlen bleiben. Ich würde lieber glauben, mich windelweich prügeln und ein bißchen weiterglauben. Ich mag die etablierte, wohlbewehrte Frau nicht, die ich geworden bin. Das laute plärrende zerzauste naive unbesonnene mißratene Mädchen war ein besserer Mensch. Ich wünschte, wir könnten das alles auf der Stelle anhalten, Prestige Besitz, Rang, Wissen, Sieg: und daß wir beide durch ein Wunder wieder unter dem Friedensbogen in Mailand stünden, Du so fesch in Deinem Motorradbeiwagen, und ich, schlecht angezogen, grimmig, liebend, auf der Straße darauf wartend, daß Du fotografiert wirst. Mein Gott, wie ich mir das wünsche. Ich würde das letzte bißchen, das ich jetzt besitze, dafür hergeben, mit Dir wieder jung und arm zu sein, so arm, wie man nur sein konnte, und die Tage mühsam, aber im er in diesem Glanz, der von der Unsicherheit herrührt, vom Hoffen, ja vom Glauben an genau die Dinge, die wir jetzt haben. Ach Mist. Ich bin ein Dummkopf.
     Wo war ich? Ich habe inzwischen zu Abend gegessen. Abends schreibe ich die besten Briefe und die schlechtesten Bücher. Aber vielleicht findest Du das ja gar nicht? Vielleicht sind Dir, verständlicherweise, die Morgenbriefe lieber, das fröhlich Vertraute. Ich bin nicht fröhlich, ich war nie fröhlich, das ist mir nun mal nicht gegeben. Aber viel Übung und viel Furcht haben mich gelehrt, mich zu verstecken, daher wirke ich fast so schön selbstvergessen wie alle anderen. Nur daß es nicht stimmt und ich Selbstvergessenheit verabscheue: Ich will ein intensives Leben, egal, ob gut oder schlecht, aber intensiv soll es sein. Ich will es spüren, jede Minute.
     Die Ehe ist etwas Besonderes, weil sie überall, immer schon, in der Natur vorkommt, und weil sie eher ein Instinkt ist als irgend etwas anderes, muß sie gut sein. Aber sie verroht auch. Du bist so oft und so lange verheiratet gewesen, ich glaube im Grunde nicht, daß sie Dich wirklich erreicht. Das ist Deine Stärke. Es wäre auch schrecklich, denn was Du bist, ist so viel wichtiger als die Frauen, mit denen Du zufällig verheiratet bist, und ganz gewiß wichtiger als dieser institutionalisierte Instinkt. Aber es ist ein komischer Vorgang. Man ist geborgen: Zwei Menschen leben zusammen und wissen, sie sind zu bestimmten Zeiten zusammen in irgendwelchen vier Wänden. Und nach und nach werden sie füreinander der gemeinsame Nenner: Sie kommen wortlos überein, Visionen und Leidenschaft und das komplizierte persönliche Zeug fahrenzulassen: Sie finden eine gemeinsame Grundlage, die grün ist und weich, und auf der bleiben sie. Dabei können sie ziemlich schrullige, feurige Zeitgenossen sein: wie all die schönen Sagengestalten; Ikarus und Prometheus und Leda und so weiter: Aber sie sind zwei Menschen, die beschlossen haben, alle Kanten abzuschleifen, die Stimme zu senken und zu leben. In diesem Moment ihrer Zweisamkeit können sie so wild und so frei sein, wie sie wirklich sind; wie sie innen sind, wo sie nie von einer organisierten Gesellschaft gehört haben und der heiteren, rücksichtsvollen, praktischen Institution der Ehe.
     Ich möchte jung und arm sein, in Mailand, mit Dir und unverheiratet. Ich glaube, auf gewisse Weise wollte ich mich immer wie eine Frau fühlen, und am nächsten kam ich dem im ersten Winter in Madrid. Mit diesem Gefühl verbindet sich eine Blindheit, eine Inbrunst, eine Sorglosigkeit, die man sich immer wünschen muß. Ich mag nicht so weise und so vorsichtig sein, so zuverlässig, so denaturiert, so imstande weiterzumachen. Der Grund, weshalb ich in Kriegen immer am glücklichsten bin (abgesehen davon, daß ich nie
getroffen wurde), ist vielleicht, daß der Krieg der allergrößte Wahnwitz ist und den Beteiligten gestattet, das gesamte solide Rüstzeug über Bord zu werfen und selber wahnwitzig zu sein. Wenn das Wahnwitz ist? Hängt wohl von den Werten ab.
     Ich möchte beinahe zwanzig Dollar darauf wetten, daß dieser Brief Dich ärgert, meine Laus. Oder? Was will die bloß, wirst Du sagen, daß sie hier klagt und vergangenen Zeiten, Orten und Leben nachweint? Was ist nur los mit diesem Weibsstück: Habe ich nicht schon genug Probleme, auch ohne sie? Aber ich bin kein Problem, Laus, denk das ja nicht. Ich bin kein Problem. Ich habe ein Hirn in meinem knochigen Schädel, wie alle, und um das geht es mir. Ich schreibe Dir nur, was ich heute abend fühle oder denke, weil warum nicht: Wir können nicht so verheiratet sein, daß wir nicht unsere Meinung sagen dürfen.
               Marty


Martha vereinbarte mit Collier?s, daß sie nach Europa
zurückkehren würde, um über den Krieg zu berichten. Sie
drängte Hemingway, mit ihr zu kommen, doch er sagte, er
bleibe lieber auf Kuba und jage deutsche U-Boote.



                                              *


An Sandy Gellhorn
                                                             5. September [1969]
                                                             London

Armer Sandy: eines Tages werden wir alle sterben oder auch nur wegziehen, und Du erfährst es nicht, Du bist nicht im Bilde, keiner hat Deine Adresse, also kann Dich keiner benachrichtigen; und irgendwann bist Du dann ganz allein und vollkommen frei, wonach Du seit vielen Jahren strebst ? Weißt Du, alter Junge, Eltern bäumen sich irgendwann auf. Ich habe mich aufgebäumt. Gründlich. Daß Du Deinen zweiten Brief mit "Ich liebe Dich durch und durch" beschließt, ärgert mich so sehr, wie Deine Worte, nicht Deine Taten eines Tages eine Frau erzürnen werden, die von Dir erwartet, daß Du echt bist, nicht ein Haufen schmalziger Wörter.
     Außerdem habe ich Deine Haltung zum Leben so satt. Du bist ständig gelangweilt, untätig, unfähig, egal, wo Du bist. Die einzig wahre Floskel ist "keine Motivation". Kein Wunder. Motivation kommt von innen; die Welt wurde nicht zu Deiner Bespaßung und Befriedigung erfunden; oder um Deinen Lebenswandel auf Rosen zu betten. Motivation kommt von Mumm, Phantasie und Willenskraft, von innen. Du hast keine. In meinen Augen bist Du ein armes, dummes Würstchen, ich würde mich so schämen, Du zu sein, daß ich mich von der Klippe stürzen würde. Himmel noch mal, wann fängst Du endlich an, zu sein, statt auf etwas, jemanden von außen zu warten, der Dir alles nach Deinem Gusto und Gebot anrichtet?
     Ich habe keinen Respekt für Dich übrig und derzeit auch wenig Zuneigung. Du begleichst keine Schulden, gar keine, egal, welcher Art (und es gibt viele verschiedene Schulden; und Ehre verlangt stets die Begleichung von Schulden). Du hast überhaupt keinen Stil, Dein Geist ist so spannend wie Löschpapier, Du tust nichts, Du bist außerstande, Deine Tage zu gestalten, Dein Leben, Deine Umgebung. Du bist eine durch und durch mittelmäßige Nullität. Vielleicht wäre Vietnam für Dich das richtige gewesen: jede Menge Motivation, allein Deine Haut zu retten.
     ? Wenn Du an mir interessiert bist, wirst Du Dir Deinen Weg zurück verdienen müssen. Werde interessant. Fang etwas mit Deiner Zeit an; lerne etwas. Du mußt praktisch alles lernen, weil Du ja nichts weißt. Hör auf, Liebe zu beteuern, wenn es Dir in den Kram paßt, und beweise sie durch Fürsorge. Ich habe Dich satt, Sandy, so satt. Unaufhörlich demonstrierst Du, daß Du ohne mich leben kannst, es sei denn, Du willst etwas von mir; ich kann auch ohne Dich leben. Eine gewisse Zahl von Menschen liebe und hege ich, aber die Liebe ist wie Tennis, weißt Du, im großen: Sie wird von zwei Leuten gespielt, nicht von einer Heiligen und einem Schwein. Sie ist eine Beziehung zwischen Ebenbürtigen. Und ich war noch nie imstande, Menschen weiter zu lieben, die ich nicht respektiere - vielleicht ein Defizit, vielleicht das Zeichen eines guten, gesunden Selbsterhaltungstriebs.
     Ich bin nicht gelangweilt, ich bin todmüde, krank und abgeschlagen, aber die Arbeit wird erledigt, und die Verpflichtungen werden erfüllt. Aber Du, mein Schatz, bist weder Arbeit noch Verpflichtung: Du bist ein selbstsüchtiger, fauler, sinnloser junger Mann und für Dich selbst verantwortlich. Ich bin nicht mehr haftbar. Jetzt bist Du dran.
     Deine
          Mum



Mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlages

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