Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Caparrós: Die Ewigen. Teil 3

26.05.2014.
Später würde sie behaupten, sie habe sich durchaus geschmeichelt gefühlt: Dass ein gestandener Mann ein solches Opfer für sie brachte, hatte sie verzückt. Der Opfergedanke war in ihren christlichen Genen, ihrer Ausbildung, ihren Zweifeln tief verankert. Doch sie fragt sich nie, was aus ihrem Leben geworden wäre, wenn der Kerl sich nicht mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen hätte: Solche Fragen stellt sich meine Mutter nicht - oder zumindest spricht sie mit mir nicht darüber. Ich schon. Ich bin davon überzeugt, der Zufall ist die zentrale Kraft, die das Leben beherrscht, sprich: das absolute Chaos. Im Verlauf der Erzählung werden Sie feststellen, dass meine Theorie Bestand hat. Vermutlich hat dieser ein wenig grobschlächtige Hüne im schmutzigen Overall mit den kleinen grünen Augen, den sie bis zu dem besagten Tag nie bemerkt hatte, ihr auch einfach gefallen - sie neugierig gemacht? Irritiert? Jedenfalls ging meine Mutter - die Klosterschülerin, die wir vorab schon mal als meine Mutter bezeichnen wollen -, zu ihm, nahm seine raue, ölverschmierte Hand in ihre, sah die blutende Platzwunde, zog ihr Stofftaschentuch aus dem Handtäschchen und versuchte, die Wunde abzubinden. Zur damaligen Zeit ging ein wohlerzogenes Mädchen nie ohne ein sauber gefaltetes weißes Stofftaschentuch aus dem Haus.
"Machen Sie sich darum keine Sorgen, Señorita."
"Ich mache mir doch keine Sorgen."
"Das sehe ich", erwiderte er lachend.
Beleidigt nahm meine Mutter ihr Taschentuch und zog donnernden Schrittes von dannen. Wenn sie an den darauffolgenden Tagen in die Nähe der Werkstatt kam, strich sie sich die Bluse ihrer Schuluniform glatt und überprüfte die Frisur - doch mein Vater würdigte sie keines Blickes. Das war meine Mutter nicht gewohnt; was für ein Idiot, dachte sie, und vermutlich lag sie damit gar nicht so falsch. Aber sie blieb der Logik ihrer Argumentation nicht lange treu. Nach einer Woche blieb sie stehen und sagte, sie heiße Beatriz, wie er denn hieße.

Als sie sich am folgenden Samstag im Club Carlos Pellegrini zum Tanzen trafen - meine Mutter hatte ihren Eltern vorgeschwindelt, sie würde mit ein paar Freundinnen dort hingehen -, war sie überrascht - enttäuscht? -, als sie ihn im braunen Sakko und mit seiner Pomadenfrisur auftauchen sah: Hätte er doch wenigstens Slipper getragen. Mein Vater wirkte altmodisch, fehl am Platze und vor allem ordinär - oder, um einen vielsagenden anachronistischen Begriff zu verwenden, wie ein Bauerntrampel. Damals gab es die ersten langen Haare, die ersten Miniröcke, die ersten Jeans, und mein Vater verurteilte alles gleichermaßen mit seinem Totschlagargument: Wenn das gut wäre, hätten unsere Eltern es bereits gemacht. Manchmal beneide ich ihn heute noch um diese Zuflucht: Leichtgläubig davon auszugehen, dass alles Neue verdammenswert - oder zumindest überflüssig - ist.
Meine Mutter hatte keine Ahnung, dass mein Vater - vor der gewohnten Zeit - in Doña Menchas Salon gewesen war, um jedweder Versuchung, jedem Fauxpas, aus dem Weg zu gehen. Er war nervös: Am Eingang zum Club sagte er, eigentlich gehe er nicht mit Mädchen aus, er sei nur gekommen, weil sie auf ihn einen seriösen Eindruck mache, und was sie von vorehelichem Verkehr halte. Meine Mutter erschrak, überlegte kurz, ob sie sich aufregen sollte, dachte dann aber, wenn sie das täte, würde er sie für ein Dummerchen halten, also setzte sie alles auf eine Karte und sagte, sie habe keine Ahnung, was das sei - obwohl sie es genau wusste: Eine ihrer Klassenkameradinnen war gerade aus einem geheimnisvollen Grund, den alle kannten, der Schule verwiesen worden.
"Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen."
Meine Mutter wusste nicht, ob sie ihn duzen sollte, aber mein Vater hatte sie nicht geduzt, und sie würde selbstverständlich nicht den ersten Schritt tun.
"Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten."
Mein Vater sah sie erneut an und dachte, vielleicht ist diese Beatriz die Richtige: Das war seine Art, ihre Brüste auszublenden. Auf der Tanzfläche tanzten zwei Dutzend junger Leute mit ausladenden, ein wenig mechanischen Bewegungen zu Songs von Club del Clan: du hast?/?ein süßes Gesicht?/?und du hast?/?eine himmlische Figur. Die Musik von Club del Clan war damals schon altmodisch. Mein Vater verachtete die Tänzer, weil sie ihre Zeit mit Unsinn vergeudeten, und wenn sie zu ihm sagten, das Tanzen wäre eine todsichere Methode, um Frauen abzuschleppen, erwiderte er, Frauen, die man beim Tanzen abschleppen könnte, würden ihn nicht interessieren. Auch nicht, um sie ins Bett zu kriegen? In mein Bett? Zu Hause bei meiner Mutter? Wo auch immer, ins Bett halt. Pass bloß auf, was du sagst. Aber keiner seiner Freunde kam auf die Idee zu fragen, was er mit Zeit verschwenden meinte, oder umgekehrt, womit man sie denn nicht verschwendete. Mein Vater ergatterte einen Platz im hinteren Teil des Raumes, lud meine Mutter zu einem Grenadine ein und verwickelte sie in ein Gespräch. Keiner von beiden konnte sich später erinnern, worüber sie damals sprachen: Meine Mutter zerbricht sich noch heute den Kopf, was für aberwitzige Themen es wohl waren; sie weiß nur, dass mein Vater sie die ganze Zeit mit Señorita ansprach, und dass sie nicht wusste, ob sie Señor zu ihm sagen sollte - was ihr albern vorkam. Mein Vater machte natürlich keinerlei Anstalten, sie zu berühren. Nachdem eine Stunde verstrichen war, ohne dass sie ihn gebeten hatte, sie doch zum Tanzen aufzufordern, sagte er, wenn es ihr nichts ausmache, würde er gerne ihre Eltern kennenlernen. Mein Vater hat nie erfahren, dass meine Mutter keine Lust zu tanzen hatte, weil sie das Gegröle vom Club del Clan - für ihn ein Zugeständnis an ihre Jugend und die modernen Zeiten - ausgesprochen ordinär fand. Mein Vater hätte wahrscheinlich schon das Wort "ordinär" gar nicht verstanden; meine Mutter hingegen, die das Wort gerade erst gelernt hatte, befand sich auf einem epistemologischen Feldzug und fragte sich bei jeder Gelegenheit, ob der furchtbare Begriff nicht auf dieses Lied, diesen Satz, dieses Kleidungsstück, diese Familie oder Fantasie angewendet werden konnte. Aber an dem Abend war sie so beeindruckt vom Verhalten meines Vaters - das man als seriös, aufrecht, dumm bezeichnen könnte -, dass sie ausblendete, dass er wie ein altmodischer Spießer wirkte, und sie hielt ihre Leidenschaft für bestimmte Dinge, wie das Tanzen, die Modezeitschriften, die überwältigenden Gefühle, die sie nur vom Hörensagen kannte, für verzichtbare Laster. Was aber, wie wir sehen werden, nur eine begrenzte Zeit währte.
Meine Mutter dachte, hätte er doch nur nicht diesen Schnäuzer. Mein Vater dachte, hätte sie doch nur dieses Parfum nicht aufgelegt. Mein Vater hatte aber nun mal diesen Schnäuzer und meine Mutter benutzte immer dieses Parfum, und mein Vater schloss die Augen und dachte an die beiden Schatten, die er im Schnee hatte vorbeiziehen lassen - der Schnee verlieh der Szene einen Hauch von exotischem Abenteuer, als wäre sie jemand anderem widerfahren, und das machte sie noch anziehender und rätselhafter -, und er legte im Gehen einen Arm um ihre Schulter - sie befanden sich in einer Straße im Zentrum von Lanús, um ein Uhr morgens in einer lauen Sommernacht - und er versuchte, ihr Gesicht näher an seins heranzuziehen. Meine Mutter sah ihn überrascht an, er hatte seine Augen geschlossen, und das war zu viel; sie entwand sich der Umarmung, hüstelte und sagte, gemach, Oscar, gemach, wir haben uns doch gerade erst kennengelernt. Es war ihr drittes Rendezvous: Mein Vater dachte, er habe damals gut daran getan, die Schatten vorbeiziehen zu lassen, warum zum Teufel hatte er nur geglaubt, er könne den Lauf der Dinge beeinflussen. Er begleitete sie schweigend bis zur Haustür und er schlief mit dem Gedanken ein, dass er es vergeigt hatte. Meine Mutter fragte sich auch viele Jahre später noch, warum sie am nächsten Mittwoch zu ihm in die Werkstatt gegangen war und ihm den Vorschlag unterbreitet hatte, sie ins Kino einzuladen.

Es gäbe noch endlos viel zu berichten, doch zum Glück interessiert das niemanden. Es gibt keinen Grund, warum sich jemand für all das interessieren sollte: Das ist das Schicksal von Vorstadtromanzen, verregneter Geburten, peronistischer Tode und allem anderen. Wir sind in einer glücklichen Lage: Keiner interessiert sich dafür, und das gibt uns viele Freiräume. Nach dieser Prämisse habe ich mein Leben ausgerichtet - und es läuft gar nicht so übel. Aber wir wollen nichts überstürzen; damals war entscheidend, dass sein künftiger Schwiegervater meinen Vater monatelang bekriegte - er und seine Frau hätten ihn zwar nicht als ordinär bezeichnet, sie waren es ja selbst, aber sie hatten sich für ihre Tochter eine weit bessere Partie erhofft - und ihn am Ende nur akzeptierte, weil seine Tochter ihm gehörig zusetzte; doch nur unter der Bedingung, dass mein Vater ein Darlehen annahm, um sein eigenes Geschäft aufzumachen: Don Bernardo, ein wohlhabender Eisenhändler und Sprecher der Förderkommission, würde es nicht zulassen, dass sein Nesthäkchen einen angestellten Automechaniker heiratete. Mein Vater sagte, nein, entschieden nein; und mein Großvater erwiderte, dann nicht, schon dreimal nicht. Es war ein großer Moment für meinen Vater, als er aus Liebe seine Überzeugungen über Bord warf. Vermutlich wollte meine Mutter ihn deswegen unbedingt. Oder wer weiß warum. Vielleicht verstehe ich irgendwann, wie sich zwei derart unterschiedliche Menschen vereinen können. Doch der Nachhall des Satzes lässt mich stutzen: Heißt das, nur Gleich und Gleich sollen sich zusammentun? Wenn man davon ausgeht, dass die Grundlage der Beziehung zwischen Mann und Frau eben in ihrer Unterschiedlichkeit liegt, wäre es dann nicht logisch, dass eine solche Beziehung haltbarer ist und dass sich eher völlig unterschiedliche Menschen zusammentun? Und wäre dann die Verbindung der sogenannten Seelenverwandten, eines Mannes und einer Frau, die wie füreinander gemacht scheinen, nicht ein Ausbruch aus der Differenz? Wäre das nicht eine Verwässerung der Grundlage der heterosexuellen Beziehung, eine Kompromisslösung, verkappte Homosexualität? Die Sorge reicht wesentlich weiter und betrifft im Grunde andere Momente meines Lebens; die Gründe, aus denen meine Mutter und mein Vater ein paar Jahre gemeinsam verbrachten, sind für mich unerheblich - Jahre, die auf verschlungenen Pfaden an dem Tag ihren Höhepunkt fanden, an dem Perón starb, damit andere geboren wurden und von diesem Tag an auf ihr unausweichliches Ende zusteuerten.
Für die Regel mit der obersten Priorität - zu heiraten - stellte mein Vater einige unbedeutendere hintan, und natürlich auch für die Erregung, die ihn überkam, wenn er sich mit meiner Mutter im Club, auf der Plaza oder im Wohnzimmer meiner Großeltern traf. Meine Mutter hat ihn wohl hauptsächlich deshalb geliebt, auch wenn nach einiger Zeit in ihr der Verdacht keimte, dass alles nur eine Täuschung war: Er hatte sie nur haben wollen, um sich von ihrer Familie einen Vorteil zu verschaffen, und seine anfängliche Weigerung, die Hilfe ihres Vaters anzunehmen, war sein Beitrag zur Familienheuchelei: das Schmieröl, das in allen Familien für einen reibungslosen Ablauf sorgt. Fakt war, dass er sie annahm, sagte sie sich: Wenn seine Prinzipien so unerschütterlich waren, wie er behauptete, hätte er sie nicht am Ende angenommen, es sei denn, er hatte schon von Anfang an mit dem Gedanken gespielt. Worte waren noch nie Sache meiner Mutter; wenn ein Wort mehr als eine Bedeutung hat - wie fast alle -, verwendet sie es ohne Rücksicht auf die Unterschiede, oder anders gesagt: Bedeutungsnuancen sind ihr suspekt, sie sieht darin nur Fallstricke für Kleingeister.
Jedenfalls sagt der Gedanke, mein Vater habe ihr etwas vorgespielt, um an das bescheidene Vermögen - das sie nie genau beziffern konnte - meines Großvaters zu kommen, mehr über sie aus als über ihn, und außerdem war es unfair: Erstens war er, um bei der Wahrheit zu bleiben, nicht hinter ihr her gewesen, auch wenn sie sich das später, aus nachvollziehbaren Gründen, in ihrer Erinnerung lieber so ausmalte; zweitens hätte mein Vater so etwas nie getan, das wäre ihm viel zu anstrengend gewesen: Die steinigen Pfade des Betrugs erfordern sehr kluge Akteure oder zumindest äußerst fleißige; und last, but not least: Ich weigere mich das zu glauben. Meine Mutter hat das einmal behauptet, aber jetzt müsste sie es besser wissen, auch wenn sie sicherlich seit vielen Jahren keinen Gedanken mehr daran verschwendet hat.

Meine Eltern haben nach knapp fünfzehn Monaten geheiratet; in einer Zeit sich entziehender, schuldbeladener weiblicher Scham war das ein verdächtig kurzer Zeitraum. Was hat sie dazu bewogen zu heiraten? Was konnte ein zwanzigjähriges, hübsches, molliges Mädchen aus einer Familie, die im Viertel als prominent galt, dazu bringen, sich, wie man so sagt, für immer an einen fast dreißigjährigen Mann zu binden, der in einer Karosseriewerkstatt arbeitete und weder Geld noch Charme noch den Bizeps eines kalifornischen Holzfällers hatte? Die Liebe ist alles Mögliche, aber nicht blind - und, zumindest am Anfang, ist sie auch alles andere als dumm. Was hat meine Mutter in diesem Mann gesehen, der wie ein Vogel durch ihr Leben flatterte oder im Grunde eher wie ein toter Vogel durch ein hoch gelegenes Fenster im freien Fall angeflogen kam? Warum hat sie sich von ihrer Jugend Ledigkeit Freiheit losgesagt und das alles einem so dürftigen Mann geschenkt, dessen Arme scheinbar nicht einmal ausreichten, um all das aufzufangen und festzuhalten? Es gibt, wie immer, mehrere denkbare Hypothesen: Die naheliegendste wäre für die Jungs, in den verborgenen Tugenden des Herrn Gründe für das Unerklärliche zu suchen. Gegen dieses Bagatell-argument würde ich einwenden, hätte es solche Gründe gegeben, wären sie meiner Mutter auch verborgen geblieben. Meine Mutter zog in Weiß vor den Altar, und bis heute betont sie unermüdlich, dass sie in ihrem weißen Gewand von Wahrheit und Recht geleitet wurde. Was uns zur nächsten Argumentationslinie führt: Ziel der Heirat war nicht die Heirat selbst, sondern das Ende ihres Lebens als Unvermählte. Das scheint weit hergeholt und doch: Es ist erstaunlich, zu welch bedeutendem Prozentsatz die Leute Dinge nicht deshalb tun, weil sie genau das tun wollen, sondern weil sie etwas anderes hinter sich lassen wollen. Vermutlich hatte meine Mutter es satt, neben ihren vier Geschwistern das Nesthäkchen zu sein, auf dem die Hoffnungen der Familie ruhten, und auf Schritt und Tritt von den Eltern kontrolliert zu werden. Durch die Hochzeit wollte sie ihnen wohl sagen, ich bin ich, ich bin eine andere, ich bin erwachsen, ich gehöre nicht zu euch, haut ab, ihr könnt mich mal, ich bin nur noch eins, die Ehefrau eines Mechanikers. Sie wollte sagen: Ich bin nicht so, wie ihr mich haben wolltet. Und: Ich will auch nicht besser sein. Ich schätze, das war der Grund; wenn das zutrifft, wäre ich ein Kind der Freiheit, oder besser gesagt, dieser naiven Freiheit, die eigentlich nichts anderes als eine Flucht ist.


3

Meine Mutter nahm ihre häuslichen Pflichten sehr ernst. Meine Eltern - sofern man schon von meinen Eltern sprechen kann - waren nach Barracas, einem Stadtteil von Buenos Aires umgezogen, wo mein Vater einen alten Schuppen gefunden hatte, in dem er seine eigene Werkstatt einrichten konnte, mit einer kleinen Wohnung darüber, bestehend aus zwei winzigen Schlafzimmern, einem Wohnraum, Bad und Küche. Barracas war damals noch ein Viertel der unteren Mittelschicht, eine bunte Mischung aus normalen Mietwohnungen und Werkstätten und Fabriken, mit öffentlichen Telefonzellen, Kneipen mit Warenverkauf und Stühlen auf der Straße, die jedes Mal von Überschwemmungen heimgesucht wurde, wenn es stark regnete, und wo die Nachbarn sich kannten und sich einen gewissen Vorstadtstolz bewahrt hatten: Es gab kein Haus ohne Hund. In Barracas lebten Facharbeiter, Handwerker, Angestellte, kleine Händler. Menschen mit einem Ziel, Leute, für die das Motto Ordnung und Fortschritt galt und die alles dafür taten, sich von den asozialen, grölenden Bewohnern von La Boca abzugrenzen. In Barracas vermischten sich die Gerüche: Der Wind trug faulige vom Riachuelo heran, die von den Keksfabriken waren süß, die von der Mate-Mühle bitter, und die heimischen Grills verströmten den Duft von Vaterland. Barracas hielt sich damals, wie alle Viertel von Buenos Aires, für die Quintessenz der Stadt. Barracas war natürlich billig und ordinär.
Mein Vater fühlte sich anfangs sehr einsam in seinem neuen Heim, dem neuen Viertel, seiner Werkstatt. Vor der Eröffnung hatte er Bobby, mit dem er seit zehn Jahren zusammenarbeitete, angeboten, sein Partner zu werden; Bobby hatte gesagt, der Seelenfrieden und die Sicherheit einer Anstellung seien ihm lieber als die Wechselfälle eines eigenen Unternehmens - er sagte ihm nicht, dass er keine Lust hatte, seinem Arbeitskollegen zu folgen, nur weil dieser sich ein Töchterchen aus reichem Hause geangelt hatte. Das war auch nicht nötig: Sicherheit und Seelenfrieden einer Festanstellung, heißt es, waren ein Argument, das ein Arbeiter damals noch aussprechen konnte, ohne Misstrauen oder schallendes Gelächter zu ernten. Ab und zu trafen sich die beiden in einer Kneipe im Bahnhof Constitución auf einen Wein. Und bei einem dieser Treffen eröffnete Bobby meinem Vater, dass er heiraten wolle. Ist das dein Ernst? Ja klar, Oscar, mit solchen Dingen mache ich keine Witze. Tu das nicht, Junge. Bobby sah ihn an, nahm einen Schluck von seinem Carlón mit Eis, blickte zu dem Banfield-Wimpel an der Kasse, dem Jungen mit Barettmütze und Küchentuch.
"Und das sagst ausgerechnet du?"
Mein Vater schwieg und sah einer drallen Blondine nach. Bei meinem Vater dauerte es manchmal, bis der Groschen fiel.
"Ja, das sage ich."
"Schon klar, aber ich kapier's nicht. Du hast doch selbst gerade erst geheiratet. Läuft es so schlecht mit dem Flittchen?"
Mein Vater wollte schon einwenden, er solle gefälligst nicht Flittchen sagen, aber er vermutete - völlig zu Recht -, dass sie dann unweigerlich in Streit geraten würden, und er wollte seinem Freund wirklich etwas begreiflich machen. Bobby war zwar etwas eigenwillig, aber er verstand alles, wenn man es ihm vorsichtig nahebrachte.
"Die Ehe ist eben nicht für jedermann."
"Ich bin nicht jedermann."
"Doch, das bist du."
"Ich bin nicht jedermann."
"Natürlich bist du das."
"Oscar, ich warne dich."
"Natürlich bist du jedermann. Genau wie ich. Wie wir alle."
Bobby trank seinen Carlón aus und vermied es, ihn anzusehen. Mein Vater hörte in seinem Schweigen eine gewisse Härte - aber die erfindungsreichen Rufe der Marktschreier im Bahnhof hörte er nicht. Er unternahm einen letzten Vorstoß:
"Für mich bist du wie ein Bruder, Bobby; für alle anderen sind wir beide jedermann."
"Was heißt das, wir sind jedermann?"
"Was weiß ich, jedermann eben. Ich, du, der Junge da an der Theke, das ist völlig gleich."
"Was ist gleich? Wem ist das gleich?"
"Jedermann, Bobby, du verstehst mich nicht. Für die Welt ist alle Welt jedermann."
Die Diskussion drehte sich noch zehn Minuten im Kreis, dann war sie beendet, ohne dass sie nochmals auf das Thema Ehe zurückgekommen wären. Mein Vater und Bobby sahen sich daraufhin monatelang nicht; mein Vater vermisste seinen Freund, aber er wusste auch nicht, wie er es anstellen sollte, Kontakt zu ihm aufzunehmen, ohne etwas Unpassendes, Unmännliches, Schwuchtelhaftes zu sagen.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages
(Copyright Berlin Verlag)

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