Vorgeblättert

Leseprobe zu Matthias Göritz: Träumer und Sünder. Teil 2

11.07.2013.
In Cannes hatte eine Limousine am Flughafen auf ihn gewartet, zwar nur ein Citroën, aber er war ja auch Interviewer, kein Filmstar. Die Stadt feierte Körper. Von der Leinwand herabgestiegene Körper. Selbst auf dem Flug von München hatte er neben einigen deutschen und internationalen Kinogrößen gesessen, die aufgeregt miteinander tuschelten. Die Stimmung in der kleinen Turboprop-Maschine hatte etwas von einer Klassenfahrt, allerdings einer, bei der großzügig Alkohol ausgeschenkt wurde. Den Gratisdrinks wurde eifrig zugesprochen, man stand im engen Gang, berührte sich schüchtern am Arm, stellte sich gegenseitig noch nicht bekannte Freunde vor, und kein Lehrer kam, um sich über das häufige Herumgehen und Plätzewechseln zu beschweren. Als er aus dem Flughafengebäude in die wartende Limousine stieg, empfand er zu seiner eigenen Überraschung freudige Erregung. Ja, er freute sich auf seine Zeit in Cannes; er war gespannt, was sie ihm bringen würde. Er war noch nie hier gewesen, überhaupt kannte er die Côte d'Azur nur aus - nun ja, vor allem aus Filmen.

Cannes. Die Stadt schien, die roten Berge im Rücken, mit ihren Palmen unter dem blauen Himmel und der knallenden Sonne vor dem Panorama des azurfarben leuchtenden Meers, eine einzige Verheißung zu sein. Als sie dann von der steilen Küstenstraße in die dunklen und verwinkelten Gassen der Altstadt einbogen und schließlich anhielten, dämpfte der Blick auf die von dem alten Mann gebuchte Unterkunft seine Hochstimmung wieder. Das Hotel Angleterre hatte seine besten Zeiten längst hinter sich; daran konnten weder die Goldaufschrift über der Drehtür noch der ehemals feine Samt der Vorhänge in der Lobby etwas ändern. Eine Staubhöhle mit halbtoten Kübelpflanzen, eher eine Absteige für Vertreter oder knausrige Wochenendtouristen. Schäbig, dachte er, als er an den altmodisch mit grünem Stoff bezogenen Tisch der Rezeption trat und in seinem, wie er fand, recht ordentlichen Französisch seinen Namen sagte, bekam er ein unverständliches Genuschel zur Antwort, das mit "just a moment, Sir" zu Ende ging.

Der Concierge kam nicht mit dem Schlüssel, sondern brachte einen ergrauten Herrn in einem durchgescheuerten dunklen Anzug an den Tisch zurück, wohl den Manager oder den Besitzer des Hotels. Er hielt ein Fax in der nikotinfleckigen Hand, auf dem sich mehrere handschriftliche Notizen befanden. "Monsieur … Dierks?" Er warf einen Blick auf das Fax und entzifferte scheinbar noch etwas. "Velder Dierks? Journaliste?" Sein Vorname - mit endloser Betonung auf der zweiten Silbe - hörte sich aus dem Mund dieses Mannes wie eine genüsslich auf seine Fließfähigkeit überprüfte edle Käsesorte an, seinen Nachnamen hingegen sprach der "directeur", als der er sich nun vorstellte, förmlich mit gequetschter, hochgezogener Stimme aus, als würde er gerade ein deformiertes Amphibienwesen zertreten oder ein unangenehmerweise sich in die Lobby verirrt habendes Reptil. Velder blieb freundlich. Er verstand etwas von "réservation double" und "problème", der Franzose zuckte die Achseln und wies ihn mit einem unbeteiligten Lächeln auf "madame" hin. Velder drehte sich um und sah in die müdesten aber auch glänzendsten Augen, die er jemals gesehen hatte. Die Frau lächelte bedauernd, tippte zweimal mit dem Finger auf ihr Gepäck, einen braunen Lederkoffer und eine riesige Handtasche, stand dann aus ihrem Sessel auf und federte auf sie zu. Sie war hochgewachsen, schmal, mit einem drahtigen Körper fast wie ein Junge und trug ein helles rosa Kleid, auch ihre Augen waren hell.
"He has us double booked", sagte sie.
"I see." Ihm fielen ihre kurzen, welligen Haare auf, die sie wohl normalerweise toupiert trug wie ein Popstar der Achtziger, die aber nun verstrubbelt und angeklatscht ihr müdes, aber schönes Gesicht umrahmten.
"We have to share the room."
"Oh."
"We can use a sheet."
"What?"
"On a line. Between us."
"Can I invite you for coffee first?"
"Like in a screwball comedy?"
Die beiden sahen sich an und lachten. Der Hotelbesitzer, der von diesem Wortwechsel überfordert schien, sah seinen Concierge an, beide zuckten mit den Schultern.

Heloisa Ferreira aus Venezuela, so hatte sie sich vorgestellt, als sie erst ihr Gepäck in dem luftigen Zimmer im obersten Stock verstaut und dann Kaffee trinken gegangen waren. Sie hatte sich noch schnell frisch gemacht, ihn aber nicht gebeten, aus dem Zimmer zu gehen. Er hatte sie durch die Badezimmertür gefragt, ob er rauchen dürfe, sie hatte die Tür geöffnet, war im Unterkleid ins Zimmer gekommen und hatte ihm seine Zigarette aus der Hand genommen, sich vorgebeugt und um Feuer gebeten.

Dann hatte sie gelacht und war schnell auf nackten Füßen wieder ins Bad getrippelt. Als sie wieder herauskam - in einem apricotfarbenen Kleid, das ihre braunen, schmalen Schulten bis auf einen dünnen Träger frei ließ -, hatte sie nicht mehr müde gewirkt, sondern entschlossen. Velder hatte ihr vorgeschlagen, die dunklen Straßen der Altstadt zu verlassen und in ein Café ans Meer zu gehen. Er liebte das Meer. Der Satz war ihm rausgerutscht. Er hatte ihn noch nie gesagt oder gehört, ohne zu denken, wie peinlich das doch sei, etwas so Unfassbares und Undefinierbares zu lieben wie eine große Menge Wasser, aber sie hatte ihn angesehen und nicht gelacht und auch nichts gesagt, was er als bloßen Flirt oder bloßes Füllen einer Lücke in ihrem Gespräch hätte auffassen können. Sie hatte genickt und dann, ganz kurz, hatte sie seine Hand genommen und ihn in Richtung der Croisette gezogen.

Das ist eine Frau, die keine Angst hat, dachte er. Zumindest nicht vor sich selbst oder vor ihrem Körper. Als er ihren Kopf in die Hand nahm, ließ sie es geschehen. Ihr Haar duftete nach der Brise, die Cannes vom Meer her eingenommen hatte, einmal durch das Massiv des Küstengebirges gefegt und wieder heruntergeweht war, reicher an neuen Gerüchen, von Honig und Thymian, dem Duft der Kastanienbäume, der fast vertrauten, weichen Oberfläche der Korkeichen. Sie schien, wie er, ein Fremdkörper in dieser Stadt zu sein, die gerade Körper feierte. Sie küssten sich.

Der ganze Abend löste sich danach auf. Die Sonne ging unter. Menschen lachten und tranken, Kellner würdigten sie eines zweiten Blickes, sie aßen fantastische Fischsuppe in einem kleinen Lokal, schlenderten durch die Nacht. Lichter und Gesichter vermischten sich in einer endlosen Schleife aus sanfter, ein anderes Mal heftiger Berührung. Wer hier prominent war, wer nur Zuschauer, war plötzlich egal. Velder war glücklich. Ihre Haut schien ihm mit der Seide ihres Kleides verwachsen zu sein, sie zog ihn an, nichts auf der Welt war ihm jemals so begehrenswert erschienen. Als sie die Tür zu ihrem Zimmer aufsperrten, ein wenig betrunken, und sich das Zimmer mit dem imaginär zwischen ihnen aufgespannten Laken im Mondlicht öffnete, schien mehr als nur ein Abend vergangen zu sein. Mit diesem Zimmer hat es angefangen, dachte er. Irgendwie. Wie Liebe halt anfängt. Und dieser Gedanke beunruhigte ihn zum ersten Mal in seinem Leben nicht, er küsste ihren Nacken, sie ließ es geschehen. Das Licht pulsierte in einer wachsenden Sehnsucht, die an diesem Abend nicht nur für sie beide gemacht zu sein schien. Die Gardinen wehten ins Zimmer. Er löste sich von ihr, warf noch einen Blick auf die Stadt. Dann schloss er die Fenster.


Am nächsten Morgen fühlte er sich wie ein Gott, sah aus wie eine Leiche, und Heloisa war nicht mehr da. Obwohl es erst viertel nach acht war. Einen Moment war er gekränkt, nein, es war wie ein warmer Stich im Magen. Aber sie hatte gesagt, sie müsse früh raus, zum Filmmarkt, sie wollte ihren Film pitchen. Es hatte sich gut angehört, ein melancholisches Stück Abenteuer über einen Mann, der aus der Ölbranche aussteigt, Goldsucher am Amazonas wird und nebenbei die ganze Zerstörung des Urwaldes mitbekommt, die Prostitution der Indios in den Wäldern, ein Trip in den Tod, aus dem er sich aber mithilfe einer Frau, die er kennenlernt, wieder befreit. Als Velder ins Bad ging, grinste er. Heloisa hatte ihre Telefonnummer und ihre E-Mail-Adresse auf den großen, blinden Art-déco-Spiegel gemalt. Mit einem Lippenstiftkuss und der Frage tonight? Er hatte ihr nicht gesagt, dass er heute schon wieder abflog. Er würde nachher die Redaktion anrufen und um Verlängerung bitten, die Party gestern hatte er ja verpasst; seltsam, er hatte nicht eine Sekunde lang an die lose verabredete Veranstaltung gedacht, zu dem ihm das Produktionsbüro Erlenbergs extra noch Einlasskarten besorgt hatte. Nachdem er geduscht, sich rasiert und die Zähne geputzt hatte, gab er den Anzug, in dem er geflogen war und die Nacht durchgemacht hatte, in die Schnellreinigung, zog den zweiten an, Gott sei Dank hatte er sich zwei gekauft, nahm ein Taxi zur Croisette und setze sich in ein Promenadencafé. Er schaltete sein Handy an und wählte die Nummer des Mercure. Er bekam den alten Mann nicht ans Telefon. Dann ploppte ein Schwarm von Kurznachrichten auf seinem Display auf. Vier, fünf, nein sechs Nachrichten von seiner Exfreundin, deren letzte, um drei Uhr nachts, lediglich aus drei irritierenden Fragezeichen bestand. Die Mailbox verzeichnete sechs Anrufe, fünf von Melanie, der letzte begann mit "Wo bist du?", die er alle übersprang. Dann überlegte er es sich anders und schickte ihr eine SMS: "In Cannes."

Den Termin um zehn hatte der Produzent über sein Münchner Büro abgesagt: Verschoben, so hatte die Dame vom Produktionsbüro sich ausgedrückt, nicht Erlenbergs reguläre Sekretärin, die sei in Cannes, wie er ja nun auch. Verschoben wohin, hatte er bei seinem Rückruf gefragt, sie meinen, auf wann, hatte sie ihn schnippisch korrigiert und hinzugefügt, dass sie eben gerade das nicht wisse, aber jemand, nicht sie, würde sich sicher melden und es ihm mitteilen. Währenddessen hatte ihn die Redaktionsassistentin angerufen und ihm hektisch auf Band mitgeteilt, er müsse unbedingt gleich morgen in der Redaktion sein, und der Chef habe gesagt, er solle nicht ohne etwas über von Trier zurückkommen. Das habe jetzt Priorität. Einen weiteren Abend mit Heloisa konnte er also vergessen.

Um halb zwölf klingelte sein Handy. Die Sekretärin. Er könne am Nachmittag kommen, so gegen zwei? Ins Mercure. Es sei leider etwas passiert, gestern bei der offiziellen Pressekonferenz, wie, er habe noch nichts gehört, Lars von Trier, ach so, ja, er hätte das in der Zeitung … unglücklich, wirklich sehr unglücklich, und der Produzent wäre angegriffen deswegen, er möge das mit einkalkulieren bei ihrem Gespräch, nicht zu lang, und er solle doch Rücksicht nehmen.


Als er um kurz vor zwei an die Rezeption des Mercure trat und sich mit der Suite des Produzenten verbinden ließ, teilte ihm Ralph, der ihn scheinbar sofort einzuordnen wusste, mit, dass er sich noch eine halbe Stunde gedulden solle, er könne sich ja noch in der Lobby einen Kaffee bestellen und ein Hörnchen oder vielleicht etwas Stärkeres? Es missfiel dem Interviewer, dass er aus der Stimme des blonden Riesen so etwas wie ein süffisantes Lächeln herauszuhören vermeinte. Auch dass er noch anfügte, er solle doch sagen, es ginge aufs Zimmer, die Nummer wüsste er ja, verbesserte seine Laune nicht. Er setzte sich in ein Lederfauteuil, bestellte aber nichts, bat nur höflich um eine Zeitung und ein Aspirin. Watte für diesen Tag.

Eine halbe Stunde später stand er vor der Tür des Produzenten. Die Sekretärin ließ ihn herein, nickte, machte eine Geste, er möge ins Wohnzimmer treten, sagte aber nichts zur Begrüßung, telefonierte weiter, in einer Sprache, die der Interviewer für Russisch hielt oder Polnisch.

Er setzte sich an den niedrigen, polierten Tisch aus hellem Birnenholz, über dessen Maserung er kurz bewundernd mit der Hand strich. Dann baute er sein Equipment auf. Der alte Mann kam aus seinem Schlafzimmer gerollt; gleichzeitig mit einem Kellner, der Teegeschirr auf einem Silbertablett balancierte. Er hätte Ähnlichkeit mit Michel Piccoli haben können, Ähnlichkeit mit dem jungen Piccoli, wenn da nicht die extrem blauen Augen gewesen wären. Der Produzent schien bester Laune zu sein, jedenfalls rollte er sich kräftig bis zum Birnenholztisch, dann weiter auf den Interviewer zu und streckte den Arm vor, als ginge es um eine Partie Ringreiten und nicht um Begrüßung. Er saß in dem gleichen alten Rollstuhl aus Holz, den er schon aus Sperlonga kannte, sie mussten ihn als Sondergepäck versandt haben. Oder hatte der Produzent ein Privatflugzeug? Dem Interviewer wurde klar, wie wenig er, wie wenig sie alle über diesen Mann wussten, der doch an so vielen Rädchen drehte; das Dossier über ihn war dünn gewesen, die Recherche hatte ihm noch mal alle Dokumente zusammengestellt, die die Archive über ihn hergaben. Es war nicht viel. Geburtsort, Ausreise aus der DDR, die Akten über seinen Vater waren alle verschwunden, sehr merkwürdig, erste Adresse im Auffanglager Friedland, dann Schulzeugnisse, weiterführende Studien an der Kunsthochschule in Kassel, rätselhafter Abbruch, Ausreise in die USA - und da tauchte er dann so richtig erst wieder mit seinen Kampagnen und später, nach der Gründung seiner Firma, in versprengten Fachmagazinen auf. Sie begrüßten sich, noch während der alte Mann seine Hand durchschüttelte, als ginge es um einen Cocktail, fing er an zu sprechen, und sofort merkte der Interviewer, dass er sich getäuscht hatte. Und zwar vollkommen. Der alte Mann hatte sehr schlechte Laune.

zu Teil 3