Vorgeblättert

Leseprobe zu Mohammed Hanif: Alice Bhattis Himmelfahrt. Teil 2

23.02.2012.
"Ich bin qualifiziert ..." Alice merkt, dass sie den Rest der Antwort vergessen hat. Sie beschließt, ohne Rücksicht auf Verluste vorzupreschen, wie ein in der Mitte einer Schnellstraße gestrandeter Fußgänger: Augen zu und durch. Alles kommt in einem chaotischen Redeschwall heraus. Unfalldiagnostik. Umgang mit Kindern. Erste Hilfe. Sofortmaßnahmen. Im Dienste der Patienten und der Menschlichkeit. Pflege von Kranken und Sterbenden. Erfahrungen auf der TB-Station, bevor sie geschlossen wurde. Persönliche Rückschläge. Problematik der Beziehung zwischen Patienten und Ärzten. Praktikum auf der Entbindungsstation. Flexible Arbeitszeit.
Nachdem Alice Bhatti eine ganze Minute gesprochen hat, ohne ohnmächtig zu werden, holt sie tief Luft und merkt, dass alles aus ihr herausgesprudelt ist, was sie eigentlich auf das gesamte Vorstellungsgespräch verteilen wollte.
Von Ferne ertönt ein Martinshorn, und der Deckenventilator wird plötzlich schneller. Ihr Dupatta bläht sich in seinem Wind, und die drei Gesichter vor ihr verschwimmen zu einer gesichtslosen Menge, die auf dem Weg zu einer Lynchjustiz beschließt, zuerst einmal an einem streunenden Hund zu üben. Die Sirene ist jetzt ganz nah, und Alice muss an ihren Traum in der vergangenen Nacht denken. Sie lag in einem Krankenwagen, in einem sich in rasender Fahrt vom Herz Jesu entfernenden Feuerball. Im Traum hatte sie sich gewundert. Einen brennenden Krankenwagen konnte sie sich vorstellen. Aber was hatte sie darin zu suchen? Warum war ihr Gesicht in Eiswürfel gepackt? Und warum fuhr der Wagen vom Krankenhaus weg?
"Nach den modernen Prinzipien der Krankenpflege, und was die gute Beziehung zwischen Patient und Pflegekraft angeht ..."
"Sie sagten, Sie haben bereits in der Notaufnahme gearbeitet?", unterbricht Ortho Sir sie und streichelt den Alien auf seinem Kopf. "Oh ja, natürlich, gewiss. Hatten wir dort nicht einen kleinen Unfall? Wie konnte ich das vergessen?" Schwester Alice Bhatti kann nicht fassen, dass Ortho Sir sich an ihr Gesicht erinnert, auch wenn sie ihn natürlich nicht vergessen hat. Ebenso wenig wie den Eimer, die Blutlachen auf dem Boden und ihren Mopp, über den er gestolpert war.
"Während einer ihrer Schichten als Aushilfe in der Notaufnahme hatte sich offenbar die halbe Stadt in den Bauch geschossen und ihre Eingeweide auf dem Boden der Notaufnahme verteilt.
"Seit wann zählt es als Erfahrung in der Notaufnahme, wenn man dort den Boden gewischt hat?" Ortho Sir macht eine Wisch-Geste. "Pereira-Sahib, wenn ich heute hier als Putzmann arbeite und morgen mit einem Chirurgendiplom auftauche, heuern Sie mich dann als Chefarzt für die Orthopädie an?"
"Dr. Pereira, Arzt in der dritten Generation, schüttelt den Kopf. Nicht um zu verneinen, sondern aus Verzweiflung. Er ist zu höflich, um darauf hinzuweisen, dass nicht alle Christen Putzleute sind. Außerdem fürchtet er sich vor der Antwort: Doch, alle Christen sind Putzleute. Wenn Alice Bhatti die Stelle nicht so nötig hätte, wenn sie die Lücke zwischen der Ausbildung zur Krankenschwester und ihrer ersten Stelle nicht gelöscht hätte, um zu vertuschen, dass sie vierzehn Monate in einer Besserungsanstalt für Frauen und Kinder verbracht hat, hätte sie gesagt, was ihre Mutter unzähligen Männern an den Kopf geworfen hatte: "Wenn ich dir den Mopp in den Hintern schiebe, läufst du rum wie ein Pfau." So jedoch lässt sie Ortho Sirs Bemerkung unbeachtet und schaut zu dem jungen Bürogehilfen, der in einer Ecke vor sich hin kritzelt und sich gebärdet wie ein Dichter. Notizen macht, als würde er eine Aufsichtsratssitzung protokollieren, als würde er etwas verstehen. Als könnte er auch nur einen korrekten Satz schreiben. Das Geschreibsel stört sie eigentlich nicht - schließlich ist das seine Aufgabe - aber Noors Anwesenheit ist ihr unangenehm. Vor allem heute.

Später werden die Leute sagen, man hätte ihr die Stelle nicht geben sollen. Am besten überhaupt keine Stelle. Dass man eine striktere Trennung zwischen Patienten und Pflegerinnen hätte verhängen müssen, dass sie unter ihresgleichen hätte bleiben und innerhalb ihrer eigenen Religion hätte heiraten sollen (und natürlich werden einige auch behaupten, sie sei von vorneherein nicht für die Ehe geeignet gewesen), dass sie diese Rasierklinge von Gillette nicht in der Tasche ihrer Schwesterntracht hätte herumtragen sollen. Andere werden sagen, auf See geschlossene Ehen seien stets zum Scheitern verurteilt, während wieder andere nur etwas von Sitte und Anstand murmeln und sich für eine Änderung der Schwesterntracht aussprechen werden. Jemand wird sagen, das Krankenhaus sei schon 107 Jahre alt und sein Hauptzweck bestehe darin, Leben zu retten, und nicht darin, in VIP-Zimmern Schwänze zu lutschen. Man wird mit der Zunge schnalzen und den Fall mit der Feder moralisch sezieren, doch all das wird erst sehr viel später geschehen.

Im Moment steht Schwester Alice noch vor der Einstellungskommission. Sie betrachtet den Gecko an und ist überrascht, dass er an den Vorderfüßen fünf Zehen hat. Vierzehn Monate habe ich auf die Wände in der Besserungsanstalt gestarrt, wirft sie sich vor, und nie bemerkt, dass sie fünf Zehen haben. Es wäre ein Wunder, wenn ich die Stelle bekäme.
"Meine Herren", flötet Oberschwester Hina mit betelsaftiger Stimme, "mitunter müssen wir Mädchen einstellen, die über eine gewisse Erfahrung verfügen. Wie sollte es sonst gehen?"
Es gelingt ihr, die Wörter "Mädchen" und "Erfahrung" in einen ganz neuen Zusammenhang zu bringen.
Ortho Sir beugt sich vor und starrt mit verschränkten Händen auf seinen Ordner. Der Alien auf seinem Kopf scheint diesen Planeten zu seiner Heimat erkoren zu haben.
"Wie steht's mit der Betreuung von Wöchnerinnen?" Seine Augen sind jetzt auf einer Höhe mit Alice Bhattis Brüsten. "Eingezogene Brustwarzen? Wie geht man damit um? Soll man etwas unternehmen? Haben Sie persönliche Erfahrungen, von denen Sie uns berichten können?" Ortho Sir fährt mit der Zunge an seinem Zahnfleisch entlang, als könnten ihm tatsächlich Brustwarzen zwischen den Zähnen stecken.
Lüsterne Gesten, geflüsterte Andeutungen, ungebetene Hände an ihrem Gesäß - all das gehört zu Alice Bhattis Alltag. Sie hat über die Jahre eine ganze Wissenschaft entwickelt, damit umzugehen, aber diese trockene Zunge, die das zurückweichende, graue Zahnfleisch abtastet, lässt sie schaudern. Sollte sie die Stelle tatsächlich bekommen, wird sie am Ende vielleicht irgendjemanden kastrieren. Oder zumindest die Augen ausstechen. Oder die Zunge abschneiden. Oder dieses Zahnfleisch mit einer Zange über die schamlos nackten Zähne ziehen.
Sie schaut wieder hinauf zu dem Gecko. Er hat sich bewegt, scheint aber kein Ziel zu haben. Er klebt an der Wand wie ein Emblem, dessen Sinn in Vergessenheit geraten ist.
Alice Bhatti war an diesem Morgen von dem Lärm geweckt worden, den Joseph Bhatti beim Zersägen eines riesigen Holzbalkens verursachte, den er am Abend zuvor nach Hause geschleppt hatte - seine einzige Beute in diesem Monat -, um daraus ein Kreuz von der Größe eines Strommastes zu zimmern. Alice war mit dem Gedanken aufgewacht, wie sehr sie diese Stelle brauchte.
Aber mit einer sich windenden, imaginäre Brustwarzen leckenden Zunge hat sie nicht gerechnet. Oder irrt sie sich? Eine Überreaktion?
Bevor sie nach dem Vorstellungsgespräch den Raum verlässt, bleibt sie bei Noor stehen. Der Junge schreibt immer noch. Zum ersten Mal schaut er auf und lässt erkennen, dass er ihre Anwesenheit bemerkt. "Ist deine Mutter gestorben?", fragt sie mit der Gleichgültigkeit eines Menschen, der gerade durch ein Bewerbungsgespräch gefallen ist. Sie senkt die Stimme zu einem Flüstern. "Draußen steht ein Polizeitransporter. Ich hoffe, sie sind nicht wegen dir hier."

*

Mit freundlicher Genehmigung des A1 Verlages
(Copyright A1 Verlag)

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