Vorgeblättert

Leseprobe zu Nir Baram: Der Wiederträumer. Teil 2

24.08.2009.
Das Taxi fuhr durch die Straßen, die im Regen verschwammen. In dem weißen Landrover saßen vier Fahrgäste und ein Fahrer. Der Fahrer warnte vor Straßen, wo tosende Sturzbäche und Hochwasser das Fahren zum Lotteriespiel machten. "Lieber ein Umweg und nicht stecken bleiben. Vorerst ist das Fahren in den Hauptstraßen noch erlaubt. Hoffentlich kriegen wir keine weitere Scherereien ?" Die Arbeitsplätze der Fahrgäste befanden sich innerhalb derselben zwei Quadratkilometer, und der Fahrer war einverstanden, Fahrgäste an zwei Haltepunkten herauszulassen, zum Preis von fünfundvierzig Schekeln pro Person. Er verfluchte die stockende Scheibenheizung. Dampfstreifen beschlugen wieder die Fenster. "Ich fahre blind", feixte der Fahrer. Die meisten Ampeln waren ausgefallen und auf jeder fünften Kreuzung war ein Verkehrspolizist postiert. Auf den anderen Kreuzungen steckten die Wagen in einem unübersichtlichen Durcheinander fest. Er schaute auf seine Uhr. 9.22. Bestimmt war sie wieder in Schlaf gesunken.

Überall schlief sie ein: auf dem Sofa im Wohnzimmer, in dem winzigen Arbeitszimmer, zwischen den kleinen Holzstühlen, die im Korridor zum Schlafzimmer standen, den Kopf eingezwängt zwischen Lehne und Wand. Von Zeit zu Zeit streckte sie sich auf dem Fußboden aus, vor dem Heizofen, und wenn sie dann erwachte, war ihre Haut rosig und warm. Auch wenn sie wach war, war sie mit ihrem Schlaf beschäftigt, besprach den Schlaf, der gewesen war, oder den, der sein würde. Es sah so aus, als würde sie sich nur selten wirklich von den Fesseln des Schlafs lösen.
     Ihre ständigen und dadurch abstumpfenden Klagen über Müdigkeit wurden zur Organisationsgrundlage ihres gemeinsamen Lebens. Wenn er in den Abendstunden die Treppe zur Wohnung hinaufstieg, hungrig und müde nach einem langen Arbeitstag, stellte er sich nicht vor, wie sie auf ihn wartete, sondern eher, welche Form ihre Müdigkeit heute annehmen würde. Er fragte sich, wie ihr Zurückweichen ins Dämmerlicht neuerlichen Schlafs diesmal aussehen würde. Er rechnete damit ebenso wie mit dem kranken Erwachen, das er nicht heilen konnte, auch wenn er sich zu ihr niederbeugen und sie streicheln und ihr Worte ins Ohr flüstern würde. Jedes Aufwachen war, als sei darin die Zeit destilliert, während der sie vom Schlaf gefangen gehalten worden war, als hätte sie ihm Ausmaße verliehen, mit denen man sich nicht abfi nden konnte. Plötzlich schienen ihm die Stufen zu breit. Manchmal fiel ihm ein, dass er keine Zigaretten und keinen Wein gekauft oder dass er den deutschen Journalisten von nebenan schon lange nicht mehr besucht hatte. Er verweilte ein wenig dabei. Stufenweise kletterte er dann hinauf, während das Licht im Treppenhaus ausging. Die Nacht, verstärkt von der Kälte und dem immer stärker niederprasselnden Hagel, galoppierte ins Treppenhaus und besiegte die letzte Helligkeit. Er erstarrte, ihm wurde schwindlig. Bisweilen schleppt sich so ein Mensch die Treppe hinauf und gesteht sich ein, dass er die Einsamkeit der Rückkehr zu seiner Geliebten vorzieht.
     Der Wiederträumer stieg als letzter aus dem Taxi aus und betrat das Bürohaus. Der hoch gewachsene Sicherheitsmann am Tor ignorierte ihn geflissentlich. Die Sicherheitsleute verabscheuten ihn. Sie glaubten, er flüstere dem Generaldirektor ein, dass manche Angestellten die Gewohnheit hatten, in den späten Abendstunden einen kleinen Büroschlaf zu halten. Tatsächlich hatte er sie gar nicht gemeldet, sondern die Denunziation lediglich befürwortet.
     Er wählte seine Telefonnummer und die Träumerin nahm ab. "Schwöre, dass du heute Nacht nicht wieder kneifen wirst." Ihre Stimme war tadelnd und sehnsüchtig zugleich. Trotz allem verlangte sie, die "Nachtwelt" zu behalten. Je härter und leidenschaftlicher sich sein Vorsatz verfestigte, sie zu vernichten, umso fester klammerte sie sich daran. Sie waren wie Verbündete, deren Vision in Erfüllung gegangen war. Aber als die Vision einen untragbaren Preis forderte, wie es oft vorkommt, wurden aus Erfüllungsgehilfen Geiseln. Beiden war klar, dass sie einander brauchten, um die Vision weiter zu nähren. (Seltsam, dass er an seine Begabung wie an ein Raubtier dachte, das Fütterung verlangt.) Manchmal fragte er sie: "Brauchen wir das noch immer?" Doch sie stellte klar, dass sie keinen Grund sah zu bleiben, falls die "Nacht" aus ihrer Welt gerissen würde. Sie erklärte leidenschaftlich, dass sie nahe dran war, sehr nahe, noch einige Tage nur, einige Wochen, höchstens einen Monat. Nahe an was? Eines Nachts sagte sie ihm, dass sie Splitter aus ihrem Gedächtnis bei ihm zurückkaufe. "Der Dienstleister" nannte sie ihn liebevoll und sagte, Erinnerungen zu kaufen mache süchtig, man wolle immer mehr, dem anwachsenden Haufen noch einen verlorenen Krümel hinzufügen. "Bald wird es ohnehin vorbei sein", gelobte sie, "jetzt ist es sowieso zu spät, aufzuhören."


Kurz nach fünf verließ er sein Büro und stellte ärgerlich fest, dass er seinen Arbeitstag nicht ordentlich genutzt hatte, ganz und gar nicht. Viel zu viele Angestellte hatten sich krank gemeldet, der Empfang der Mobiltelefone war grässlich gewesen, beide enthusiastischen Filmemacher aus Arad hatten den Termin abgesagt, weil sie vier Stunden in einem Bus am Stadtrand stecken geblieben waren. Als er mit leisen Schritten am erleuchteten Büro des Generaldirektors vorbeiging, schien es ihm, als sei dieser sich seines Scheiterns bewusst.
     Die letzten Gerüchte besagten, dass der Generaldirektor im Begriff war, seine Stelle aufzugeben, in den Büros herrschte hektischer Aktionismus und mindestens zwanzig Nachfolgernamen wurden gehandelt. Viele Tage lang widmete er sich der Vorbereitung auf den neuen Direktor und entwarf Pläne, wie er jedem einzelnen der genannten Anwärter gefallen könnte. Grundsätzlich verachtete er Menschen, die sich aus Sorglosigkeit oder im naiven Glauben an ihre Fähigkeiten über kommende Ereignisse nicht genug Gedanken machten. Diese verwöhnten Kerle - wie armselig waren sie in seinen Augen - waren die meiste Zeit mit trivialen Dingen beschäftigt. Eines Tages würden die Walzen der Industrie sie überrollen und in alle Winde verstreuen. Er selbst hatte nicht die Absicht, zu verschwinden, sondern durchzuhalten und weiter nach oben zu klettern. Wenn Menschen von seinem Schlag durchhalten, steigen sie danach sowieso auf. Eine neue junge Angestellte, man sagte von ihr, sie sei gerade aus dem Dienst in der Luftwaffe entlassen worden, hatte sich bereit erklärt, ihn fast bis ans Haus zu fahren; sie wohnte nicht weit und in naher Zukunft würden sie sowieso zusammen arbeiten, vorausgesetzt, eine der Fernsehstationen würde die Güte haben, Bukobosas und Agabessas Projekt zu erwerben. Der lila Jeep fuhr durch die schweigende Stadt, im Autoradio hörten sie die "Winterstunde mit Neil Young". Durch die Fensterscheibe sah er die Regentropfen. Dort, wo die Tropfen mit dem Asphalt zusammentrafen, sah die Fläche aus wie von Insekten überschwemmt, die wie wahnsinnig zappelten. Wo waren all die Lichtblitze, die bis vor kurzem hier herumgetanzt waren? Die purpurnen Schilder, die Lichter der Geschäfte, die Lichtgarben der Straßenlaternen, das helle Lila der Spielklubs. Wie kam es, dass die Stadt wie ein Vorort aussah, der schon um sechs Uhr abends den Tag weggepackt hat?
     Jeden Abend um sieben setzten sich die Träumerin und er zum
Abendessen hin. Eine gemeinsame Tradition, mit der sie die allzu freie Zeit, die sie hatten, in eine Form zwangen. Früher hatten sie darauf geachtet, jede Woche Bekannte aus dem Büro zum Abendessen einzuladen, aber die Mahlzeiten waren kein Vergnügen und sie fühlten sich fehl am Platz. Seine Anstrengungen, zu gefallen und alle Geladenen zufrieden zu stellen, und ihre Anstrengungen, an seinen Bekannten Interesse zu zeigen, hatten etwas Affektiertes, das alle belastete. Aber obwohl jedes Abendessen belastender wurde als das vorhergehende, bemühten sie sich, die Kontakte mit dem kleinen Freundeskreis nicht abreißen zu lassen. Nach und nach wichen ihre Bekannten den Einladungen aus, jedenfalls schien es so, und die Sache wurde aufgegeben.
     Danach gingen sie zu Hause immer sofort an die Vorbereitungen des Essens. Während der gemeinsamen Arbeit wechselten sie eine Menge Worte und beschäftigten, fühlten sie sich geschützt, und sie handelten wieder wie ein einziger Körper. Die Träumerin rührte eine Pastasauce zusammen und er, mit einem Holzlöffel im Topf, riet ihr, noch etwas Sahne hinzuzufügen. Er schnitt Tomaten, Gurken und Zwiebeln und die Träumerin fragte, ob er auch etwas scharfe Paprika hinzugefügt habe, und nach zwei Minuten fragte sie wieder, weil "man sich manchmal nicht erinnert". Sie zogen diese schützende Beschäftigung endlos in die Länge. Jeden Abend gaben sie ihr sich aufs Neue hin und fürchteten sich davor, sich davon zu verabschieden.
     Allmählich kam die Nacht, und die Träumerin verlor das Interesse am Essen. Während er mit seiner Gabel hantierte, mit dem Salat spielte, ihn in kleine Gruppen aufteilte, aufhäufte und die Haufen wieder auseinandernahm, wich er ihrem wartenden Blick aus. In dieser Stunde schien ihr Körper schon von der "Nacht" verhaftet worden zu sein, als verzehre sie sich nach ihr. Wie kleine Steine, die einen Augenblick lang Schaum erzeugen und dann in den Tiefen eines Stroms versinken, lagen die hohlen Worte zwischen ihnen. In den ersten Monaten, als sie noch Partner in der "Nacht" waren, ließ ihre gemeinsame Begeisterung jede andere Angelegenheit unwichtig werden. Die Träumerin blieb in jenem Ort versunken, gefangen von seinem prächtigen Zauber. Er wollte etwas von der Welt, die vor der "Nacht" war, zurückholen, etwas, das den zwei Menschen gehörte, die einmal hier gewohnt hatten, genau hier, in dieser Wohnung. Doch wenn er versuchte, irgendeine traumverlorene Erinnerung in ihr wachzurufen, die Wärme und Zuneigung hätte auslösen können, leugnete sie die Partnerschaft der gemeinsamen Erinnerungen. "Nostalgiker" nannte sie ihn dann.


Nun kehrte die Bedrückung zurück. Es gab keinen Abend ohne jeden
sie. Sie stumpfte seinen Widerstand ab, und er war wie ein blutender Boxer, der für eine weitere Runde in den Ring steigen muss. Als ihm klar wurde, wie sehr sie sich nach der "Nacht" sehnte, wusste er, dass er sie nach einer Woche der Verweigerung nicht noch einmal enttäuschen durfte. Er hatte ihr doch nichts anderes zu bieten. Wenn er ihrem Flehen nachgab, würde sie ihn umarmen, seine Zunge würde wieder leicht in ihrem Mund spielen und Worte, die ein Paar in der Stunde der Nähe wechselt, würden eine Ahnung ihrer alten Liebe heraufbeschwören. Wie leicht könnte er sich dem Reiz einer trügerischen Gewissheit hingeben, seinen Körper ihren Händen überlassen, sich dem Schmelz ihrer Stimme ausliefern. Sie waren dieselben Menschen, die sie früher gewesen waren, dieselbe Liebe, dieselbe Haut, dasselbe Streicheln, dieselbe Art, ihm ihren Körper hinzuwerfen, damit er sie umarme, dieselbe Wohnung, dieselbe Stadt, und seitdem war kaum Zeit vergangen.


Gerade jetzt, während er sie umarmte, während ihre Körper sich an tausend Punkten berührten, während sie verzaubert waren von den Tiefen der Leidenschaft, wurde ihm mehr denn je bewusst, dass er sie allmählich vernichtete. Das war nicht mehr die Frau, die er kannte, es war nur ihr Schatten. Nachdem er ihre gemeinsame Gestalt in der Welt der Nacht geschaffen hatte, litt er Qualen. Auch sie wusste um seine Leiden. Der Wahnsinn ließ Strecken von klarem Bewusstsein zu, und wenn sie sich des ganzen Geschehens bewusst war, achtete sie darauf, seine Verantwortung dafür zu betonen. Er hatte die Welt der Nacht erdacht. In seiner Kindheit, in seiner Jugend, in der Stadt Jerusalem, die sie nicht kannte, war die "Nacht" erschaffen worden. Und jetzt bereute er, verfluchte den Tag, an dem er sie der "Begabung" ausgesetzt hatte.
     Weshalb hatte er es ihr verraten? Weshalb hatte er sein Geheimnis nicht gehütet? Er hatte doch geschworen, es zu bewahren. Seit jener Nacht in seiner Jugend hatte er der Verlockung der Begabung nicht mehr nachgegeben. Und dann? Und dann gab es eine Minute, in der seine Schutzmechanismen versagten, eine einzige Minute nach dem Liebesakt. Ihre nackten Körper ineinander verschlungen, ihre Haut schweißtriefend. Es war zu kurz gewesen, aber ihre Liebe zu ihm wuchs gerade dann, wenn er schwach war. Es schien, als wären sie für immer und ewig vereint. Er leckte ihre Haut, kniff ihre Brüste, seine Finger bewegten sich behutsam in ihren Säften und sie stöhnte. All seine Wehklagen aus Kindheit und Erwachsenenzeit, all die aufgestaute Einsamkeit wurden von ihrer Haut absorbiert und schienen spurlos zu verschwinden. Da war eine Minute, in der es nichts auf der Welt außer der Träumerin gab, da schien es ihm, als wären all die Jahre des Wanderns und der Heimatlosigkeit nur ein stickiger Korridor gewesen, der zu ihrem liebenden Blick führte, zu ihrem Gesicht, das so aufregend glühte, wenn sie errötete. Es war ein Schwindel erregender Augenblick, in dem die Geheimnisse ganz nebenbei hervorgespült wurden, unbewusst wie das Atmen. Er lernte seine eigenen Worte neu, nachdem sie schon eine selbstständige Existenz auf der Welt erlangt hatten. Ihr Gesicht drückte Verblüffung und Spannung aus und ihre Augen sahen ihn an wie einen Fremden, und eine trübe Stimme flüsterte in ihm, jetzt werde sich alles verändern. Er wollte widerrufen, die Begabung leugnen, doch das Gesagte ließ sich nicht mehr ungesagt machen. Kann ein Mensch sich seinen eigenen Träumen entziehen?

Teil 3

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