Vorgeblättert

Leseprobe zu Pablo De Santis: Die sechste Laterne. Teil 1

22.01.2007.
Noch immer herrscht vielerorts der Irrglaube, die großen Architekten wären jene, die ihr Leben dem Bauen gewidmet hätten. Wir aber verfolgen die Spuren all derer, die nach ihrem Tod lediglich Pläne und Zeichnungen zurückgelassen haben. Wir haben Jahre damit verbracht, diese verborgenen Geschichten unerfüllter Sehnsüchte ans Licht zu bringen. Wenn wir uns besonders niedergeschlagen fühlen und neue Kraft schöpfen müssen, erinnern wir uns gern an den Tag unseres größten Triumphes: jenen klirrend kalten Nachmittag, an dem wir Balestris Truhe die Treppe hinaufgetragen haben. Alles, was von dem Architekten geblieben war, befand sich in dieser Kiste.
     Jahrelang hatten wir fünf - die Mitglieder der Gesellschaft für Utopische Architektur - nach Spuren des Italieners gesucht. Wir wussten, dass er in Rom geboren worden war, in New York gearbeitet hatte und in Buenos Aires gestorben war, obwohl wir sein Grab nie hatten finden können. Auch seine Witwe, Anna Caylus, konnten wir nicht ausfindig machen. Auf der letzten Seite einer Tageszeitung (in die jemand Spinat eingewickelt hatte und die wir heute eingerahmt in Ehren halten) entdeckten wir dann neben den Terminen für Ausstellungseröffnungen, Kirchenkonzerten und dem Hinweis auf einen Dia-Abend über Ägypten durch puren Zufall die Ankündigung eines Vortrages. Dante und Balestri: Bücher und Bauten, so der Titel. Diese Zeile führte uns zu Treviso, einem Italienischprofessor, der seit zwanzig Jahren in Buenos Aires lebte.
     Der alte Treviso verstand es, unseren Fanatismus auszunutzen und uns gegen kleinere Geldbeträge Informationen zukommen zu lassen, die niemals eindeutig und oft sogar widersprüchlich waren. Ende der Sechzigerjahre jedoch überließ er uns nach einer Krankheit, die ihn fast einen Monat ans Bett fesselte, die Truhe. Jahrelang hatte sie unbemerkt im Keller des Hotels in der Avenida de Mayo gestanden, in dem Treviso wohnte. Jeder von uns gab seinen Teil, um dieses Vermächtnis bezahlen zu können, ohne zu wissen, ob wir einen Schatz oder einen Haufen alter Zeitungen erstanden hatten.
     Schließlich öffneten wir die Truhe im Hinterzimmer unserer bescheidenen Gesellschaft. Als wir den Deckel anhoben, schlug uns der Geruch von feuchtem Papier entgegen. Aus welchen Gründen auch immer kamen jedem von uns dabei andere Erinnerungen aus weit zurückliegenden Zeiten in den Sinn: Schifffahrten auf dem Tigris, ein Haus auf dem Land oder das Versteck im hohlen Stamm eines riesig großen, umgestürzten Baumes. Aber so ist es immer: Wenn man was wiederfindet, das man jahrelang gesucht hat, erscheint einem das wie die Rückkehr in die eigene Kindheit. Schweigend betrachteten wir die Ränder des vergilbten Papiers, die Mottenlöcher und den Schimmel, der sich auf die Deckel der roten Notizhefte gelegt hatte, darauf wartend, dass einer von uns sich traute, die Dokumente zu berühren. Wir hatten die Truhe beinahe die Treppe nach oben geworfen, doch jetzt waren wir beim Anblick der Unterlagen wie gelähmt.
     Irgendwann aber machte einer von uns den Anfang, und die anderen taten es ihm nach. Was wir fanden, war viel mehr, als wir erwartet hatten: Aufnahmen von Anna Caylus, Aufzeichnungen von Treviso, bei denen es sich um Übersetzungen von Worten Balestris handelte, Skizzen des Architekten, fünfzehn rote Notizhefte. Wir leerten die Truhe innerhalb einer Stunde, doch es dauerte Jahre, bis wir das gesamte Material gereinigt und katalogisiert hatten und schließlich eine Abhandlung über Balestris Leben schreiben konnten.
     Um ehrlich zu sein: Einmal im Jahr, und zwar immer an dem Tag, an dem diese Truhe ihren Besitzer wechselte, holen wir die Dokumente aus dem Archiv und legen sie wieder so in die Kiste, wie wir sie vorgefunden hatten. Stumm gedenken wir dann in unserem Hinterzimmer des Moments, in dem Treviso uns dieses unerschöpfliche papierne Monument vermachte, das sich unserer Träume bemächtigt und all unsere Kraft gefordert hat. Darauf nehmen wir die Unterlagen wieder aus der Truhe, als täten wir dies zum ersten Mal.
     Diese Zeremonie rettet uns davor, uns in einer falschen Intimität mit dem Architekten einzurichten. Und sie ermahnt uns: Balestri bleibt ein Unbekannter, und von seinem Turm besitzen wir nichts weiter als den Schatten eines Schattens.


1

Ende der Vierzigerjahre führte der Brand in einem Nachtklub an der Südspitze Manhattans dazu, dass zwei komplette Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht wurden und benachbarte Gebäude einen solchen Schaden nahmen, dass sie abgerissen werden mussten. Eins von den zerstörten Gebäuden war das Museum Caylus. Obwohl bereits seit 1939 geschlossen, barg es in seinem Innern, verborgen unter Schichten von Staub und Spinnweben, noch immer eine Sammlung von Modellen, die das Caylus berühmt gemacht hatten. Die zweiundfünfzig Einzelstücke aus Pappe, Holz und Papier waren dabei keine Abbilder der New Yorker Wolkenkratzer, wie es seinerzeit in den Reiseführern immer wieder gestanden hatte, sondern vielmehr handelte es sich um Modelle von Gebäuden, die niemals gebaut worden waren. Die Grundidee des Caylus war nämlich, dass eine Stadt sich nicht allein dadurch definiert, was ihren Raum sichtbar bestimmt, sondern ebenfalls durch die vereitelten Projekte und unerfüllten Träume.
     Auch wenn Caylus sich, von seinen Modellen abgesehen, sonst in keiner Weise mit Architektur beschäftigte, unterhielt er doch rege Korrespondenz mit den großen Meistern seiner Zeit. Sie waren es auch, die ihm ihre Zeichnungen und Pläne überließen, die er dann in seinen winzigen Miniaturgebäuden umsetzte. Den Architekten gefiel die Vorstellung, dass, wenn ihre Entwürfe schon nicht gebaut wurden, sie so doch wenigstens in dieser Form ein Stück mehr an Realität gewannen.
     Caylus baute alle seine Modelle selbst, bis auf eines, den Drachenturm, den er von einem auf orientalische Objekte spezialisierten Antiquar gekauft hatte. Gemäß den Unterlagen, die den Turm begleiteten, hatte er ursprünglich in Chinatown errichtet werden sollen. Zur Spitze hin mündete er in einem Drachenkopf mit weit geöffnetem Schlund. Die regelmäßigen Besucher des Museums lud Caylus ein, ihre Wünsche auf ein Stück Papier zu schreiben und sie dem Drachen ins Maul zu stecken.
     Wie es sich für ein Museum gehört, das sich dem Unerfüllten widmete, ist auch das bedeutsamste Stück der Sammlung nie gebaut worden. Es handelt sich dabei um Zikkurat, das letzte große Projekt des italienischen Architekten Silvio Balestri. Auf den noch vorhandenen Plänen zeigt sich ein turmartiges Gebäude von rechteckigem Grundriss und terrassenförmig angelegten Stufen, die auf die Ikonografie Babels anspielen, konkret auf die Werke von Brueghel und Piranesi. Der Turm hätte gut dreihundert Meter hoch werden sollen, erreichte jedoch noch nicht mal die Höhe von Caylus? Modellen.
     Von all den Museen der Stadt war das Caylus, obwohl unter Architekten wohlbekannt, das am wenigsten frequentierte. Es gab Nachmittage, an denen nicht ein Besucher kam, und so wanderte der Hausherr allein durch seinen Skulpturenpark. Immer gab es eine Kleinigkeit zu tun: ein Fenster zu reparieren etwa, die Spinnen zu entsorgen, die ihre Netze von einem Gebäude zum nächsten spannen, oder die aus dem Maul des Drachens hervorquellenden Zettel zu entfernen.
     Caylus schrieb seine Wünsche nie auf einen Zettel, um sie in den chinesischen Turm zu stecken. Er glaubte nicht an solche Sachen.

Leseprobe Teil 2

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