Vorgeblättert

Leseprobe zu Paul Veyne: Foucault. Teil 2

12.03.2009.
Eines Morgens jedoch wurde ich Zeuge seiner eigenen Liberalität. Während meiner Vorlesungszeiten am College de France nahm mich Foucault in seiner großzügigen Gastfreundlichkeit bei sich auf und stellte mir ein an seine Wohnung angrenzendes Apartment zur Verfügung. So ließen wir im Kleinen die alte Welt der Freunde in der rue d'Ulm noch einmal aufleben und nannten uns bei den Spitznamen der damaligen Zeit: Er war "der Fouks", der Fuchs. Eine kleine Bemerkung vorweg, deren Bedeutung sich gleich zeigen wird: Der Leser kennt den verrückten und zugleich anrührenden Brief, den Nietzsche in den letzten Jahren seines Wahnsinns an Cosima von Bülow, inzwischen Cosima Wagner, geschrieben hat: "Ariadne, ich liebe dich", ein Brief, den er mit dem Namen Dionysos unterschrieb, weil er sich für die Reinkarnation dieses Gottes hielt. Cosima von Bülow, Nietzsches letzte und große Liebe!

Eines Morgens nun, zur Frühstückszeit, wurde ich durch Geräusche aus dem Nebenzimmer geweckt: Kaffeelöffel klapperten und zwei Stimmen führten ein fröhliches Gespräch, die Stimme Foucaults und eine muntere Frauenstimme. Erstaunt und befangen klopfe ich an die Tür, räuspere mich, trete ein und sehe ein Paar, das gerade das Bett verlassen hat: Foucault und eine junge Schönheit mit intelligentem Gesichtsausdruck. Beide waren gleich gekleidet, sie trugen einen prachtvollen Kimono (oder vielmehr einen Jukata), den Foucault in zwei Exemplaren aus Tokio mitgebracht hatte. Man fordert mich auf, Platz zu nehmen, und es entwickelt sich eine sehr angenehme Unterhaltung. Dann erhebt sich die Unbekannte, die ein akzentfreies Französisch sprach, und verabschiedet sich. Kaum hatte sich die Eingangstür geschlossen, als sich Foucault, auf seine Grenzüberschreitung stolz wie ein Pfau, mir zuwendet und sagt: "Wir haben die Nacht zusammen verbracht. Ich habe sie auf den Mund geküsst!" Dann teilte er mir noch mit, sie hätten sogar eine Heirat erwogen, aber nur unter der Bedingung, dass Foucault den Namen seiner Frau annehmen könne: "Ich hätte Michel von Bülow heißen können!" Doch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch ließ dies damals nicht zu, und man ahnt, wie sehr ein Verehrer Nietzsches dies bedauert haben muss.

Andere haben besser, als ich es je könnte, von der anderen Seite dieses eleganten Gentleman berichtet, der knallhart war und dessen Mut mehrfach auf die Probe gestellt wurde (so hat er sich einmal an einem tunesischen Strand in eine brennende Schenke gestürzt, um - auch auf die Gefahr hin, durch die Explosion einer Gasflasche zu Schaden zu kommen - den Inhaber zu retten). Normalerweise haben die Intellektuellen keine Angst vor Gefahr, sie haben Angst vor Schlägereien, sagte mein verstorbener Freund Georges Ville, Offizier des militärischen Geheimdienstes, in den Foucault in der rue d'Ulm eine Zeitlang platonisch verliebt war ("Wie muss er bei seinem melancholischen Humor darunter gelitten haben, so schön zu sein!", bemerkte er mir gegenüber). Foucault fürchtete sich nicht vor Schlägereien und erklärte ausdrücklich, dass es "nur physischen Mut" gebe. Mut ist gleichbedeutend mit einem mutigen Körper. Was uns lehrt, dass wir uns anders ausdrücken müssen. Nicht die Arbeit wird ausgebeutet, sondern menschliche Körper. Man schult nicht Zivilisten in militärischer Disziplin, sondern man drillt und trainiert ihre Körper, um Macht über ebendiese Körper auszuüben. Das Gefängnissystem sperrt Körper hinter Gitter.

Dieser Freund der Verfemten hatte die Unbeschwertheit eines Mannes, der bei lebendigem Leib gehäutet worden war; als Opfer eines sexuellen Vorurteils hatte er sich dank seines Stolzes dafür entschieden, sich gegen seine Widersacher zu behaupten und er selbst zu sein. Voller Scham darüber, als Heranwachsender das gefügige Opfer seiner Umgebung gewesen zu sein, wie er mir um das Jahr 1954 gestand, wobei er sich die Worte mühsam abringen musste.

In jenen fernen Zeiten war die Homosexualität an der von 300 jungen Männern besuchten Ecole normale unsichtbar und mit einem absoluten Verbot belegt. Nur Foucault hatte den Mut, am Ende des Studiums seine Wahrheit gegenüber einigen wenigen Schülern und Bewunderern anzudeuten. Damals war er noch ein junger Mann, und voller Bitterkeit und Aggression hatte er sich in seiner Andersartigkeit und seiner Verachtung für die anderen und sich selbst eingerichtet. Sein Außenseitertum hatte er so sehr verinnerlicht, dass er im Jahre 1954 mir gegenüber einmal von "der großen hysterischen Komödie" sprach, als die er die Homosexualität damals betrachtete. Manchmal machte sich sein Unbehagen in rachsüchtigem Hohngelächter über das Schauspiel der Heteros, seinen schweigenden Widersachern, Luft. Zu denen, die die Homosexuellen stigmatisierte, gehörte an vorderster Front die kommunistische Partei, und ein interner Skandal, zu dem es in unserem Kreis in jenen Jahren um 1954 kam, hat uns vor Augen geführt, wie sehr mehrere unserer Kameraden unter diesem Vorurteil zu leiden hatten.

Auch auf die Gefahr hin, ins Anekdotische abzugleiten, möchte ich hier an eine ganz kleine Begebenheit erinnern, die das Ausmaß des Tabus im Jahre 1954 verdeutlicht. Als Foucault erfuhr, dass sich unser studentisches Quartett bei dem oben erwähnten Drama durchaus anständig verhalten hatte, beschloss er, sich nicht im eigentlichen Sinne zu "outen", sondern uns mit Gewalt die Augen zu öffnen. Cocteau, damals "Weggefährte" der kommunistischen Partei, war gerade in die Academie française gewählt worden, und wir bespöttelten den lobenden Artikel, den die Zeitung L?Humanite zu dem Anlass veröffentlicht hatte. Von diesem Artikel kam Foucault ohne Umschweife sogleich auf Cocteau selbst zu sprechen und erklärte plötzlich: "Sie ist völlig verrückt (folle). Auf die Frage: 'Wo werden Sie in diesem Sommer Ihre Ferien verbringen, Maître?' hat sie kokett geantwortet: 'Ich werde Paris nicht verlassen: Ich habe Anproben.'" Mir lief ein Schauder über den Rücken, denn dies war das erste Mal, dass ich mit eigenen Ohren dieses sie hörte, jenes Femininum der Geheimsprache der Hölle, das uns zwang, die Existenz von Verfluchten in unseren Reihen nicht länger zu ignorieren. Das Wort folle war auch nicht mehr die weibliche Form von "fou" (verrückt), sondern ein terminus technicus des Geheimbundes, zu dessen Zugehörigkeit sich Foucault nun offen bekannte. Die Klatschgesellschaft, von der in Marcel Prousts Sodome et Gomorrhe die Rede ist.

Als ich 20 Jahre später Foucault im College de France wiederbegegnete, feixte er nicht mehr und verbreitete auch keine Klatschgeschichten, er hatte gar nichts Hysterisches mehr, sondern war, nach seinen eigenen Worten, zu "einem anständigen Schwulen ohne Probleme" geworden. In seiner Jugend hatte er sich, so erzählte er mir, eine Zeitlang, so wie es damals üblich war, als der große Aufreißer betätigt. "Mit wie vielen Frauen hast du in deinem Leben geschlafen?" wollte er von mir wissen. "Ich habe im ersten Jahr meiner sexuellen Karriere mit 200 Männern geschlafen." Einer, der es wissen muss, versichert mir, dass die Zahl ein wenig übertrieben sei, ähnlich denen des Alten Testaments. Danach folgte eine leidenschaftliche und schmerzhafte Beziehung, die ihm sehr am Herzen gelegen hatte, dann kam die dauerhafte Liebe, die gemeinsam verbrachten Jahrzehnte mit Daniel Defert, mit dem ihn eine tiefe gegenseitige Zuneigung verband.

Gleichwohl hatte während seiner Zeit als junger Gymnasiast, wie er mir ebenfalls erzählte, seine große Leidenschaft nicht den Anfängen seiner Homosexualität gegolten, sondern dem Konsum all der Drogen, die er bei seinem Vater, einem Chirurgen, auftreiben konnte. Er wollte herausfinden, wie diese das Denken veränderten, und sich vergewissern, dass es mehrere Arten des Denkens gab. "Mama, was denkt eigentlich ein Fisch?" fragte er einmal seine Mutter vor einem Aquarium, in dem Goldfische ihre Runden zogen. Das Denken eines Fisches, die Drogen, die Droge, der Wahn - all das war der Beweis dafür, dass unsere gewöhnliche Art des Denkens nicht die einzig mögliche war. Auf diese Weise beginnen philosophische Berufungen.

Was die Homosexualität und die mit ihr verbundenen Leiden betrifft: Offenbar haben sie auf seine besondere Sensibilität "Einfluss genommen", diese vielleicht sogar erst in ihm herausgebildet, eine Sensibilität, die seiner Forschung ihren Stempel aufdrücken und die Beschäftigung mit ganz bestimmten Themen zur Folge haben würde. Nach Auskunft von Didier Eribon hatte er in seinem eigenen Leben früh erfahren, dass die Psychiatrie oder die Psychoanalyse auch Machttechnologien darstellten. Später musste er entdecken, dass der moderne "Sex"-Diskurs die Homosexualität zu einer entscheidenden Komponente der Identität des Individuums machte; einer Identität, die das Individuum anerkennen und zu der es sich nur bekennen konnte, da die Wissenschaft gesprochen hatte und da ihre Erkenntnisse die Macht über die "wahre" Identität jedes Einzelnen besaßen. Daher wurde ein großer Teil von Foucaults intellektueller Energie darauf verwandt, die durch das Wissen über den "Sex" erzwungene Normativität zu bekämpfen und gegen die Auswirkungen der Macht, die dieser Wahrheitsdiskurs induziert, Widerstand zu leisten.

Foucault fand weiterhin Gefallen an Drogen, an Opium und LSD, aber er gab dem nur kontrolliert und im Abstand von mehreren Monaten nach, da die Freude am Schreiben und Arbeiten sowie das Vergnügen, das ihm seine Lehrtätigkeit bereitete, ausreichten, um jeden Exzess zu verhindern. Nach Beendigung der Vorlesungen, die er jedes Jahr in Berkeley hielt (er war gern in den USA, er liebte dieses Land), genehmigte er sich einen LSD-Trip (der einmal beinahe schlecht für ihn ausgegangen wäre) und einen Ausflug in eine Schwulensauna im Homosexuellenghetto von San Francisco, in der er sich weniger sadistisch zeigte, als manche a priori vermutet hätten. Dort hat er sich den Tod geholt. In seinem Büro im College de France hing ein Werbeplakat für diese Sauna, das er, auch als er bereits krank war, nicht von der Wand genommen hatte.

Teil 3