Vorgeblättert

Leseprobe zu Perry Anderson: Nach Atatürk. Teil 1

09.03.2009.
Nach dem Ottomanen

Die bedeutendste Wahrheit, die nach der Wende des Jahres 1989 zutage trat - so schrieb J.G.A. Pocock zwei Jahre später -, "ist es, dass die Grenzen des sogenannten Europa nach Osten hin überall offen und unbestimmt sind. 'Europa' ist, wie man nun sehen kann, nicht ein Kontinent (wie im Traum der antiken Geographen), sondern ein Subkontinent: eine Halbinsel der eurasischen Landmasse. Es ähnelt Indien darin, dass es von einer höchst charakteristischen Gruppierung sich untereinander austauschender Kulturen bewohnt wird, doch es unterscheidet sich von ihm dadurch, dass es keine klar markierte geographische Grenze besitzt. Anstelle von Afghanistan und dem Himalaya erstrecken sich weite, ebene Flächen, auf denen das konventionelle 'Europa' in das konventionelle 'Asien' übergeht, und die meisten Reisenden hier würden den Ural wahrscheinlich nicht wahrnehmen, wenn sie ihn je erreichten."(1)

Aber, so fuhr Pocock fort, für die großen Reiche - zu denen man in
ihrer Art die EU zählen muss - bestand immer die Notwendigkeit, den
Raum ihrer Machtausübung klar zu fixieren und die Grenzen der Angst oder Anziehungskraft ringsumher präzise festzulegen.

Anderthalb Jahrzehnte später hat diese Frage greifbarere Formen angenommen. Nach der Aufnahme aller Staaten des einstigen Comecon-Bereichs sind nur noch die unordentlichen Restbestände der ehemaligen unabhängigen kommunistischen Staaten Jugoslawien und Albanien, die sieben kleinen Staaten des "westlichen Balkan", in die EU zu integrieren. Doch dass das irgendwann geschehen wird, daran zweifelt niemand - hier handelt es sich um eine Nachzüglerzone, die weit hinter jenen Grenzen liegt, die sich bereits bis zum Schwarzen Meer erstrecken. Das große Problem der EU liegt weiter östlich, an einem Punkt, wo kein endloses Steppengebiet das Auge verwirrt, wo jedoch nach einer alten Tradition ein schmaler Wasserstreif zwei Welten trennt. Niemand hat je den Bosporus übersehen. "Jedes Schulkind weiß, dass Kleinasien kein Teil von Europa ist", rief Sarkozy den Wählern auf seinem Weg in den Elyseepalast zu und versprach ihnen, das solle auch so bleiben - eine Zusage, die so verlässlich war wie die Inszenierung einer eigenen Ehe im Wahlkampf. So lässt sich das türkische Problem aber nicht behandeln. Innerhalb der EU herrscht seit geraumer Zeit ein überwältigender Konsens, dass die Türkei uneingeschränktes Mitglied werden solle. Das schließt nicht aus, dass die eine oder andere Regierung gelegentlich noch einmal nachdenklich wird und schier anderen Sinnes werden möchte - Deutschland, Frankreich, Österreich haben alle derartige Bedenken gezeigt -, aber jeglicher politischen Konsequenz solcher Gedanken steht eine hohe Schranke einhelliger Medienmeinung gegenüber. Die Medien sind sich hier in viel höherem Maße einig und befürworten den türkischen Beitritt nachdrücklicher als der Ministerrat oder die Kommission selbst. Hinzu kommt, dass noch niemals ein Land, das als Kandidat für den EU-Beitritt akzeptiert wurde, nach Aufnahme der Verhandlungen am Ende zurückgewiesen worden wäre.

Die Ausdehnung der EU auf das Gebiet des Warschauer Pakts bedurfte keiner großen politischen Verteidigung oder langen Überzeugungsarbeit. Die Länder, um die es ging, waren alle unbestreitbar europäisch, wie immer man den Begriff auch definieren wollte, und sie hatten sämtlich - wie allgemein nur zu gut bekannt - unter dem Kommunismus gelitten. Sie in die EU aufzunehmen, das bedeutete nicht nur, einen alten Riss durch den Kontinent zu heilen, es hieß auch, den Osten für sein Unglück nach 1945 zu entschädigen und das schlechte Gewissen des Westens angesichts der so verschiedenen Schicksale der jeweiligen Regionen zu besänftigen. Die neuen Mitgliedsstaaten bildeten natürlich auch ein strategisches Glacis vor der Grenze zu einem möglicherweise wiedererstarkenden
Russland und boten ein Reservoir billiger Arbeitskräfte in unmittelbarer Nähe. Die in diesen Fällen unbestreitbare Logik lässt sich aber nicht so ohne weiteres auf die Türkei übertragen. Dieses Land ist schon lange eine Marktwirtschaft mit freien Wahlen, es ist eine Säule der NATO und liegt heute weiter von Russland entfernt denn je. Es mag den Anschein haben, als ob nur das zweite der für Osteuropa angeführten Motive, das wirtschaftliche, hier zuträfe - ein nicht unwichtiges Motiv natürlich, aber doch eigentlich nicht geeignet, die hohe Priorität zu erklären, die der Beitritt der Türkei für Brüssel seit längerem hat.

Trotzdem kann man eine gewisse Symmetrie zum Fall Osteuropas in
den Hauptargumenten erkennen, die in den westlichen Hauptstädten für die türkische Mitgliedschaft vorgebracht werden. Der Sturz der Sowjetunion mag die Drohung des Kommunismus beseitigt haben, doch stellt mittlerweile - wie weithin geglaubt wird - der Islamismus eine vergleichbare Gefahr dar. Er ist in den autoritären Staaten des Nahen Ostens ungeheuer stark geworden und droht auf die Immigrantenpopulationen in Westeuropa überzugreifen. Was könnte es hier für eine bessere Prophylaxe geben, als eine robuste muslimische Demokratie in die EU zu holen, die dann als Leuchtturm der liberalen Weltordnung (für eine Region auf verzweifelter Suche nach einem aufgeklärteren politischen Modell) und als Wachtposten gegen jegliche Art von Terrorismus und Extremismus fungieren könnte? Diese Argumentation kommt aus den USA, die weiterreichende globale Verantwortungszusammenhänge kennen als die EU, und sie steht im Vordergrund bei dem fortdauernden amerikanischen Druck, die EU möge die Türkei bald aufnehmen. Ähnlich wie Washington das Tempo für die Osterweiterung in Brüssel vorgab und die Positionslichter für die Rollbahnen setzte, auf denen dann die EU einflog, so hat es die Sache der Türkei schon lange vertreten, ehe Ministerrat oder Kommission soweit waren.

Doch obwohl das strategische Argument - zugunsten eines geopolitischen Bollwerks gegen die falsche Art von Islam - mittlerweile in europäischen Kolumnen und Leitartikeln zum üblichen Bestand gehört, hat es nicht ganz dieselbe Bedeutung wie in Amerika. Dies hängt zum Teil damit zusammen, dass die Vorstellung einer direkten Grenze mit dem Iran und dem Irak vielen innerhalb der EU eher unangenehm ist, wie wachsam sich die türkische Armee auch zeigen mag. Die Amerikaner haben es aus größerer Distanz leichter, hier das Gesamtbild zu sehen. Derartige Bedenken sind aber nicht der einzige Grund, weshalb das geopolitische Thema zwar zentral bleibt, aber in der EU die Diskussion nicht in dem Maße beherrschen kann wie in den USA. Denn hier hat ein anderes Argument ein sozusagen intimeres Gewicht. Die gegenwärtige europäische Ideologie sieht in der Europäischen Union die moralisch und gesellschaftlich höchststehende Ordnung auf der Welt; diese, meint man, verbinde - wenn auch natürlich bei gewissen Unvollkommenheiten - wirtschaftliche Prosperität, politische Freiheit und gesellschaftliche Solidarität in einer Weise, die kein Rivale einholt. Aber besteht nicht gerade wegen des großen Erfolges einer so einzigartigen Schöpfung eine gewisse Gefahr kultureller Selbstzufriedenheit? Riskiert es Europa nicht mit all seinen großen Leistungen, dem Eurozentrismus (schon das Wort ist ein Vorwurf) zu verfallen: eine zu homogene, zu sehr nach innen lickende
Identität zu kultivieren - wo doch die Avantgarde unserer Zivilisation
notwendigerweise multikulturell ist und stetig multikultureller wird?

Die Eingliederung der Türkei in die EU, so heißt es weiter, würde solche Befürchtungen ausräumen. Für die gegenwärtig lebenden Generationen liegt die schwerste Last einer allzu engen, traditionalistischen Auffassung in der umstandslosen Identifikation Europas mit dem Christentum, das die historische Leitlinie des Kontinents abgeben soll. Die größte Herausforderung für dieses christliche Erbe stellte lange der Islam dar. Was also könnte eine triumphalere Demonstration des modernen Multikulturalismus abgeben als die friedliche Vereinigung der beiden Religionen auf staatlicher Ebene und in der Zivilgesellschaft - in einem supereuropäischen System, das sich wie das römische Imperium bis zum Euphrat erstreckt? Dass die Türkei nun zum ersten Mal eine erklärt muslimische Regierung hat, das sollte kein Hindernis sein, sondern im Gegenteil eine Empfehlung für den Beitritt darstellen. Eben dies verspricht jene Umwertung zu einer multikulturellen Lebensform, welche die EU benötigt, um in ihrem konstitutionellen Fortgang den nächsten Schritt zu tun. Und was die türkische Demokratie betrifft, so wird sie - wie die neugegründeten oder wiederbelebten Demokratien des postkommunistischen Ostens auf dem Weg zur Normalität von der Hand der Kommission gestützt wurden - innerhalb der EU gesichert und gekräftigt werden. Wenn die Osterweiterung eine moralische Schuld denen gegenüber abtrug, die unter dem Kommunismus leben mussten, so kann die Aufnahme der Türkei den moralischen Schaden wiedergutmachen, der durch selbstgefällige - oder arrogante - Kirchturmpolitik entstanden ist. Europa verfügt über die Möglichkeiten, ein besserer Ort zu werden.

In derartig selbstkritischer Stimmung werden oft historische Vergleiche gezogen. Das christliche Europa war jahrhundertelang entstellt durch brutale religiöse Intoleranz - mit allen nur erdenklichen Verfolgungen, Inquisitionen, Vertreibungen, Pogromen sollten andere Glaubensgemeinschaften ausgelöscht werden, Juden oder Muslime, von den Ketzern des eigenen Glaubens nicht zu reden. Das osmanische Reich hingegen tolerierte Christen und Juden ohne Unterdrückung und Zwangsbekehrung, es erlaubte ganz verschiedenen Gemeinschaften, friedlich unter muslimischer Herrschaft zusammenzuleben, in einer prämodernen Form multikultureller Harmonie. Diese islamische Ordnung war nicht nur fortschrittlicher als ihr christliches Gegenüber, sie war auch selbst - weit davon entfernt, lediglich als das ferne Andere Europas zu existieren - ein wichtiger Teil des europäischen Mächtegefüges. In dieser Hinsicht ist die Türkei kein Neuankömmling in Europa. Vielmehr würde ihr Betritt zur EU eine Kontinuität der Vermengungen und Berührungen wieder erneuern, von welcher wir noch viel zu lernen haben.

Solcherart geht, grob gesagt, der Diskurs über den EU-Beitritt der
Türkei, wie man ihn in Staatskanzleien und Internet-Chatrooms, gelehrten Journalen und Talkshows in ganz Europa hören kann. Eine seiner großen Stärken ist es, dass es zu ihm bis jetzt keinerlei Alternative gäbe, die nicht xenophoben Charakter hätte. Seine Schwäche liegt in der Naivität des Bilderbogens, aus dessen handkolorierten Figurinen er bei genauem Hinsehen zusammengefügt ist - es sind dies Bilder, welche eher verdecken, worum es beim Beitrittsversuch der Türkei tatsächlich geht. Jede Abwägung dieser Fragen muss unbedingt mit dem osmanischen Reich beginnen. Denn der erste und grundsätzlichste Unterschied zwischen dem türkischen Kandidaten und all den osteuropäischen Beitrittsländern liegt darin, dass die EU es hier mit dem Abkömmling eines imperialen Staates zu tun hat, der lange Zeit eine weit größere Macht darstellte als irgendein
Königreich des Westens. Um diese Abkunft zu begreifen, ist ein realistisches Verständnis der Ursprungsform jenes Reiches notwendig.

Teil 2