Vorgeblättert

Leseprobe zu Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle. Teil 1

11.02.2013.
Einleitung

»Was ist das?«
     Sechs dunkle Augenpaare starrten mich an. Vielmehr nicht mich, sondern einen kurzen lilafarbenen Stab in meiner Hand.
     »Das ist ein Vibrator«, antwortete ich auf Englisch und zermarterte mir das Hirn nach dem richtigen arabischen Wort. »Ein Ding, das sich sehr schnell dreht«, fiel mir ein. Da diese Beschreibung aber auch auf einen Handmixer zutrifft, beschloss ich, bei meiner Muttersprache zu bleiben, um der zunehmenden Verwirrung, die ich in dem Raum spüren konnte, entgegenzutreten.
     Eine der Frauen, die es sich auf einem Divan neben mir gemütlich machte, begann ihren Hijab abzustecken, worauf das schwarze Haar wie in einer Kaskade ihren Rücken herabfiel, während sie das Kopftuch sorgfältig zur Seite legte. »Was tut dieses Ding?«, fragte sie.
     »Nun, es vibriert«, antwortete ich. Ich nippte an meinem Minztee und biss in ein Stück siruptriefendes Baklava, um mir vor der unvermeidlichen Nachfrage eine kurze Atempause zu verschaffen.
     »Aber wozu?«
     Wie es dazu kam, dass ich bei einem morgendlichen Kaffeeklatsch von Hausfrauen in Kairo Sextoys vorführte, ist eine lange Geschichte. In den letzten fünf Jahren habe ich viele Länder der arabischen Welt bereist und Menschen Fragen rund um das Thema Sex gestellt: Was sie selbst tun, was sie nicht tun, was sie über Sexualität denken und warum. Je nach Sichtweise mag sich dies nach einem Traumjob oder aber nach einer recht anrüchigen Beschäftigung anhören. Für mich ist es etwas völlig anderes: Sex ist die Linse, durch die ich die Vergangenheit und Gegenwart eines Teils der Welt betrachte und analysiere, über den so viel geschrieben und der zugleich noch immer so wenig verstanden wird.
     Zugegeben: Angesichts der spektakulären Volksaufstände überall in der arabischen Welt seit dem Jahr 2010, bei denen einige der Regime, die besonders fest im Sattel zu sitzen schienen - Ägypten, Libyen, Tunesien und Jemen in vorderster Reihe -, hinweggefegt und andere aufgerüttelt wurden, mag Sex als eine etwas eigenartige Themenwahl erscheinen. Einige Beobachter gingen jedoch sogar so weit zu behaupten, die Proteste seien überhaupt erst von der starken sexuellen Energie der Jugend entfacht worden. Ich bin da nicht so sicher. Obwohl ich Ägypter oft sagen hörte, ihre Landsleute verbrächten 99,9 Prozent ihrer Zeit damit, an Sex zu denken, waren in den stürmischen Tagen Anfang 2011 Liebesspiele ausnahmsweise mal das, was die Menschen am wenigsten interessierte.
     Trotzdem glaube ich nicht, dass Sex völlig in den Hintergrund getreten war. Sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen sind eng mit Religion, Tradition, Kultur, Politik und Ökonomie verknüpft. Diese sind ein integraler Bestandteil der Sexualität - das heißt des Sexualaktes und all dessen, was damit zusammenhängt, einschließlich Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung, Lust und Intimität, Erotik und Fortpflanzung. Als solche ist die Sexualität ein Spiegel der Verhältnisse, die zu den Volksaufständen führten, und an ihr wird sich ablesen lassen, wie die hart errungenen Reformen in den kommenden Jahren voranschreiten. In seinen Reflexionen über die Geschichte des Abendlandes bezeichnete der französische Philosoph Michel Foucault die Sexualität als einen »besonders dichte[n] Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Eltern und Nachkommenschaft, zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Priestern und Laien, zwischen Verwaltungen und Bevölkerungen«. Das Gleiche gilt für die arabische Welt: Wenn Sie ein Volk wirklich verstehen wollen, beginnen Sie damit, dass Sie einen Blick in seine Schlafzimmer werfen.
     Ohne die Ereignisse vom 11. September 2001 hätte ich diese Tür vielleicht nie aufgemacht. In dem Jahr, in dem die Welt aus den Fugen geriet, arbeitete ich bei dem britischen Wirtschaftsmagazin The Economist. Bevor ich Journalistin wurde, hatte ich Immunologie studiert, und als Redakteurin für Gesundheit und Naturwissenschaften war ich weit weg von den großen politischen Debatten der Zeit. Ohne direkt involviert zu sein, hatte ich die Chance, mich zurückzulehnen und meinen Kollegen dabei zuzusehen, wie sie sich mit den Komplexitäten der arabischen Welt herumschlugen. Ich sah, wie ihr fester Glaube an die angloamerikanische Macht und ihr Überschwang in dem anfänglichen Nachglanz des Irakkriegs nach und nach Zweifeln und schließlich Fassungslosigkeit wichen. Warum begrüßten die Iraker diese neue Weltordnung nicht mit offenen Armen? Weshalb folgten sie nur selten dem Drehbuch, das in Washington und London geschrieben wurde? Weshalb entsprach ihr Verhalten in keiner Weise den Erwartungen des Westens? Kurzum: Wie tickten sie?
     Das sind für mich keine Fragen der Geopolitik oder der Anthropologie; vielmehr geht es hier um meine persönliche Identität. Die arabische Welt liegt mir im Blut: Mein Vater ist Ägypter, und durch ihn erstrecken sich die Wurzeln meiner Familie von der Betonlandschaft Kairos bis zu den Baumwollfeldern tief im Nildelta. Meine Mutter stammt aus einem fernen grünen Tal - einem ehemaligen Bergarbeiterdorf in Südwales. Dies macht mich zur Halbägypterin, obgleich die meisten Menschen in der arabischen Welt den Kopf schütteln, wenn ich ihnen das sage. Sie sehen darin nichts »Halbes«; da mein Vater ein hundertprozentiger Ägypter ist, bin ich es auch. Und weil er Muslim ist, bin auch ich als Muslima geboren. Die Familie meiner Mutter ist christlich: Mein Großvater mütterlicherseits war ein baptistischer Laienprediger, und mein Onkel brachte es - in einem Sprung anglikanischer Aufwärtsmobilität - sogar zum Vikar der Church of Wales. Meine Mutter konvertierte jedoch zum Islam, als sie meinen Vater heiratete. Sie hätte es nicht tun müssen; muslimische Männer dürfen ahl al-kitab (»Leute des Buches«) heiraten, zu denen auch Juden und Christen zählen. Meine Mutter wurde aus Überzeugung, nicht durch äußeren Zwang, zur Muslimin.
     Ich wurde in England geboren und wuchs in Kanada auf, lange bevor »Muslime im Westen« ein Thema war. Auf der Schule und an der Uni gab es ein paar Muslime, aber ich habe nie besonders viel darüber nachgedacht. Andererseits wuchs ich auch nur mit einer Prise Islam in einem ansonsten westlichen Lebensstil heran: Ich machte einen Bogen um Schweinefleisch und Alkohol und lernte al-Fatiha - die Eröffnungssure des Korans - auswendig, die mich meine Eltern vor unseren sehr britischen Sonntagsessen aufsagen ließen. Als die einzigen Muslime in der Straße waren wir immer die Ersten, die weihnachtliche Lichterketten anbrachten, und Ostern verging nie ohne ein Nest mit Schokoeiern.
     Was Ägypten anlangt, so besuchten wir jedes Jahr meine Großmutter Nuna Aziza und den großen Kreis von Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen. Wir fielen aus dem Rahmen: Meine Mutter war die einzige khawagayya - ägyptisches Arabisch für »westliche Frau« -, die in die Familie eingeheiratet hatte, und in meiner Kindheit waren wir die einzigen Familienmitglieder, die außerhalb Ägyptens lebten. Dank des Ansehens meines Vaters als ältester Sohn und meiner eigenen exotischen Abstammung aalte ich mich im Rampenlicht. Die Wohnung meiner nuna war ein regelrechter Gedenkschrein für den winzigen Zweig der Familie im Exil; zwischen Plastikpflanzen und Petit-Point-Bildern mit Possen treibenden Schäfern und schamhaften Jungfern steckten unsere Fotos auf Kaffee- und Wandtischchen, deren vergoldete Zierbeine für das ganze Gewicht der großmütterlichen Zuneigung zu schwach zu sein schienen. Mit zunehmendem Alter begann ich, Ägypten zu lieben und den Islam zu respektieren, aber ich dachte nie daran, hinter die Oberfläche zu blicken.
     In Kanada kritisierten viele der ägyptischen Freunde meines Vaters seine Entscheidung, sein einziges Kind nicht strenger im Glauben zu erziehen. Weder brachte man mir salat bei, das muslimische Gebetsritual, noch lernte ich Arabisch. Nicht aus mangelnder Überzeugung meines Vaters. Er ist ein frommer Muslim, der fünfmal am Tag betet und jeden Morgen den Koran aus dem Gedächtnis rezitiert; er ist ein Haddsch, ein Mann, der die Pilgerfahrt in die heiligen Städte Mekka und Medina unternommen hat; in jedem Ramadan hält er penibel das Fastengebot ein, und er zahlt immer die Zakat, das Almosen für die Armen. Mein Vater sah jedoch, wie seine Freunde den Islam und ihre eigene arabische Erziehung ihren Kindern - insbesondere ihren Töchtern - aufdrängten, wie um sie gegen die vermeintlichen Übel des Westens zu immunisieren. Doch oftmals sahen die Kinder in dem, worin diese Eltern eine Gefahr erkannten, eine großartige Gelegenheit, und viele wandten sich von einem religiösen und kulturellen Erbe ab, das ihnen als eine starke Medizin in zu hoher Dosierung erschien. Meine Eltern dagegen gaben mir die Freiheit, mich zu meinen eigenen Bedingungen und dem mir geeignet erscheinenden Zeitpunkt meiner Religion und meinen Wurzeln zuzuwenden.
     Dieser Zeitpunkt kam nach dem 11. September 2001. Wie so viele andere, die einen Spagat zwischen Ost und West versuchen, sah ich mich gezwungen, mich eingehender mit meiner Herkunft zu beschäftigen. Dass ich Sexualität als meine Linse auswählte, ist ungewöhnlich, aber angesichts meines beruflichen Werdegangs nachvollziehbar. Als Redakteurin beim Economist schrieb ich unter anderem über Aids, und dazu gehörte auch die betrübliche Aufgabe, über den Stand der globalen Epidemie zu berichten. Jedes Jahr publiziert UNAIDS, die für die Datenerhebung und Politikkoordinierung im Bereich Aidsbekämpfung zuständige UN-Organisation, einen aktuellen Bericht voller beängstigender Statistiken über HIV-Infektionen. Bemerkenswert fand ich allerdings nicht die sehr hohen Zahlen für Sub-Sahara-Afrika, Osteuropa und Asien, sondern die verschwindend geringen Zahlen im arabischen Raum, die nur einem Bruchteil der Infektionsraten in anderen Regionen der Welt entsprachen. Wie konnte in einem Zeitalter der Massenmigration und -mobilität ein Teil der Welt scheinbar immun gegen HIV bleiben? War es möglich, dass Menschen in der arabischen Region einfach keine risikobehafteten Verhaltensweisen praktizierten - keine gemeinsame Nutzung von Injektionsnadeln, kein Gebrauch HIV-verseuchter Blutkonserven und kein ungeschützter Sex?

Teil 2