Vorgeblättert

Leseprobe zu Thor Vilhjalmsson: Morgengebet. Teil 1

27.06.2011.
Ein Junge auf dem Berg (1208)

Der Junge wanderte zum Berg. Nebelfetzen oben auf den Graten. Im Sprühregen erwachten Steine mit Flechten zum Leben und sprachen zu ihm in neuerwachten, lebhaften Bildern. In der Mitternachtsdämmerung.
     Noch waren die Nächte hell, nur gegen Mitternacht wurde es dunkler.
     Der Hang stieg zuerst sanft an, höckerig mit buntscheckigen Zeichen der Flechten auf geschliffenen Steinen, zum größten Teil im Boden vergraben; Ablagerungen ausgetrockneter Bäche, Moos und Gras und Klee, Glockenblumen und Grasnelken. Aber plötzlich wurde das Gelände steiler. Er stieg hinauf auf das Plateau beim ersten Basaltgürtel und erkletterte einen Absatz, setzte sich auf einen Moosbuckel und schaute über die dunkle Siedlung. Er sah den Hang gegenüber von weißem Nebel erleuchtet, der den Berg um die Hälfte verkleinerte, sich dann aber schnell abnehmend in Dampf auflöste, über Schluchten und Burgen und Geröllhalden mit grünen Senken und Graszungen und Bachbetten, Mooren und Buschwerk. Doch bildete er sich neu am Fuß der Berge über dem grauen Fluss, der mit seinen Verzweigungen und Nebenarmen breit über die flachen Ebenen dahinströmte, und bedeckte die Mitte des Tals bis zum Moor mit dem Teichauge, das der Himmel neulich abends in reines Gold verwandelt hatte.
     Aber jetzt war es verblasst im graudumpfen Moor unter dem schweren Nachthimmel im vorgerückten Sommer.
     Er saß auf seinem Felsenstuhl und schaute hinauf zum Berg über sich, auf die Formen, welche die Felsen annahmen, bewohnt von Ungeheuern, die sich eifrig dem Fressen hingaben bei diesem tückischen Ringen.
     Die Höfe unten schienen wieder in das Land zu versinken, das sie hervorgebracht hatte. Er glaubte, auf dem heimischen Hof einen Lichtschein flackern zu sehen, als schwenkte jemand eine Laterne und sähe sich um. Aber er hörte nichts, auch wenn jemand gerufen hätte. Alles war still, doch war ihm, als hörte er einen Vogel mit den Flügeln schlagen, sah aber keine Spur in seiner Nähe. Nur das Land ganz nahebei pulsierte in seiner totalen Stille; während der Nebel über das nächste Felsenband schwebte und das verhüllte, was weiter oben war, die Burgen dort aber sichtbar ließ, als umflösse er sie.
     Er saß auf seinem Hochsitz, weit entfernt von denen, die unten wohnten. Er vermutete, dass man ihn jetzt bald vermissen würde, und kostete seine Rache aus. Dann zog ihn die Magie des Berges weiter nach oben, wo es noch steiler war, und er erklomm den Felsenvorsprung, als er ihn erreichte, und gelangte zur nächsten Stufe. Der Nebel wich und machte unter dem weißen Strom einen anderen Felsvorsprung darüber sichtbar. Er drehte sich auf den Bauch und schaute den Berg hinauf und betrachtete das Geröll um sich, das sein Aussehen langsam veränderte, und schaute lange auf die grobgehauenen Steine in der Felsenburg schräg oberhalb seines Mooslagers.
     Er sah dort verschiedene archaische Gespenster aus dem Geröll emporwachsen, mit Sagaglück für ihn. Aber plötzlich war es, als erstarrte das Schauspiel. Ihm schien nichts Geringeres, als sähe er dort im Felsen die gealterte Erscheinung seines Vaters Sighvatur, an den Felsen gefesselt, mit traurigem Gesichtsausdruck. Und sein schmales Gesicht, das von den wechselnden Schatten der Nacht in einem Hexengebräu in die Länge gezogen wurde, faszinierte ihn und weckte in ihm zugleich eine Furcht, die ihn trieb, den Zauber zu brechen und den Berg hinab nach Hause zu eilen.
     Er beeilte sich, soweit es die Steilheit und die Helligkeit erlaubten, denn er fürchtete sich nun vor dem Zorn und der Sorge seines Vaters, und als der Steilhang zu Ende war, hastete er noch schneller.
     Es war, als verfolge ihn das Bild seines Vaters im Geröll auf den Felsen, und er wagte nicht sich umzusehen. Als er es endlich tat, war das Bild verschwunden; und der Nebel wütete heftiger und beeilte sich, Burg um Burg vom Berg abzufeilen, wischte in weißer Raserei die Felsenmauern weg, die den Berg aufschichteten. Nun war ihm, als sähe er ein Schloss auf dem Meeresgrund über sich. Und wenn er auch das Bild seines Vaters nicht mehr sah, tobte doch der Schrecken in seinem Inneren. Der Rachegedanke schwand, der ihn ins Nachtdunkel hinausgelockt hatte, um sich an seinem Vater für einen Spott zu rächen, den zu ertragen er sich nie gewöhnen konnte. Erneut befiel ihn Furcht, seine verdammte Unbedachtheit könnte seinen Vater in die Felswand getrieben haben.
     Am Anfang der Hauswiese begegnete er einem Mann, der ins Dunkel hinausspähte, und als er näher kam, sah er, dass die Haare seines Vaters und sein Bart feucht waren, und er wusste nicht, ob die Tropfen in seinem Gesicht Schweiß waren oder vom feuchten Nebel stammten.
     Sein Vater sagte nichts. Er legte dem Jungen die Hand auf den Scheitel, den kleinen Finger in der Nackengrube, und geleitete ihn heim.
     Er war neun Jahre alt.


Ziehbrüder (1212)

Zwei Jungen gingen alle Wege gemeinsam.
     Wenn der eine etwas sah, dann schien es ihm nicht richtig gesehen, bevor er es dem anderen gezeigt hatte. Manchmal lagen sie auf der Heide und waren auf sattellosen Pferden geritten, die sie auf der Weide gefunden hatten, und sie flochten ihnen Zügel und galoppierten im Überschwang ihrer Träume, in denen die Blutsbrüder Länder und Prinzessinnen eroberten und jeder von ihnen mit Hilfe des anderen ein halbes Königreich gewann, und sie würden dem anderen helfen, sollte man sein Reich angreifen; sie lagen auf der Heide und betrachteten den Flug der Wolken und bauten sich dort ihre Schlösser.
     Sie hatten die Pferde gehütet, während die Türme auf den Traumschlössern zu glühen begannen, als die Sonne sie bestrich, aber die Wolken segelten über die Gipfel und ihre Schatten wanderten die Hänge entlang.
     Das Heu war eingefahren worden. Und sie erprobten ihre Stärke an den Ballen und lachten einander zu, wenn der eine den schweren Ballen nahm, sich ein Herz fasste und ihn hochhob, ohne Hilfe seines Freundes. Sie pflückten die blauen Beeren in ihren Mund, und ihre Träume nahmen die Gestalt einer zusammengereimten Geschichte an.
     Manchmal waren sie sich nicht einig, wer von ihnen die blonde Prinzessin und wer die dunkle, geheimnisvolle mit den grünen Augen hatte, die so unerwartet aufleuchteten, wenn sie alle auf dem Tanzboden in der Waldlichtung zusammentrafen, und die Harfe wurde geschlagen, begleitet vom Gesang der Vögel und schönen großen Schmetterlingen mit Farben, die gut zu dem Blatt dort - "schau nur!" - gepasst hätten, das schon so rot geworden war. Und dann hatte der andere die Prinzessin mit den hellen blauen Augen und den Locken, die sie fast ganz umhüllten. Und sie sahen das zusammen vor sich, bis sie aufsprangen; und sie schwangen sich auf die Rücken der Pferde und galoppierten hinunter zum Fluss und zu dem Kolk, den sie kannten und von dem sie wussten, dass man dort immer Forellen finden konnte, und sie sagten keinem anderen, woher sie ihren Fang hatten.
     Und wäre der eine traurig, könnte der andere mit ihm schweigen, bis die Zeit gekommen war, sich auszusprechen.
     Sie kämpften mit Schwertern, die sie sich selbst gemacht hatten, und schnitzten sich Schilde und waren Helden, die es mit einer vielfachen Menge aufnahmen und nie besiegt wurden, denn wenn es ganz schlimm kam, stellten sie sich mit dem Rücken gegeneinander und waren unüberwindbar. Und manchmal waren sie allein gegen die ganze Welt. Sie spielten Grettir und Illugi, der am Ende seine verdiente Rolle im heldenhaften Kampf zusammen mit seinem Bruder erhielt, und er wuchs an dieser Aufgabe, bis man nicht mehr unterscheiden konnte, wer von beiden stärker war, und sie teilten die Rollen untereinander auf, besonders, wenn man sich gegen Riesen abmühen musste, und gegen Hexen, die heimtückisch aus Wasserfällen auftauchten.
     Ein anderes Mal waren es Kjartan Olafsson und Bolli, und sie warfen das Los, wer Kjartan sein sollte mit seinem Schwur, niemals sollte es so weit mit ihnen kommen, dass eine Frau das Verhältnis der Ziehbrüder zerstörte.
     Und wenn sie Kjartan und Bolli waren, dann gab es keine Ungeheuer und Gespenster, sondern vielleicht einen Drachen, und zwar einen gefährlichen und schwerbesiegbaren Drachen, wegen der Fähigkeit, die er besaß, Feuer zu spucken, vor dem man sich hüten und seinen Verstand umso mehr gebrauchen musste, und er begann vielleicht als Strandmonster in der Spätsommerdämmerung oder am Abend, und dann war es besser, zu zweit zu sein und einander nicht nachzustehen an unfehlbarem Mut, und Helden ohne Fehl, das waren sie beide, zusammen.

zu Teil 2

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