Vorgeblättert

Leseprobe zu Unda Hörner: Berliner Luft - Pariser Leben. Teil 2

12.07.2012.
Die Berliner Kanalisation ist als Touristenattraktion nicht weiter erschlossen, feuchte Katakomben sind hier nicht zu besichtigen. Doch wer eine Kulturveranstaltung im Radialsystem V in der Holzmarktstraße nahe dem Spreeufer besucht, befindet sich in einem der insgesamt zwölf ehemaligen Abwasserpumpwerke, deren Bau der 'Baron Haussmann von Berlin', James Friedrich Ludolph Hobrecht veranlasste. Ebenso wie Paris platzte Berlin Mitte des 19. Jahrhunderts aus allen Nähten, und als Chefingenieur und später als Baustadtrat sorgte Hobrecht für viele Jahre, zwischen 1861 und 1897, für die zeitgemäße Umgestaltung Berlins, wenngleich er auch nicht annähernd so radikal vorging wie der Pariser Amtskollege. Der 'Hobrecht-Plan' von 1862 griff weniger in den Körper der alten Stadt ein; er sorgte vielmehr für ihre Anbindung ans Umland durch die großen Ausfallstraßen, die von Mitte aus dem Zentrum hinausführen: Brunnenstraße, Schönhauser und Prenzlauer Allee, Greifswalder Straße, Landsberger und Frankfurter Allee. Hobrecht ließ auch die Ost-West-Achse zwischen Charlottenburg über Schöneberg nach Kreuzberg zur breiten Durchfahrtsschneise ausbauen, so als hätte er vorausgesehen, dass sie den Autoverkehr künftiger Generationen würde aufnehmen müssen - der so genannte 'Generalszug' ist übrigens nach den an den Befreiungskriegen gegen Napoleon beteiligten Generälen benannt, darunter Blücher, Bülow und Goeben. Ist es ein Zufall, dass unter Haussmann an der Peripherie von Paris der 'Boulevard des Maréchaux' entstand, dessen Abschnitte nach Napoleons Feldherren benannt wurden? Natürlich orientierte sich Hobrecht an Haussmann, doch der Ingenieur, der sein Examen 1849 als Bauführer an der Schinkelschen Bauakademie gemacht hatte, folgte ebenso der Tradition seines Altvorderen, Karl Friedrich Schinkel, der 1841 verstorben war. Der Hobrechtplan nämlich nahm die ursprünglich von Schinkel stammende Idee auf, Berlins Sichtachsen mit prominenten Baudenkmälern zu schmücken. Die Kaiser-Wilhelm-Kirche etwa ist weithin sichtbarer Ausdruck dieser Idee. Dort, wo die Ruine mit den Gebäuden von Egon Eiermann heute als Gedächtniskirche an die Zerstörung Berlins im Zweiten Weltkrieg erinnert, stand sie seit 1895 als Abschluss von Kant- und Hardenbergstraße in all ihrem gründerzeitlichen Bombast.
     Hobrechts umfassende Maßnahmen wären ohne die politischen Voraussetzungen nicht durchsetzbar gewesen. Sein Bruder Arthur Hobrecht (1824-1912) war seit 1872 Berliner Oberbürgermeister und wollte die Stadt "zur saubersten Europas" machen. Schwer wog auch die Stimme eines anderen einflussreichen Mannes: Rudolf Ludwig Karl Virchow. Wie Hobrecht war auch er ein Bauernsohn aus dem Osten - Hobrecht war 1825 im litauischen Memel, heute Klaipeda, geboren, Virchow 1821 im pommerschen Schivelbein. Er hatte am Berliner Friedrich-Wilhelm-Institut Medizin studiert und 1856 die Leitung der Pathologie an der Berliner Charité übernommen. Der Arzt engagierte sich politisch, brachte es zum Stadtverordneten, war 1861 Mitbegründer der linksliberalen deutschen Fortschrittspartei und setzte sich für mehr Hygiene im Krankenhauswesen ein. Zwischen 1861 und 1868 leitete er die Deputiertenversammlung zur Planung und zum Bau der Kanalisation Berlins und der Rieselfelder. In einem Gutachten schrieb Virchow: "Staat und Stadt erhalten ihren Wert nur durch die Menschen und ihre Arbeit. Aller Reichtum, alle Bedeutung der Stadt wie des Staates beruht in letzter Instanz auf der Tätigkeit ihrer Bewohner. Kann es daher einen größeren Verlust geben als den Verlust an Menschenleben? Man braucht sich gar nicht auf den humanen oder christlichen Standpunkt zu stellen, rein volkswirtschaftlich betrachtet, sind Krankheit und Tod für die Familie wie für die Gemeinde und den Staat Unglücksfälle. [...] Der Staat, welcher die allgemeine Bildung anstrebt, sollte auch die allgemeine Gesundheit anstreben. Erst Gesundheit, dann Bildung. Kein Geld ist rentabler angelegt als dasjenige, welches für die Gesundheit aufgewendet wird."
     In unterirdischen gemauerten Kanälen gelangten Regen- und Abwässer zu jeweils einer Pumpstation. Die Schaltstellen der zwölf Radialsysteme, untergebracht in prächtigen Bauwerken aus Backstein, die ab 1870 in rascher Folge entstanden, pumpten das Abwasser über Druckleitungen zu den gleichfalls neu angelegten Rieselfeldern weit außerhalb der Stadt, wo das Wasser gefiltert, geklärt und wieder nutzbar gemacht wurde. Nahe Königs Wusterhausen im Südosten Berlins kann man auf großen, heute teilweise renaturierten Feldern noch die tiefen Gräben erkennen, in denen das Wasser einstmals versickerte.
     Bald schon galt die Hauptstadt als vorbildlich in Sachen Hygiene, und Hobrechts Ruf eilte ihm weit über die deutschen Grenzen voraus: Als Berater kam er weit herum, bis nach Moskau, Tokio und nach Kairo. Zu den Hygienemaßnahmen gehörte auch der Bau von Markthallen, in denen Lebensmittel gesundheitlich unbedenklich gelagert werden konnten. Neue Grünanlagen in jedem Kiez waren dazu gedacht, den Stadtbewohnern den Aufenthalt an Licht und Luft zu ermöglichen. Und das war auch bitter nötig, denn bald machte das Wort vom 'Mietskasernenelend' die Runde. Die vierstöckigen Wohnhäuser, die zeitgleich in den Straßenrastern zwischen den breiten Achsen entstanden, waren gut gemeint als Maßnahme gegen die Ausbreitung von Slums und Buden, doch wurden gerade sie zum Brennpunkt sozialen Elends. Die Investoren scherten sich nicht um Licht und Luft und Volkshygiene und bebauten ein Grundstück so dicht wie möglich. Die vorgeschriebene Mindestgröße der Innenhöfe etwa beschränkte sich auf rund 25 Quadratmeter, die Fläche, die eine Feuerwehrspritze zum Wenden benötigte. Heinrich Zille, dessen Zeichnungen mit einem Anflug von Sozialromantik von den beklagenswerten Zuständen im 'Miljöh' erzählen, prägte das Wort: "Eine Wohnung kann einen Menschen erschlagen wie eine Axt." Walter Benjamin führt diese Bauweise der effizienten Bodenausnutzung schon auf Friedrich den Großen zurück: "Statt nämlich, wie sein Vater, die Hauptstadt in waagerechter Richtung zu vergrößern, erweiterte er sie nach oben senkrecht in die Luft, statt in die Ebene. Er nahm sich dabei Paris zum Vorbild. Das war aber unberechtigt. Paris war eine Festung, die Stadt konnte sich über die Zone der Forts und Bastione nicht ausdehnen, und da sie als größte Europas damals schon 150.000 Einwohner hatte, konnten sich die Pariser nicht anders helfen als durch den Bau vielstöckiger Gebäude."
     Zu dem Zeitpunkt, als Hobrecht den Bau der Radialsysteme in Angriff nahm, war sein Pariser Kollege schon nicht mehr im Amt. Haussmann musste nach der Abdankung Napoleons III und der Gründung der Dritten Republik 1870 seinen Posten räumen. Man warf ihm vor, sich im Zuge des Stadtumbaus durch Beteiligungen an öffentlichen Ausschreibungen bereichert zu haben, konnte ihm jedoch keinen Gesetzesbruch nachweisen. Als Haussmann im Januar 1891 recht vermögend starb, hinterließ er der Stadt Paris einen Berg Schulden, der erst im Jahr 1929 vollständig abgetragen war. James Hobrecht starb am 8. September 1902, nur drei Tage nach Rudolf Virchow. Beide Männer hinterließen eine Stadt, die sie zu weiten Teilen geprägt hatten. 'Das Virchow' ist allen Berlinern als Klinik ein Begriff. 1908 wurde ein Rieselgut bei Zepernick Hobrechtsfelde genannt. Die älteste von Hobrechts Pumpstationen aus dem Jahr 1876 steht am Schöneberger Ufer des Landwehrkanals. Eine Gedenktafel erinnert hier an den Neuerer.

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Mit freundlicher Genehmigung der edition ebersbach
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