Vorgeblättert

Leseprobe zu Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums. Teil 1

10.02.2014.
1

Der Krieg trat nicht mit Raketenangriffen oder Bomben in die Welt meiner Kindheit, sondern mit dem Schritt meines Vaters, der auf dem Weg ins Schlafzimmer im Flur an meinem Zimmer vorbeiging. Ich hörte, wie die Tür sich leise öffnete und wieder schloss. Vor­sichtig, um Radana in ihrer Wiege nicht zu wecken, schlüpfte ich aus dem Bett und schlich aus dem Zimmer. Ich drückte mein Ohr an die Tür und lauschte.
"Ist alles in Ordnung?" Mama klang besorgt.
Jeden Tag machte Papa vor Sonnenaufgang einen Spaziergang, ­allein, und wenn er etwa eine Stunde später wieder nach Hause kam, brachte er die Bilder und Geräusche der Stadt mit, aus denen dann jene Gedichte entstanden, die er mir laut vorlas. An diesem Morgen schien er allerdings schon zurück zu sein, bevor er das Haus überhaupt verlassen hatte, denn die Morgendämmerung brach gerade erst an, und das Gefühl von Nacht war noch nicht recht verflogen. Stille haftete jedem seiner Schritte an wie das Überbleibsel eines Traums, wenn man schon einige Zeit wach ist. Ich malte mir aus, wie er jetzt mit geschlossenen Augen neben Mama lag und ihrer Stimme lauschte, die tröstlich einwirkte auf die in ihm tobenden Gedanken.
"Was ist passiert?"
"Nichts, mein Schatz", sagte Papa.
"Was ist denn los?", insistierte sie.
Ein tiefer, langer Seufzer, dann sagte er schließlich: "Die Straßen sind voller Menschen, Aana. Ohne Dach über dem Kopf, hungrig, verzweifelt …" Er hielt inne, das Bett quietschte, und ich sah beinahe vor mir, wie er ihr das Gesicht zuwandte und ihrer beider Wangen auf demselben breiten Kissen lagen, wie ich es schon oft beobachtet hatte. "So viel Elend -"
"So schrecklich es draußen auch sein mag", unterbrach ihn Mutter sanft, "ich weiß, du passt auf uns auf."
Atemlose Stille. Ich stellte mir vor, wie sie ihre Lippen auf seine presste, und wurde rot.
"Schau!", rief sie, und die Unbekümmertheit kehrte in ihre Stimme zurück. Dann wurden die Fensterläden aufgestoßen, und es klang, als würden hölzerne Vögel befreit und flögen rasch davon. "Strahlende Sonne!", schwärmte sie, und mit einem sorglosen "Da ist nichts" Richtung Haustor scheuchte sie die morgendliche Schwere davon, die sich in Papas Schulter gekrallt hatte wie eine streunende Katze.
Ein Lichtstrahl traf auf die Fassade des Hauses, glitt über den Balkon und überflutete den Korridor. Ich stellte mir vor, es sei ein kosmischer Teppich, den ein unachtsamer Tevoda, ein Engel, vom Himmel geworfen hatte. Ich rannte darauf zu, meine Schritte unbelastet von der Gehschiene und den Schuhen, die ich normalerweise trug, um mein verkürztes rechtes Bein auszugleichen.
Draußen schimmerte die Sonne durch das üppige Laub des Innenhofs. Sie gähnte und räkelte sich wie eine kindliche Gottheit, die ihre vielen langen Arme durch die Blätter und Äste streckt. Es war April, Ende der Trockenzeit, und bald schon würde der Monsun kommen und uns mit seinem Regen von der feuchten Hitze befreien. Noch war es heiß und stickig im Haus wie im Inneren eines Luftballons. Ich war klatschnass vor Schweiß. Aber immerhin, Neujahr stand vor der Tür, und nach allem Warten und der ewigen Grübelei würde es endlich mal wieder ein Fest geben.
"Hopp, hopp, hopp!", zeterte jemand vom Kochpavillon. Es war Om Bao, ihre Stimme so imposant wie ihre gesamte Erscheinung, die einem überprallen leinenen Reissack glich.
"Hoch mit euren faulen Köpfen!", drängte sie beharrlich. "Auf, auf, auf!"
Ich rannte um den Balkon zur anderen Seite des Hauses und sah, wie sie zwischen dem unteren Frauenhaus und dem Kochpavillon hin und her walzte und ihre Sandalen ungeduldig auf den Boden schnalzten. "Wascht euch das Gesicht, und putzt euch die Zähne", befahl sie und scheuchte ein paar verschlafene Dienstmädchen klatschend zu den Lehmtrögen vor dem Kochpavillon. "Husch, nun aber hurtig, die Sonne ist aufgegangen, und auch ihr solltet eure Hinterteile in Bewegung setzen." Sie gab einem der Mädchen einen Klaps auf den Po. "Du wirst noch das letzte Tigergebrüll und den ersten Hopser des Hasen verpassen!"
Tiger und Hase waren Mondjahre, das eine endete, und das andere begann. Bei den Khmer wird Neujahr stets im April gefeiert, und in diesem Jahr - 1975 - fiel es auf den siebzehnten, das war in wenigen Tagen. Bei uns zu Hause begannen die Vorbereitungen für die buddhistischen Zeremonien und Gartenfeste während der Feiertage normalerweise lange im Voraus. Dieses Jahr wollte Papa wegen der Gefechte nicht feiern. Neujahr war die Zeit der Reinigung, erinnerte er uns, eine Zeit der Erneuerung. Und solange auf dem Land gekämpft wurde und Flüchtlinge die Straßen der Stadt bevölkerten, gebe es keinen Grund zu feiern. Zum Glück war Mama anderer Meinung. Wenn es einen Anlass zum Feiern gebe, dann jetzt, argumentierte sie. Ein Neujahrsfest würde alles Übel austreiben und Gutes bringen.
Ich drehte mich um und erhaschte einen Blick auf Mama, wie sie in einer Ecke des Balkons vor dem Schlafzimmer stand und ihr Haar anhob, um ihren Nacken zu kühlen. Eine nach der anderen ließ sie sich die seidigen Strähnen über den Rücken fallen. "Ein sich putzender Schmetterling." Eine Zeile aus einem von Papas Gedichten. Ich blinzelte. Sie entschwand.
Ich flitzte zu dem Geräteschrank auf der Rückseite des Hauses, wo ich am Tag zuvor meine Gehschiene und die Schuhe versteckt und so getan hatte, als hätte ich sie verloren, nur um sie bei dieser Hitze nicht anziehen zu müssen. Mama musste etwas geahnt haben, denn sie hatte gesagt: "Na, dann morgen. Gleich morgen früh ziehst du sie an. Bis dahin hast du sie sicher gefunden." Ich holte sie aus dem Schrank, legte rasch die Schiene an und schlüpfte in die Schuhe. Der rechte hatte etwas mehr Absatz als der linke, um die Beinlänge anzupassen.
"Raami, du verrücktes Kind!", rief eine Stimme nach mir, als ich durch die halb offene Balkontür aus meinem Zimmer trat. Es war Milchmutter, mein Kindermädchen. "Komm sofort wieder rein!"
Wie angewurzelt blieb ich stehen und wartete darauf, dass sie mich zurück ins Zimmer zerren würde, aber das tat sie nicht. Also setzte ich meinen Rundweg auf dem Balkon fort, der einmal ganz ums Haus führte. Wo ist sie? Wo ist Mama? Ich rannte am Zimmer meiner Eltern vorbei. Die Fensterläden standen weit offen, und ich sah, wie Papa auf einem der Korbstühle am Fenster saß, Notizbuch und Stift in der Hand, konzentriert die Augen gesenkt und seiner Umgebung nicht gewahr. "Ein der Stille entschwärmender Gott …" Eine Zeile aus einem anderen Gedicht, die, wie ich fand, genau auf ihn zutraf. Beim Schreiben ließ sich Papa nicht einmal von einem Erdbeben aus der Ruhe bringen. Momentan nahm er jedenfalls nicht die geringste Notiz von mir.
Keine Spur von Mama. Ich schaute die Treppe rauf und ­runter, über die Balkonbrüstung, durch das offene Tor des Zitrus­gartens. Nirgendwo war sie zu sehen. Wie ich schon immer vermutet hatte: Mama war ein Gespenst. Ein Geist, der ins Haus ein und aus schwebte. Ein glitzerndes, flimmerndes Glühwürmchen, in der ­einen Sekunde da, in der nächsten schon wieder weg. Und nun hatte sie sich ganz in Luft aufgelöst. Schwups, einfach so.
"Hast du gehört, Raami?"
Manchmal wünschte ich mir, Milchmutter würde einfach verschwinden. Aber im Gegensatz zu Mama war sie ständig präsent, immer hatte sie ein Auge auf mich, wie einer dieser Geckos, der die Wände hochläuft und dabei tikkaer, tikkaer macht. Nirgendwo war man vor ihr sicher. "Ich hab gesagt, du sollst reinkommen", bellte sie und erschütterte den morgendlichen Frieden.
Ich wandte mich scharf nach rechts, rannte den langen Flur entlang, mitten durchs ganze Haus, und war schließlich wieder genau an der Stelle auf dem Balkon, wo ich losgelaufen war. Immer noch keine Mama. Ein Versteckspiel, dachte ich und schnappte in der Hitze nach Luft. Mit einem Geist Verstecken zu spielen war gar nicht so einfach.
Pschkuuu, eine Explosion in der Ferne. Mein Herz schlug schneller.
"Wo steckst du, du verrücktes Kind?", erklang wieder Milchmutters Stimme.
Ich tat, als hörte ich sie nicht, und stützte mein Kinn auf die mit Schnitzereien verzierte Balkonbrüstung. Ein winziger hellrosa Schmetterling mit Flügeln, zart wie die Blütenblätter von Bougainvilleen, flatterte unten im Garten auf und landete auf der Brüstung, ganz dicht vor meinem Gesicht. Ich regte mich nicht. Er bebte, als wäre er von seinem langen Flug erschöpft, die Flügel öffneten und schlossen sich wie zwei Fächer, die die Morgenhitze verscheuchten. Mama? War das eine ihrer Verkleidungen? Nein, es war, was es zu sein schien - ein Babyschmetterling. So zerbrechlich, als wäre er gerade erst aus seiner Verpuppung gekrochen. Vielleicht sucht er auch nach seiner Mutter, dachte ich. "Mach dir keine Sorgen", flüsterte ich ihm zu. "Sie ist hier irgendwo." Ich hob die Hand, um ihn zu streicheln und zu trösten, aber da flog er weg.

zu Teil 2
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