Vorgeblättert

Leseprobe zu Victor Serge: Die große Ernüchterung. Teil 1

03.09.2012.
1.
Kometen werden nachts geboren

Mehrere Wochen lang erwog Kostja den Ankauf von einem Paar Stiefeln, als eine plötzliche Laune, über die niemand erstaunter war als er selbst, alle seine Berechnungen über den Haufen warf. Wenn er auf Zigaretten, auf das Kino verzichtete, nur jeden zweiten Tag zu Mittag aß, könnte er binnen sechs Wochen die hundertvierzig Rubel zusammensparen, die zum Ankauf recht guter Stiefel nötig waren; die liebenswürdige Verkäuferin in dem Laden für Gelegenheitskäufe hatte ihm versprochen, diese Stiefel insgeheim für ihn beiseite zu legen. Unterdessen ging er wohlgelaunt auf Pappsohlen, die jeden Abend erneuert werden mußten. Zum Glück blieb es trocken. Schon war ein Schatz von sechzig Rubeln vorhanden, als Kostja sich das Vergnügen gönnte, seine künftigen Stiefel besichtigen zu gehen, die im Halbdunkel eines Regals hinter alten kupfernen Samowaren, einer Menge Etuis für Operngläser, einer chinesischen Teekanne und einer Muschelschachtel verborgen lagen, auf der in himmelblau der Golf von Neapel erglänzte … Königliche Stiefel in geschmeidigem Leder prunkten im Vordergrund des Regals: 400 Rubel, was? Den Männern in abgetragenen Mänteln lief das Wasser im Mund zusammen. "Seien Sie nur ganz ruhig", sagte die kleine Verkäuferin zu Kostja, "Ihre Stiefel sind da, haben Sie keine Angst!" Sie lächelte ihm zu; sie war brünett, hatte tiefliegende Augen, ein wenig schiefgestellte, aber hübsche Zähne, Lippen … Wie sollte man diese Lippen beschreiben? "Sie haben bezaubernde Lippen", dachte Kostja und sah ihr ohne Scheu gerade ins Gesicht, hätte aber nie gewagt, auszusprechen, was er dachte. Sekundenlang fesselten ihn die tiefliegenden Augen, deren Farbe zwischen dem Grün und dem Blau bestimmter chinesischer Nippsachen schwankte, die unter dem Glas des Ladentisches lagen, dann schweifte sein Blick zu den Schmuckstücken, den Papiermessern, den Schnupftabakdosen und dem übrigen alten Kram, um zufällig an einem kleinen in Ebenholz gerahmten Frauenporträt hängenzubleiben, das bequem in einer Hand Platz hatte …
     "Was kostet das?" fragte Kostja erstaunt.
     "Siebzig Rubel; viel Geld, nicht wahr?" erwiderten die bezaubernden Lippen.
     Ebenso bezaubernde Hände lösten sich von einem rotgoldenen Brokat, der über den Ladentisch geworfen war, und holten die Miniatur hervor. Kostja griff danach; er war aufgewühlt, als er dieses Bild zwischen den groben, nicht sehr sauberen Fingern halten durfte, dieses lebendige Bild, dieses außerordentliche, mehr als lebendige Bild, diese winzige schwarze Luke, die einen diademumkränzten blonden Kopf einrahmte, ein schönes ovales Gesicht, dessen Augen in ihrer Wachheit, ihrer Sanftmut, ihrer Kraft, ihrem Mysterium völlig unergründlich waren.
     "Ich kaufe es", sagte Kostja dumpf; er war selber auf seine Worte nicht gefaßt gewesen.
     Die Verkäuferin wagte keinen Einwand; so leise, so sehr aus dem Grund seines Wesens heraus hatte er gesprochen. Ein flüchtiger Blick nach rechts, ein anderer nach links, und die Verkäuferin flüsterte:
     "Pst! Ich lasse es Ihnen für fünfzig Rubel; aber zeigen Sie es nicht an der Kasse."
     Kostja dankte; er sah sie kaum. Fünfzig oder siebzig, was lieg mir daran? Verstehst du nicht, Kleine, daß das Ding unschätzbar ist? Ein starkes Feuer entzündete sich in ihm. Den ganzen Weg lang spürte er, wie das kleine Rechteck aus Ebenholz in der Innentasche seines Rocks sich sacht in seine Brust eingrub; und von da aus entstrahlte ihm wachsende Beglückung. Immer schneller ging er, hastete eine dunkle Treppe hinauf, lief in dieser Kollektivwohnung durch Korridore, die an jenem Tag von den Gerüchen von Naphthalin und einer säuerlichen Kohlsuppe durchtränkt waren, trat in sein Zimmer, ließ das elektrische Licht herabrieseln, sah in gesteigerter Stimmung auf sein Gurtbett, seine alten illustrierten Zeitungen, die sich auf dem Tisch häuften, das halbblinde Fenster, an dem mehrere Scheiben durch Pappe ersetzt waren … Er schämte sich vor sich selbst, als er sich murmeln hörte: "Was für ein Glück!" Der blonde Kopf in dem schwarzen Rahmen auf dem Tisch, an die Wand gelehnt, sah jetzt nur ihn an, und er selber sah nichts als sie. Das Zimmer füllte sich mit unbeschreiblichem Licht. Kostja machte ein paar ziellose Schritte vom Fenster zur Tür und fühlte sich plötzlich beengt. Von der anderen Seite der Wand tönte Romaschkins schwaches Husten.
     "Ach, dieser Romaschkin", dachte Kostja, und ihn erheiterte die Vorstellung des galligen kleinen Mannes, der immer in seinem Zimmer eingesperrt lebte, ein echter Kleinbürger, gepflegt, sauber, einsam zwischen seinen Geranien, seinen in graues Papier gebundenen Büchern, den Bildern der großen Männer: Henrik Ibsen, der gesagt hatte, der einsamste Mensch sei auch der stärkste Mensch, Metschnikow, der mit Hilfe der Hygiene die Grenzen des Lebens erweitert hatte, Charles Darwin, der bewiesen hatte, daß die Tiere der gleichen Art einander nicht fressen, Knut Hamsun, der den Hunger hinausgeschrien und den Wald geliebt hatte … Romaschkin trug noch alte Röcke aus der Zeit vor dem Krieg, der der Revolution vorangegangen war, die wiederum dem Bürgerkrieg vorangegangen war - aus der Zeit, da die Romaschkins, harmlos und ängstlich, auf Erden wimmelten. Mit leisem Lächeln wandte Kostja sich seinem halben Kamin zu; denn die Scheidewand, die sein Zimmer von dem des Zweiten Bürochefstellvertreters Romaschkin trennte, schnitt den schönen Marmorkamin eines einstigen Salons mitten entzwei.
     "Verfluchter Romaschkin, du wirst nie mehr besitzen als ein halbes Zimmer, einen halben Kamin, ein halbes Menschenleben - und nicht einmal die Hälfte solch eines Blicks …" Gemeint war die Miniatur, dieses erhebende kleine blaue Licht. "Dein halbes Dasein ist das Dasein im Schatten, mein armer Romaschkin."
     Mit zwei Schritten war Kostja auf dem Korridor, vor der Tür des Nachbarn, an die er mit den drei üblichen kleinen Schlägen klopfte. Von der anderen Seite der Wohnung kam ein fader Geruch nach Gebackenem, gemischt mit dem Geräusch von Stimmen und Gezänk. Eine zornige, ganz gewiß knochige, verbitterte, unglückliche Frau klapperte mit dem Geschirr und sagte immer wieder: "Und da hat er gesagt: Gut, Bürgerin, ich werde es der Direktion melden. Sie werden schon sehen, und da hab ich gesagt, gut, und ich, Bürger!"      Aus einer offenen, dann aber sogleich heftig zugeschlagenen Tür drang Kinderweinen. Das Telefon läutete wütend. Romaschkin öffnete. "Guten Tag, Kostja."
     Auch Romaschkin verfügte über einen Raum von drei Meter Länge auf zwei Meter fünfundsiebzig Breite. Sauber abgestaubte Papierblumen erhoben sich auf seinem halben Kamin. Das purpurne Rot der Geranien säumte das Fenster. Auf dem mit tadellos weißem Papier gedeckten Tisch stand ein Glas kalter Tee. "Ich störe Sie doch nicht? Sie haben vielleicht gelesen?" Die dreißig Bücher reihten sich auf den zwei Fächern des Regals oberhalb des Bettes.
     "Nein, Kostja, ich habe nicht gelesen. Ich habe nachgedacht." Einsam, den Rock zugeknöpft, vor seinem Glas Tee, der entfärbten Scheidewand gegenüber, von der sich die vier Bilder der großen Männer abhoben, dachte Romaschkin nach … Kostja fragte sich: "Was macht er in solchen Augenblicken mit seinen Händen?" Romaschkin stützte sie nie auf; wenn er sprach, lagen die Hände flach auf den Knien, wenn er ging, verschränkte er die Hände. Manchmal kreuzte er die Arme über der Brust und zog scheu die Schultern hoch. Seine Schultern erinnerten an die demütigen Formen von Lasttieren.
     "Worüber haben Sie nachgedacht, Romaschkin?"
     "Über die Ungerechtigkeit."
     Ein unerschöpfliches Thema! Du hast es nicht ergründet, Alter. Komisch: Hier war es kälter als nebenan. "Ich wollte mir Bücher von Ihnen ausborgen", sagte Kostja. Romaschkin hatte gut gebürstetes Haar, ein fahles, ältliches Gesicht, zusammengezogene Lippen, einen hartnäckigen, aber verängstigten Blick, dessen Farbe man nicht feststellen konnte - er schien überhaupt keine Farbe zu haben, dieser Romaschkin, er war einfach grau. Er musterte jetzt sein Regal, überlegte sekundenlang und griff dann nach einem alten broschierten Buch. "Lesen Sie das, Kostja, das sind die Geschichten mutiger Männer." Es war das neunte Heft der Zeitschrift "Das Bagno", Organ der Vereinigung einstiger Sträflinge und lebenslänglich Deportierter. "Danke, auf Wiedersehen, mein Lieber!" Würde er jetzt von neuem beginnen nachzudenken, der arme Kerl?
     Ihre beiden Tische standen, von der Scheidewand getrennt, einander genau gegenüber. Kostja setzte sich an den seinen, blätterte in dem Buch, versuchte zu lesen. Von Zeit zu Zeit hob er die Augen zu der Miniatur, um in ihr mit wohltuender Gewißheit der geheimnisvollen Wachheit dieser grünblauen Augen zu begegnen. Der blasse Frühlingshimmel über dem Eis hat dieses Strahlen in sich, wenn die Flüsse bei Einbruch des Tauwetters schmelzen und die Erde wiederauflebt. Romaschkin, in seiner vertrauten Öde nebenan, hatte sich wieder hingesetzt, den Kopf in den Händen, völlig allein, ganz versunken, und glaubte nachzudenken. Und vielleicht dachte er wirklich nach.

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