Vorgeblättert

Leseprobe zu Zora del Buono: Big Sue. Teil 3

12.08.2010.
Sue Humphrey war als Name mehrmals gefallen, Sue und ihre Babys. Und Will Humphrey, dieses Monster, wie Peewee geschnaubt hatte, hochemotional, als ob sie ihn selber gekannt hätte; ein wenig verwunderlich, solch ein Hass auf einen Mann, der um 1900 gestorben war, längst schon eine historische Figur. Will Humphrey sei der Kopf dieser Bande aus Massachusetts gewesen, ein scheinheiliger Kapitalist und Betrüger, der größte Profiteur des Port Royal Experiment, ein steinreicher Mann, ein Sklaventreiber. Von unseligen Toten in der Mitte des Jahrhunderts hatte Peewee gesprochen und von Sues Rache für die Verbrechen ihrer Vorfahren. Wenn ich mich recht entsann, hatte sie sogar süße Rache gesagt, gut möglich, bei ihrer Neigung zum Drama. Vielleicht hatte ich aber auch etwas durcheinandergebracht, in der Regel vergelten nachfolgende Generationen schließlich nicht die Schandtaten ihrer Ahnen, sondern die von deren Widersachern. Mir war nicht einmal klar, von welchem Jahrhundert meine aufgebrachte Gesprächspartnerin redete, dieser Racheengel Sue schien möglicherweise noch zu leben. Ich klappte das Notizbuch zu, nachdem ich als letzte Stichworte South Carolina, rund 15 Meilen südöstlich von Beaufort und erst Reis, später Indigo aufgeschrieben hatte. Im Nachhinein ärgerte ich mich, dass ich Peewees konfuser Erzählweise nichts entgegenzusetzen gewusst hatte, ich hätte Zwischenfragen stellen oder zumindest auf eine gewisse Struktur im Gesprächsfluss dringen sollen.
     Zu Hause las ich nach, was es mit dem Port Royal Experiment auf sich hatte. Die Sache war interessant, folgenreich und heute noch spürbar. Will Humphrey wurde gleich in mehreren Quellen genannt, ein körniges Foto zeigte einen pausbäckigen jungen Mann im dreiteiligen Anzug. Im März 1862 machte sich der achtundzwanzigjährige Harvard-Absolvent von Massachusetts nach Süden auf, ein Jüngling mit einem Gespür für in der Luft liegende Chancen und einem vermögenden familiären Hintergrund. Der Bürgerkrieg dauerte bereits ein Jahr, als Humphrey im Hafen von Charleston von Bord der Atlantic ging. Marine und Landtruppen der Nordstaaten hatten die vor der Küste Georgias und South Carolinas gelegenen Sea Islands im November des Vorjahres besetzt und die Sklaven befreit. Noch ahnte niemand, dass sechshunderttausend Menschen in diesem Krieg ihr Leben verlieren sollten, vier Jahre blutiges Gemetzel, eine unvorstellbare Dimension, ein Krieg wie nie einer zuvor.
     Ich schaute mir gerade die Bilder der Atlantic an, als draußen auf dem Square eine Horde Jugendlicher zu krakeelen begann, das Geschrei satt unterlegt vom knatternden Geräusch eines Busmotors, die Scheiben der Erkerfenster schepperten laut; lästig war das, ich konnte mich kaum konzentrieren. Ich setzte einen Kaffee auf und wandte mich danach wieder den Geschichten um den Bürgerkrieg zu, Pubertierendenlärm hin oder her.
     Als Will Humphrey die Inseln im April 1862 zum ersten Mal betrat, hatten die Plantagenbesitzer ihre Ländereien bereits verlassen, in aller Hektik die Flucht ergriffen vor den Truppen der Union. Großgrundbesitzer hatten ihre Sklaven zum Mitkommen zu überreden versucht, manche mit Gewalt; ein Dasein ohne Bedienstete war unvorstellbar, das kostbare Gut einfach aufzugeben: undenkbar. Man erzählte den Sklaven Schreckliches über die Brutalität der Truppen aus dem Norden, von Negermördern war die Rede statt von Befreiern. Die drastischen Schilderungen nützten nicht viel, die meisten Schwarzen widersetzten sich ihren Herrschaften und tauchten unter. Die Inseln waren ihnen vertraut, vertrauter als ihren Besitzern, die diesen Landstrich gemieden und die meiste Zeit auf ihren Anwesen fern der Küste gelebt hatten, aus Furcht vor Malaria und Gelbfieber, aus Bequemlichkeit und Vergnügungssucht, das gesellschaftliche Leben spielte sich woanders ab. Zehntausend Sklaven wurden während dieser Tage auf den Inseln zurückgelassen, Hunderte waren von ihren Herren ermordet worden, lieber ein toter Sklave als ein freier Sklave, hatte sich manch einer gesagt, bevor er seinen Schwarzen erschlug.
     Ich hörte Lachen im Treppenhaus, das durfte doch nicht wahr sein, die Meute zog bei mir ein, ich sah sie durch das Glas der Eingangstür schemenhaft die Holzstufen hochtrampeln, hoffentlich blieben sie nur ein Wochenende lang, wahrscheinlich ein Highschool-Ausflug, die Sportgruppe vielleicht. Sie bezogen nicht nur das Apartment über mir, sondern auch das im Erdgeschoss, die Jungs oben, die Mädchen unten, ich fühlte mich bedrängt, geradezu gewürgt, mindestens zwanzig Jugendliche auf zwei Wohnungen verteilt, das konnte ja heiter werden. Ich bemühte mich wegzuhören und nahm mir wieder die Broschüre der Historic Society vor, man hatte rechtschaffen über die Zeit des Umbruchs geforscht und vieles notiert.
     Inspektoren der Union kontrollierten bald die Ländereien, las ich da, der Ruf der weltbesten Baumwolle sollte erhalten bleiben, die Reisernte, das Carolina Gold, nicht verloren gehen. Baumwollagenten handelten weiter wie eh und je, von den Ereignissen überrollte und verwirrte Sklavenfamilien schindeten sich auf den weitläufigen Plantagen und wussten nicht, was aus ihnen werden sollte. Aus Chicago und New York kamen sozial engagierte Männer und Frauen angereist, um den Befreiten Hilfe zu leisten auf dem Weg in ihr neues Leben. Gebildete Nordstaatler, Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher-Stowe im Gepäck, religiös Gemäßigte genauso wie evangelikale Fanatiker, überzeugt von ihrer Auserwähltheit und einer göttlichen Mission; Finanzmenschen, Ingenieure und Lehrerinnen, die sich mit Leidenschaft für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt hatten. Viele von ihnen reisten bereits im Laufe des Sommers wieder ab, manche ernsthaft erkrankt, andere ermattet von den schwierigen Umständen, dem erbarmungslosen Klima, den quälenden Insekten, überfordert von den Ansprüchen der Plantagenwirtschaft, nicht gewöhnt an den Umgang mit seit Generationen gebeutelten Menschen, die sich in eigenartigen, den Zugereisten unverständlichen Sprachen unterhielten.
     Will Humphrey blieb.
     Es war Frühsommer, die Schwüle und Hitze schon enorm, schwarz flirrende Schwärme von stechenden Mücken über den Sümpfen, dampfendes Land nach Gewitterstürmen; überall waren Menschen dabei, die Baumwollfelder zu pflegen, laufend musste ausgedünnt und umgepflanzt werden. Humphrey stürzte sich mit Elan in die Arbeit, reiste von Insel zu Insel, sprach mit Feldarbeitern, untersuchte die Pflanzen, lernte die Cotton Gin genannten Baumwollentkörnungsmaschinen so gut verstehen wie die komplexen hydraulischen Systeme für die Bewässerung der Reisfelder; ein Bild zeigte den dicklichen Humphrey mit offenem Blick in die Kamera strahlend, ein paar Schwarze um ihn herum. Bald schon wurde er Inspektor der Union, verwaltete drei Plantagen, verpflichtete ehemalige Sklaven zur Landarbeit. Bereits in Boston hatte er vom Port Royal Experiment gehört und sich mit tausend Dollar eingekauft, für einen Dollar erhielt man viertausend Quadratmeter bewirtschaftetes Agrarland, Baumwolle, Indigo oder Reis. Humphrey war ein protestantisch geprägter Idealist. Das Grauen des Bürgerkrieges nahm er nicht nur in Kauf, er unterstützte es, der Apokalypse des Krieges sollte das tausendjährige Reich Gottes folgen, ein in der Nation tief verankerter Gedanke, seit Jahrzehnten durch Wanderprediger von allerlei Couleur im ganzen Land verbreitet: ohne Leid keine Seligkeit. Das Unrecht an den Schwarzen konnte wiedergutgemacht werden, und Humphrey wollte seinen Beitrag dazu leisten. Das Experiment klang vielversprechend. Ein Jahr lang arbeiteten die ehemaligen Sklaven weiter auf den Plantagen, der Lohn wurde einbehalten, nach Ablauf des Jahres durften sie mit ihrem Verdienst eigenes Land kaufen. Investoren wie Humphrey verpflichteten sich, den Schwarzen das Land zum selben Preis zu verkaufen, zu dem sie es erstanden hatten, ein Akt der Menschlichkeit.
Im Apartment unter mir begannen sie jetzt zu singen, ein ganzer Chor von Mädchenstimmen. Auf der Straße erschallte weiterer Gesang, ich schaute nach draußen, noch eine Gruppe Teenager, alle in Dunkelblau gekleidet, eine Inschrift auf den T-Shirts, Habersham Central High School Singers, aha, ein Schülergesangswettbewerb also. Ich trank den letzten Schluck Kaffee und kümmerte mich wieder um Will Humphrey, der eine immer unschönere Rolle zu spielen begann.
     Bei dem Mann, der aus Idealismus in den Süden gereist war, trat eine im Nachhinein kaum erklärbare Veränderung ein, die aus den historischen Texten nicht vollständig ersichtlich war, einzig sein wachsender Hang zu körperlicher Brutalität im Alter wurde erwähnt. Ganz offensichtlich verfiel er in einen Kaufrausch, seine jugendliche Großmut wandelte sich in hemmungslose Gier. Humphrey erwarb eine Plantage nach der anderen, lieh sich Geld bei Verwandten und Freunden in Neuengland, besaß nach wenigen Monaten mehr Boden als je ein Mensch zuvor in dieser Gegend, über tausend Arbeiter und Arbeiterinnen standen in seinen Diensten. Mit neunundzwanzig war Will Humphrey zum mächtigsten Mann der Inseln geworden. Nach Ablauf des Jahres sollte das Land an die Arbeiterfamilien veräußert werden, das war Sinn des Experiments. Humphrey hielt sich an diese Regel. Die zweite Bedingung ließ er unter den Tisch fallen. Nicht für einen Dollar bot er die viertausend Quadratmeter großen Einheiten zum Verkauf. Er wollte zwölf Dollar dafür haben.
     Nun verstand ich Peewees wutentbranntes Schnauben.
Humphreys Käufer waren seine Bekannten aus Boston und New York. Zwölf Dollar waren für sie fast ein Geschenk. Sie investierten voller Enthusiasmus, erwarben Ländereien, verpachteten sie. Den ehemaligen Sklaven blieb nichts, als sich mit winzigen Gärten zufriedenzugeben, ein Zwölftel der Fläche, die ihnen eigentlich zustand, eine neuerliche Demütigung. Humphrey hatte sie um ihre Existenzchancen gebracht. Als die Betrogenen sich so weit zusammengeschlossen hatten, dass sie bei Abraham Lincoln eine schriftliche Beschwerde einlegen konnten, waren die Dinge längst entschieden. Das Land gehörte zum größten Teil wieder den Weißen. Nur dass es diesmal nicht feudalistische Plantagenbesitzer der Konföderation waren, sondern findige Geschäftsleute aus den Nordstaaten. Lincoln selbst war drei Jahre später tot, in der Loge des Ford?s Theatre in Washington erschossen von einem in Schwarz gekleideten Südstaatenfanatiker; es war ein Karfreitag gewesen. Zu der Zeit hatte sich Will Humphrey auf den Sea Islands bereits bestens eingelebt und den Grundstein der Villa auf jener Insel gelegt, die seine Nachfahren in den nächsten Jahrzehnten bewohnen sollten, die Insel, auf der Fenner jetzt saß.
     Ich hatte gerade den Computer zugeklappt und war dabei, die Papiere zu ordnen, als es an der Tür klingelte. Unten war es ruhig geworden. Wahrscheinlich die Kids, dachte ich, sie kochten sicher nach dem erschöpfenden Üben, brauchten Dosenöffner oder Eiswürfel oder so. Doch es stand nur meine zum Quäkertum konvertierte, engelhafte Wohnungsverwalterin vor mir; helle Pluderhosen, ein hauchdünnes Blumenhemd über knochigen Schultern, die Füße in Stoffsandalen, sie sah aus wie ein beseeltes Hippiemädchen. Sie hielt ein Paket in der Hand, das der Postbote für mich abgegeben hatte. Ich nahm es entgegen und wusste sofort, was es war: Christian Abeggs Roman.

                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung des Mare Verlages

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