Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Alexander Stille: Citizen Berlusconi. Teil 1

16.01.2006.
1
Der Wunderwirker

Januar 1996: "Ich kann Menschen dazu bringen, mich zu lieben."

In Fleisch und Blut erlebte ich Berlusconi erstmals Anfang 1996 bei einer Kundgebung von Forza Italia; er lief sich warm für eine bevorstehende Wahl, die er dann verlor. Auf der Kundgebung herrschte eine Atmosphäre, die mehr an ein Konzert als an eine politische Versammlung erinnerte; man konnte die Erregung der Menge körperlich spüren, die auf die Ankunft des Hauptdarstellers wartete. SILVIO! SILVIO! SILVIO! skandierten sie, als er sich, eskortiert von einer Phalanx von Leibwächtern, seinen Weg durch das Gedränge bahnte, während aus den Lautsprechern die Parteihymne von Forza Italia dröhnte, von der es heißt, Berlusconi habe daran mitgeschrieben. Berlusconi erklomm die Bühne in ­einem federnden Trab, der wirkte wie von Ronald Reagan abgeschaut. Er ist zwar nur rund 1,68 Meter groß, hat aber eine athletische Figur und einen kräftigen Brustkorb. Mit seinem maßgeschneiderten dunklen Zweireiher und seinem ständig abrufbaren Lächeln strahlte er die glatte Eleganz eines Schnulzensängers der 50er Jahre aus. Anstatt sich hinter ein Rednerpult zu stellen und eine Rede vorzulesen, ergriff er das Mikrofon und lief auf der Bühne herum, wohl um in eine engere persönliche Interaktion mit der Zuhörerschaft treten zu können.
     In seinen frühen Jahren hatte sich Berlusconi, um sein Studium zu finanzieren, als Nachtclubsänger auf Mit­tel­meer-Kreuz­fahrt­schiffen verdingt; seine Entertainer-Qualitäten und sein unwiderstehlicher Charme tauchen in den vielen Geschichten über seinen wundersamen Aufstieg immer wieder auf, auch wenn von einer Version zur anderen wichtige Details­ fluktuieren.
     Berlusconi redete bei seinem Auftritt in Rom über eine Stunde lang ohne Manuskript, ohne Pause, ohne je den Faden zu verlieren. Anders als die meisten anderen italienischen Politiker, die sich einer häufig abstrakten und manchmal abstrusen Sprache bedienen, spricht er Klartext. "Berlusconi hat eine neue politische Sprache erfunden", meint Renato Mannheimer, Soziologieprofessor und einer der führenden Demoskopen Italiens. "'Eine Million Jobs', das ist ein wuchtiger Slogan, ganz abgesehen davon, ob ein solches Versprechen Unsinn ist. Berlusconi drückt sich in einer konkreten Bildersprache aus. Zum Thema Steuern hat er gesagt: 'Bis zum 27. Juli arbeite ich für den Staat, den Rest des Jahres für meine Familie.' Man beachte, dass er das Wort 'Familie' benutzte - das mögen die Italiener -, statt zu sagen: 'für mich selbst.' . . . Fragt man die Wähler nach den Wahlkampfslogans der Linken, so fällt ihnen kein Einziger ein."
     An dem Tag, an dem ich auf der Kundgebung von Forza Italia war, schlug Berlusconi einen etwas zornigeren und defensiveren Ton an als gewöhnlich. Die Mailänder Justiz machte ihm das Leben schwer. Die Staatsanwälte hatten kurz zuvor etliche Bankkonten in der Schweiz und in Offshore-Steueroasen entdeckt, aus denen angeblich hervorging, dass Berlusconis Unternehmensgruppe mehrere Millionen Dollar an den ehemaligen sozialistischen Partei- und Regierungschef Bettino Craxi überwiesen hatte (der sich zu der Zeit im tunesischen Exil dem Zugriff der italienischen Justiz entzog) - ein Vorwurf, den Berlusconi wütend bestritt. Er wetterte gegen die Untersuchungsrichter, die "Kommunisten" und seine vielen "Feinde", die vor nichts zurückschreckten, um ihn zu vernichten. "Meine kommunistischen Feinde haben die Techniken von Goebbels verinnerlicht, dass wenn man eine Lüge oft genug wiederholt, eine Wahrheit daraus wird", rief er. Seine antikommunistischen Invektiven wirkten anachronistisch - die italienische KP hatte sich vor fünf Jahren aufgelöst -, und die "Lügen", gegen die er zu Felde zog, erwiesen sich später vor Gericht als Tatsachen. Trotzdem ertappte ich mich dabei, wie ich auf dem Heimweg von der Kundgebung die eingängige Hymne von Forza Italia vor mich hin summte.
     Am nächsten Tag suchte ich Berlusconi in seiner römischen Bleibe auf, um ihn zu interviewen. Sie befand sich im rückwärtigen Teil eines barocken Palastes direkt hinter der Piazza Navona, den Papst Innozenz X. im 17. Jahrhundert für seine Familie erbauen ließ. Der Weg hinauf zu Berlusconis Wohnung führte nicht über eine Treppe, sondern über eine sanft gewundene Spiralrampe, über die früher Pferde und Maultiere nach oben geführt wurden, die die Güter des täglichen Bedarfs direkt bis zur Haustür brachten. Sorgfältig ausgemalte Fresken, die Engelsfigürchen zeigten, schmückten die Decke des Wartesalons.
     Berlusconi trug einen lässigen Dress aus blauen Jogginghosen, Laufschuhen und einem Pullover aus feinstem blauen Kaschmir. (Die Farbe Blau spielt im Berlusconi-Universum eine große Rolle. "Alle Psychologen sind sich einig, dass diese Farbe ein Wohlgefühl hervorruft", sagt Aura Nobolo, Pressesprecherin der Parlamentsfraktion von Forza Italia.) Berlusconi ist ein überzeugter Jogger und tut viel dafür, seine sportliche Figur zu behalten. Trotz des sportlichen Outfits wirkte er wie aus dem Ei gepellt, auch das schüttere Haar war makellos drapiert. Er hasst langes oder fettiges Haar und versucht, seinen männlichen Angestellten das Tragen eines Bartes auszureden. Bei all seiner Virtuosität im Umgang mit Menschenmassen leidet er unter einem Hygienezwang und wäscht sich immer schnell und gründlich die Hände, wenn er mit einer Gruppe von Bewunderern auf Tuchfühlung gekommen ist. "Das ist wohl ein ­typischer Zug bei Tycoons", sagte mir Giuliano Ferrara, sein früherer Adjutant. "Ein bisschen San Simeon steckt in ihnen allen" - eine Anspielung auf das berühmte Hearst Castle in Kalifornien, die Residenz des amerikanischen Pressezaren William Randolph Hearst, der Orson Welles als Vorbild für seinen "Citizen Kane" diente. "Tycoon" ist übrigens eine Bezeichnung, die Berlusconi gerne für sich selbst benutzt, und es ist offensichtlich, dass er seinen Reichtum genießt.
     Sein erstes Geld verdiente Berlusconi in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts als Grundstücks- und Bauspekulant. Er hatte zwar keinerlei Vorkenntnisse im Baugewerbe, zeigte aber von Anfang an eine große verkäuferische Begabung. Seine größten Trümpfe sind seine unerschöpfliche Energie, seine große Detail­besessenheit und sein fast grenzenloses Selbstvertrauen. Seine tiefsten Überzeugungen entspringen, so scheint es, solchen Evangelien amerikanischer Selbstvervollkommnungskultur wie Dale Carnegies Wie man Freunde gewinnt und Norman Vincent Peales Die Macht des positiven Denkens. Im Zuge eines Schulungskurses für die Verkäufer seiner Werbefirma erklärte er den Teilnehmern, er stelle sich jeden Morgen vor den Spiegel und sage mehrmals: "Ich mag mich. Ich mag mich." Eine seiner Lieblingsmetaphern ist die von der "Sonne in meiner Hosentasche"; er hält seine Leute dazu an, ebenfalls diese Aura des unbedingten Glaubens an sich selbst nach außen zu projizieren.
     Seine Erfolge in der Politik beruhen zumindest teilweise auf seiner Fähigkeit, Millionen Italiener mit seiner selbstbewussten und optimistischen Ausstrahlung so von sich einzunehmen, dass sie den Wunsch haben, ihm nachzueifern. Er ist offenbar zutiefst davon überzeugt, dass es kein Problem gibt, das sich nicht lösen ließe, wenn man ihm nur die Möglichkeit gäbe, es dem italienischen Volk darzulegen. Zweifellos hat Berlusconi die Gabe, in jeder Situation die Dinge zu sagen, die nötig sind, um die jeweilige Zuhörerschaft zu überzeugen, dass er Recht hat. Allerdings stehen die Behauptungen, die er bei diesen Gelegenheiten aufstellt, manchmal im Widerspruch zueinander - oder auch zur Wirklichkeit. Doch auch das ist Teil der Berlusconi-Philosophie: Wenn ihr jemanden überzeugen wollt, schärfte er seinen Verkäufern ein, denkt euch ein Zitat aus und legt es einer bekannten Persönlichkeit in den Mund. "Bedient euch also dieser Methode: 'Wie Bill Paley von CBS sagt, wie Plato gesagt hat, wie Abraham Lincoln gesagt hat.' . . . Wer wird das je nachschlagen? . . . Die Leute sind unglaublich leichtgläubig, sie lieben Zitate." Den tiefsten Eindruck machte auf mich während des dreistündigen Gesprächs, das ich mit Berlusconi führte, sein ungewöhnliches Verhältnis zur Faktenwahrheit.
     Zu den auffälligsten Charakterzügen Berlusconis gehört seine Fähigkeit, eine Aura der vollkommenen Selbstgewissheit und Aufrichtigkeit zu verströmen, auch wenn er Dinge sagt, die offenkundig keinen Bezug zur objektiven Wirklichkeit haben. "In der Psyche Berlusconis dominieren zwei Elemente", verriet mir ein langjähriger leitender Mitarbeiter der Berlusconi-Holding Mediaset, der auf eine enge Zusammenarbeit mit ihm zurückblickt. "Eine außer­ordentliche, natürliche Vitalität und eine überbordende Fähigkeit, sich selbst zu überzeugen, dass das, was er gerade sagt, die Wahrheit ist. Nicht nur die Wahrheit, sondern die absolute Wahrheit; er ist unfähig, zu begreifen, weshalb andere nicht in der Lage sind, diese Wahrheit zu erkennen."
     Über eine weite Strecke meines Interviews bedrängte ich Berlusconi mit Fragen nach seinen Interessenskonflikten; seine stereotype Antwort lautete stets, es bestünden keine Interessenskonflikte, alle derartigen Vorwürfe seien nichts als bösartige Versuche, ihn zu vernichten, und dagegen müsse er sich wehren. "'Interessenskonflikt' ist ein Begriff, mit dem er einfach nichts anfangen kann", erklärte mir der Ex-Manager von Mediaset. "Als ich einmal erwähnte, dass Harold MacMillan, als er zum Premierminister von Großbritannien gewählt wurde, seine Anteile an seinem Verlagsunternehmen verkaufte, war Berlusconis einzige Reaktion: 'Warum?'"
     Berlusconi versuchte mir klar zu machen, dass er in Wirklichkeit ein ungeheures persönliches Opfer gebracht hatte, indem er an die Spitze der Nation getreten war. "Bevor ich in die Politik ging, erhielt ich immer Beifall von allen, wenn ich in der Öffentlichkeit auftrat; heute klatscht die Hälfte der Anwesenden, die andere buht mich aus", sagte er. "Ich habe eine radikale Wende im moralischen und politischen Klima dieses Landes bewirkt. Andere Politiker ­haben aus ihren öffentlichen Ämtern finanzielle und andere Vorteile geschlagen. Ich habe nur Nachteile erlitten und Geld ausgegeben, sehr viel Geld." Wie viel? fragte ich. "Ich kann es nicht genau beziffern. Die Unterstützung von Forza Italia hat mich ein kleines Vermögen gekostet." Tatsächlich hat Berlusconis Holding Mediaset seit seinem politischen Aufstieg eine erstaunliche Wende vollzogen: von einer bedrohlich verschuldeten Unternehmensgruppe mit sehr knappen Gewinnmargen zum profitabelsten Medienkonzern Europas. Berlusconis persönliches Vermögen hat sich verdreifacht, und in der alljährlich von Forbes veröffentlichten Liste der 400 reichsten Personen der Welt ist er unter die besten 40 aufgerückt.
     Berlusconi sieht sich selbst als einen Idealisten und Utopisten und reagiert mit gekränktem Unverständnis, wann immer jemand auch nur andeutet, er könnte andere als nur die altruistischsten Beweggründe haben. Er demonstriert eine verschwenderische Großzügigkeit gegenüber seinen engsten Mitarbeitern, und die danken es ihm mit eiserner Loyalität, einer Loyalität, die selbst unter dem enormen Druck der Bestechungsvorwürfe und der auf sie bezogenen strafrechtlichen Ermittlungen nicht in die Brüche ging. Und er würde dieselbe Großzügigkeit auch gegenüber der italienischen Nation walten lassen, ließe sie ihn nur gewähren. "Warum attackieren sie mich? Warum verstehen sie nicht, dass ich der einzige Mensch bin, der dieses Land reparieren kann?" sagte er ein paar Monate nach unserer Begegnung. Weil er nur die lautersten Absichten hat, ist er überzeugt, dass hinter jedem Versuch, seine Macht zu begrenzen oder in Frage zu stellen, nur bösartige und intrigante Beweggründe stecken können. Er ist offenbar der tiefen Überzeugung, das Schicksal habe ihn dazu auserwählt, sein Land zu retten.
     "Sie verstehen nicht", sagte er gegen Ende unseres Gesprächs resigniert und ließ sich in die Polster der weißen Couch in seinem Wohnzimmer zurücksinken, als wolle er Kräfte für einen letzten Versuch sammeln, mir die Augen zu öffnen. "Ich habe in meinem Leben alles erreicht, was ein Mensch sich erhoffen kann. Ich habe persönlich nichts mehr zu gewinnen." Plötzlich schnellte sein Oberkörper nach vorne, und mit einer auf das mehrfache gesteigerten Eindringlichkeit (als gelte es, einem zögernden Kunden den entscheidenden Impuls für eine Kaufentscheidung zu verpassen) sagte er: "Ich habe so viel außergewöhnliche, einzigartige Erfahrung und will der Nation etwas geben. So creare, so commandare, so farmi amare. Ich kann schöpferisch sein, ich kann Menschen führen, ich kann Menschen dazu bringen, mich zu lieben."

Lob der Torheit

     Mir schwirrte nach dem Gespräch mit Berlusconi der Kopf. Die seltsam monarchische, "höfische" Atmosphäre, die ihn umgab, seine tauben Ohren für Gegenargumente und seine Unfähigkeit zum Dialog ließen mich an die Aussage seines besten Freundes Fedele Confalonieri denken, Berlusconi sei "ein aufgeklärter Despot . . . ein guter Ceausescu, aber als demokratischer Politiker eine ausgesprochene Fehlbesetzung". Und tatsächlich: Die Vorstellung, dass jemand, der weiß, wie er Leute dazu bringt, ihn zu lieben, damit das Anforderungsprofil an einen Premierminister besser erfüllt als etwa einer, der ein überzeugendes politisches Programm vorzuweisen hat, verweist auf ein neues, dem TV-Zeitalter angemessenes Modell der charismatischen politischen Führung. Was Berlusconis psychische Konstitution betrifft, kann ich sagen, dass er einer der seltsamsten Menschen ist, die ich je kennen gelernt habe. Nie zuvor hatte ich jemanden interviewt, der so viele offenkundige Unwahrheiten in einem so messianischen Brustton der Überzeugung von sich gegeben hatte. So vieles von dem, was er gesagt hatte, war so offenkundig und durchschaubar falsch, dass er mir wie ein Kindskopf erschien: dass er nie versucht habe, die ­Medien, die ihm gehören, politisch zu beeinflussen; dass in seinen Fernsehsendern überwiegend "die Linke das Sagen hat"; dass ausschließlich selbstlose Motive für sein politisches Engagement ausschlaggebend seien; dass seine politische Karriere seinen Geschäften eher geschadet als geholfen habe; dass es ihm unmöglich wäre - selbst wenn er dies wollte -, Gesetze auf den Weg zu bringen, von denen er selbst profitieren würde. All dies sagte er mit so großer Selbstgewissheit, mit so echt wirkender Leidenschaft, dass ich nach einiger Zeit zweifelte, ob zwei und zwei wirklich vier ergibt.
     Natürlich gehört Lügen für Politiker zum Geschäft, doch die meisten kennen den Unterschied zwischen für die Öffentlichkeit bestimmten Aussagen und der Wahrheit im strengen, faktischen Sinn. Ich hatte auch schon Giulio Andreotti interviewt, den siebenmaligen Premierminister und einflussreichsten italienischen Politiker vor Berlusconi; er hatte wiederholt bestritten, irgendetwas über die (ausreichend dokumentierten) Mafia-Verstrickungen einiger seiner Anhänger zu wissen, aber er tat dies mit der blasierten Attitüde ­eines Mannes, der weiß, dass er nicht die Wahrheit sagt, mit einem Blick, der dem Gegenüber zu verstehen gab: "Ich weiß, dass Sie wissen, dass das nicht wirklich stimmt, aber das öffentliche Leben zwingt uns nun einmal, an gewissen Fiktionen festzuhalten."
     Andreotti hätte sich extravagante Verkündungen seiner eigenen Omnipotenz, wie Berlusconi sie regelmäßig praktiziert, nie gestattet. "Wenn Italien sich Berlusconi anvertraut, wird es dem Land zum Vorteil gereichen", sagte Berlusconi, der übrigens häufig in der dritten Person von sich spricht. "Ich arbeite hart daran, meinen Höherwertigkeitskomplex zu überwinden", erklärte er ein andermal.

Teil 2