Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Elena Tregubova: Die Mutanten des Kreml. Teil 2

07.09.2006.
Boris Jelzin -
tot und lebendig


Kaum war ich zum Kreml gekommen, um dort als Journalistin zu arbeiten, erfuhr ich das heiligste Geheimnis des Kremlhofstaates, das jeder Journalist, Politologe oder Kremlforscher kennen mußte. Das Geheimnis bestand darin, daß Jelzin ein kranker Mann war. In den Phasen seiner Krankheit wurde das Land nicht vom Parlament regiert, nicht von der Partei und erst recht nicht von Jelzin selbst, sondern von seiner Familie. Familie im Sinne einer russifizierten Version der italienischen Cosa nostra. Das Schema war recht simpel: Der Oligarch Boris Beresowski hatte plötzlich eine Superidee für ein Superprojekt zur Superneuaufteilung des Eigentums im Land zu seinen Gunsten und zum Nutzen befreundeter Oligarchen. Danach suggerierte der Superoligarch Beresowski seine Superidee mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dem vollständig von ihm abhängigen Superchef der Jelzin-Regierung, Waleri Jumaschew. Und Jumaschew (vormals sowjetischer Journalist und Autor aller Bücher "von Jelzin") gab seinerseits diese Superideen an Jelzins Supertochter Tatjana weiter, mit der Jumaschew in enger Verbindung stand (mittlerweile sind sie verheiratet). Tatjana übermittelte die Ideen ihrerseits ihrem Vater, Präsident Jelzin. Auf diese Weise gelangten Beresowskis Ideen Jelzin nach nur zwei, drei meisterlichen Pingpongschlägen zu Ohren.
     Manchmal benutzten die Oligarchen sogar ihre Fernsehsender, um auf den Präsidenten einzuwirken. Ein bestochener Fernsehmoderator zog beispielsweise einen Konkurrenten des Oligarchen in den Dreck, und Präsidententochter Tatjana wurde einfach gebeten, ihrem Vater rechtzeitig den Fernseher einzuschalten. Da Jelzin oft krank war, war es von entscheidender Bedeutung, wer sich in seiner unmittelbaren Nähe befand. Wer schiebt dem kranken Präsidenten im rechten Moment ein Gesetz zur Unterschrift unter? Jene zarte Tochterhand, die dem Vater auch ein Glas Wasser reicht. So endeten viele Reformansätze Jelzins. So wurden - angefangen mit dem Aufschlag von Beresowski, über das Pingpong von Jumaschew bis hin zu den eigennützigen Intrigen der "Familie" sowie ihr nahestehender Oligarchen - einige widerspenstige russische Premierminister entlassen (die bei einer anderen Entwicklung der Ereignisse durchaus eine akzeptable demokratische Alternative zu Putin hätten werden können). Mit dieser Methode wurden auch zwei Reformregierungen Jelzins abgesägt: die erste störte die Oligarchen, weil sie versuchte, die inoffizielle Aufteilung des Staatseigentums in die gesetzliche Sphäre offener Auktionen zu verlagern, und die zweite drohte eine antimonopolistische Gesetzgebung durchzusetzen.
     Dennoch wußten alle genau, daß der "Großvater" (wie die politische Elite Jelzin liebevoll nannte) ein überzeugter Reformanhänger war. Kaum hatte er sich etwas erholt und kam aus dem Krankenhaus, stürmte er sofort wieder "auf den Panzer" und schuf neue Reformgruppen. Schade nur, daß wegen seiner Krankheit Jelzins klare Phasen immer seltener wurden.


Mein "Großvater" Jelzin

Unter Jelzin mußte ein Journalist nichts Besonderes vorweisen, um in den Kremlpool zu gelangen, also in die Gruppe von Journalisten, die mit dem Präsidenten auf Reisen gingen und über die Interna aus dem Kreml berichten durften. Man mußte vom Chefredakteur einer Zeitung für den besten politischen Journalisten seines Blattes gehalten werden, und der mußte einen offiziellen Brief mit der Bitte um Akkreditierung an den Kreml schicken. Genauso lief es bei mir. Unter Jelzin erlaubte sich die Pressestelle des Präsidenten keine so offene ideologische Ausgrenzung wie jetzt unter Putin. Sie war verpflichtet, jeden Journalisten auf Wunsch seiner Redaktion hin zu akkreditieren. Von Jelzin wußten ohnehin alle: In welcher Verfassung er auch gerade sein mochte - tot oder lebendig, betrunken oder nüchtern -, er vergötterte Journalisten. Und die Journalisten erwiderten sein Gefühl. Er hatte eine ungewöhnliche, für einen ehemaligen Parteifunktionär unglaubliche Ehrfurcht vor der Pressefreiheit. Nie hat er einen kritischen Journalisten angerührt, ihm die Akkreditierung entzogen oder gar einen Fernsehsender verboten (wie Putin es tat). Und das, obwohl der arme "Großvater" Jelzin für seine "unpopulären", aber für das Land unabdingbaren strengen Wirtschaftsreformen in der Presse dermaßen mit Dreck beworfen wurde wie wohl nie ein Präsident zuvor. Jelzin rannte immer als erster auf uns Journalisten zu, als wären wir seine besten Freunde, und zeigte uns sein breites Lächeln. Auch als er sehr krank war. Eigentlich sind diese Liebe zu Journalisten und die ungewöhnliche Freimütigkeit wohl das, was man gewöhnlich als "Begabung" eines Politikers bei öffentlichen Auftritten bezeichnet. Etwas, das Putin völlig fehlt.
     Auch während der Reisen mit Jelzin durch Rußland und ins Ausland hatte ich persönlich mehrfach die Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen. Niemand hat meine Fragen vorher "gefiltert", wie es unter Putin praktiziert wird. Das größte und letztlich für Rußland fatale Problem, das Jelzin hatte, waren seine Gesundheit und sein Hang zu Spirituosen. Selbstverständlich hatte jeder am Zarenhof seine eigene Version über die Natur der Krankheit.
     "Sie müssen wissen, mit dem rechten Ohr kann Boris Nikolajewitsch praktisch nichts hören. Und alle machen sich darüber lustig, daß ich ihm ständig alle Fragen erkläre, angeblich um vorzubeugen, daß der Präsident unangemessen antwortet, oder weil er etwas nicht ganz begriffen hat, dabei hat Boris Nikolajewitsch die Frage einfach nicht richtig gehört, und ich spreche sie ihm nur ins linke Ohr", so erklärte uns fürsorglich der legendäre Pressesprecher Jelzins, Sergei Jastrschembski, in einem inoffiziellen Gespräch. Es war derselbe Jastrschembski, der den internationalen Journalisten zur Zeit von Jelzins Herzinfarkten über den "kräftigen Händedruck " des Präsidenten berichtete. (Unter Putin ist er mittlerweile Präsidentenberater zu Fragen der außenpolitischen Beziehungen mit der Europäischen Union. Davor setzte Putin Jastreb, den "Falken", wie ihn insgeheim alle Journalisten in Anspielung auf seinen Nachnamen nannten, als Chef der Behörde ein, die den Tschetschenienkrieg mit Propaganda und PR zu vertuschen versuchte.)
     Damals versuchten wir gutgläubig, dem Rat seines Pressesprechers zu folgen und Jelzin unsere Fragen in sein intaktes, linkes Ohr zu schreien: "Boris Nikolajewitsch! Stimmt es, daß Sie gestern in Moskau sagten, Sie hätten mit Kofi Annan bereits eine Verabredung bezüglich einer Reise in den Irak getroffen? Können Sie das bestätigen? Immerhin gibt es eine dem widersprechende Meldung, wonach Annan auf eine Reise verzichtet, weil die UNO kein Mandat hat", fragten wir Jelzin bei einer Zeremonie im Präsidentenpalast in Rom.
     "Nein! Das stimmt nicht! So etwas habe ich nie gesagt! Das ist eine Fehlinformation!" widersprach Jelzin entrüstet. "Ich? In den Irak? Nein! Ich fahre nicht in den Irak! Ich habe so etwas nie gesagt!"
     "Aber doch nicht Sie, sondern An-nan! An-nan!" riefen wir Journalisten des Kremlpools Silbe für Silbe im Chor und bemühten uns, wie uns Jastrschembski gebeten hatte, von links an Jelzin heranzutreten.
     Oder in Birmingham, auf dem G7-plus-Rußland-Gipfel, als Jelzin plötzlich anfing, mit sich selbst zu sprechen, und das auch noch über den Dolmetscher.
     "Sie sind zu spät!" warf er den Regierungschefs der führenden Industrieländer vor, als er früher als alle anderen zur Tagung kam. Der Dolmetscher übersetzte diesen Satz, und nachdem sich alle gesetzt hatten, wiederholte ihn auch der englische Dolmetscher. Unser Dolmetscher wiederum, der den Satz "Sie sind zu spät" auf Englisch hörte, beschloß, ihn wiederum ins Russische zu übersetzen.
     "Ich?! Ich bin zu spät?!" empörte sich Jelzin, als er seine eigenen Worte im Kopfhörer vernahm. "Sie sind es, die zu spät gekommen sind!!!"
     Ja, er war krank. Und manchmal verhielt er sich nicht ganz angemessen. Aber er war nie niederträchtig. Und sobald er wieder gesund war und physisch in der Lage, mit den Wählern zu sprechen, vergötterte ihn das Volk. Nur leider gab es solche Momente immer seltener. Ich kann Ihnen kaum sagen, wie froh ich war, wenn "Großvater" Jelzin sich über längere Zeit auf den Beinen hielt und keine Dummheiten von sich gab! Denn wenn dem nicht so war, dann wäre ich auf Reisen mit ihm oft am liebsten in Tränen ausgebrochen oder gar im Boden versunken. Obwohl ich mich vom Standpunkt eines Paparazzos aus über das "brandheiße" Material hätte freuen sollen.

Teil 3


Informationen zum Buch und zur Autorin hier