Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biografie. Teil 2

13.08.2007.
Kleist hat in seinen Werken - das ist eingangs schon gesagt worden - nicht autobiographisch seine Lebenswirklichkeit in literarisches Geschehen übersetzt. Dazu hatten die seiner Phantasie entspringenden Gestalten und Ereignisse eine zu starke eigene Realität. Die Wirklichkeit seiner Dichtung schuf er sich neben oder über der­jenigen, in der er existierte. Dennoch reizt es, einem ganz bestimmten, unübersehbar direkten Ver­weis nachzugehen. Michael Kohlhaas, der um zweier Pferde willen für die Gerech­tigkeit in den Krieg zieht und zum Mörder wird, ist bereit, für das von ihm begangene Un­recht seinen Kopf auf den Henkersblock zu legen, wenn ihm nur zugleich Recht wird und ihm die Pferde in bestem Zustand wiedererstattet werden. Diese Pferde aber, so erklärt er in seiner Todes­stunde, schenke er "seinen beiden Söhnen Heinrich und Leopold". Nicht nur gewährt wird ihm die Bitte, sondern der bran­denburgische Kurfürst ruft nach vollstrecktem Urteil sogar "die Söhne des Abgeschiedenen herbei" und schlägt die beiden Wai­sen, "mit der Erklärung an den Erzkanzler, daß sie in seiner Pagenschule erzogen werden sollten, zu Rittern."(12) Ob Leopold von Kleist je die Novelle seines Bruders Heinrich gelesen hat, wissen wir nicht, ebensowenig wie wir wis­sen, wie träumerisch ernst oder spielerisch leicht, wenn nicht gar ironisch Kleist ein solches Namenszitat in der Apo­theose seines Werkes gemeint hat. Denkbar ist beides und am denkbarsten, daß er es wohl selbst nicht hätte ent­scheiden können. Aber es fällt dann eben doch auf, wie Kleist hier und immer wieder den möglichen Schicksalen von Waisen­kindern nachgeht. Adoptiveltern werden sich nach dem Erdbeben in Chili des kleinen Philipp glücklich annehmen, dessen natürliche Eltern von einer aufgehetzten Meute erschlagen worden sind. Ein reicher italienischer Kaufmann wird mitleidig einen Findling auflesen, der freilich ihm und seinem Hause nur Unglück bringt. Ein verliebter preußischer Prinz wird im Landesherrn seinen Vater sehen und dennoch von ihm zum Tode verurteilt werden. Höhere Väter treten den irdischen zur Seite: das Käthchen von Heilbronn ist in Wirklichkeit eine Kaiserstochter, und jener Knabe Herkules, den Alkmene ge­bären wird, hat nicht den ihr angetrauten Am­phitryon, sondern den höchsten Gott Jupiter zum Erzeuger. Was die Marquise von O? angeht, so besteht sogar für einen Moment der frivole Verdacht, daß sich hier, gleich­falls unbefleckt, jene allerhöchste Vater­schaft wiederholt habe, die zu einer Gründungsmythe der gesamten Christenheit geworden ist. Ein anderes Mal schließlich, ganz zu Anfang von Kleists Lebenswerk, in den dramatischen Wir­rungen um die Fa­milie Schrof­fenstein, treiben verblendete Elternpaare die eigenen Kinder in den Tod. Gott­vater - Landesvater - Familienvater: die Rollen vermengen sich, und die Neigung dazu mag dort um so eher entstehen, wo die naturge­gebene Fa­mi­lienbindung durch den Tod der Eltern früh gestört worden ist; Kleist verlor seinen Vater in einem Alter, in dem Väter von den Kindern erst so recht als Persönlichkeiten wahrgenommen zu werden beginnen. Rückbezüge literarischer Figuren und Handlungen auf das Leben der Verfasser sind indes von geringem Belang, wenn sie nichts als das sind. In Kleists Fall jedoch in­­ten­si­vie­ren solche Beobachtungen nicht nur die zwiespältige Bedeutung, die das emotionale Ver­hält­nis zu seiner eigenen Fami­lie für ihn zeit­lebens besaß, sondern sie weiten auch den Blick auf zentrale Themen sei­nes Denkens und Schreibens ebenso wie auf zentrale Konflikte seines Daseins in einer Zeit, in der tradierte gesellschaftliche Lebensformen erschüttert wurden und sich wandelten.

Um es zu wiederholen: der Name ist der kostbarste Besitz des Adels, aber er ist auch ein Besitz, dessen man sich nicht entledigen kann, wenn er zur Last wird. Mit ihm ist eine Rolle in der Gesellschaft festgelegt, wobei der Familienverband den ideellen Besitz hütet und den materiellen verwaltet, was zu manchen Interessenkollisionen führen kann. Heinrich von Kleist hat es mehrfach an sich erfahren müssen, aber an die Autorität der Instanz Familie blieb er gebunden, und das nicht allein um des Geldes willen. Der Wunsch, ein guter Mensch zu werden, etwas Großes zu vollbringen, hat ihn sein Leben lang bewegt; das ist nichts Außerordentliches. Er hatte da seine Ruhmes-, Glücks- und Machtphantasien wie andere Menschen auch, nur daß die Kraft seiner Phantasie und die Gabe, sie auszudrücken, sehr viel größer waren als bei diesen. Damit aber ging auch die Fähigkeit einher, sich und andere bis in die feinsten Verästelungen ihrer Motive zu verstehen, was ihn oft seine Unbefangenheit kostete und in Krisen trieb. Aus der Zeit seiner ersten, ver­zweifelten Arbeit am Robert Guiskard stammt der Satz an die Schwester Ulrike, er habe mit diesem Drama nun "ein Halb­tau­send hinter einander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet, an den Versuch gesetzt, zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie herab­zu­ringen".(13) Das Be­wußt­sein, einer großen und an öffentlichen Ehren reichen Familie anzugehören, der Wunsch, ihrer würdig zu sein, Verdienste zu er­ringen, hat Kleist immer wieder motiviert oder aber verstörtbis ans Ende seines Lebens. Seine Außerordentlichkeit, die ihn auch vor sich selbst als schwierig erscheinen ließ, und der frühe Verlust der Eltern haben dabei ineinander gewirkt; Auflehnung gegen andere erziehe­rische Autorität als die elterliche fällt leichter. So zeigten sich ihm die Wandlungen im Fa­mi­lien­verständnis der Zeit vom dynastischen Patriar­chalismus zu bürgerlicher Intimität aus einer besonderen Perspektive.(14)

An der Erziehung zu preußisch-adligem Lebensstil gab es keine Zweifel. Christian Ernst Martini, später angesehener Schulrektor in Frank­furt und Kleist gegenüber ein Freund und Vertrauter fürs Leben, führte ihn und den fast gleichaltrigen Vetter Carl Otto Philipp von Pannwitz in die Anfangsgründe des Lernens und Wis­sens ein. Als der Vater starb, war Kleist gerade erst ein paar Monate, von Januar bis Mai 1788, in Berlin gewesen, wo der hugenottische Prediger Sa­­muel Henri Catel und sein Schwager Frederic Guillaume Hauchecorne, der eine Privatschule besaß, seine Einführung in jenen fran­zö­sischen Geist leiten sollten, in dem Hof und Adel sprachen und dachten.(15) Die beiden Mitschüler dort waren zwei etwas ältere Vettern, Ernst von Schönfeldt und Wilhelm Ludwig von Pann­witz, ein Bruder Carls; er heiratete später Kleists Schwester Auguste, administrierte das Familien­ver­mö­gen der Kleists und konnte es, wie schon erwähnt, durchaus nicht begreifen, daß sein dichtender Schwa­ger nicht am Ta­ge einer ordentlichen Arbeit nachging und die poeti­sche Tätigkeit auf seine Muße­stun­­den beschränkte.

Im Kreise von Mutter, fünf Schwestern und einem jüngeren Bruder also wuchs Kleist in Frankfurt heran. Berichte über diese Zeit sind spärlich und stammen aus späterer Zeit, zumeist getönt durch Vorstellungen von innig-intimer Bürgerlichkeit, wie sie kaum einer preußischen Adelsfamilie am Ausgang des 18. Jahrhunderts entsprachen. Sicher ist allerdings, daß Reichtum in der Familie nicht zu Hause war; der König verweigerte der Mutter sogar eine Pension, "weil die zu Pensionen bestimmten Fonds erschöpft sind".(16) Ein gesetzlicher Vormund, der Frankfurter Stadtsyndikus George Friedrich Dames, mußte bestellt werden, denn so verlangte es das Recht, das Frauen eine solche Rolle noch nicht zuerkannte. Das Haus in Frankfurt blieb Juliane von Kleist dennoch sowie Einkünfte aus dem kleinen Gut Guhrow im Spreewald, das man 1783 erworben hatte. Die Töchter aus erster Ehe behielten überdies einiges aus dem Erbe ihrer Mutter; Ulrike von Kleist hat es oft gebraucht, um Heinrich ab und zu aus dieser oder jener finan­ziellen Not zu befreien. Im übrigen war erstes Lebensziel der älteren Töchter, einen standesgemäßen Mann zu finden, um "versorgt" zu sein. Nur Ulrike von Kleist erwies sich als Ausnahmepersönlichkeit, die diesen Weg nicht zu gehen bereit war; Kleist hat des öfteren in seinen Briefen über die physische wie psychische Eigenart seiner Schwester Reflektionen angestellt, worauf noch zurückzukommen sein wird. Sie blieb ihm jedenfalls über die ganze Dauer seines Lebens der nächste aller Menschen.

Hinsichtlich des Knaben selbst hatte der König - das war inzwischen Friedrich Wilhelm II. - zunächst die "aller­gnä­dig­ste Intention", ihn, den ältesten Sohn, in die Militärakademie zu schicken, aber das konnte abgewendet werden, denn durch einen solchen Schritt hätte die Mutter nur dessen Anteil am väterlichen Erbe verloren. Lange dauerte es dennoch nicht, daß Kleist diesen Weg ging: Im Juni 1792 wird er als "Gefreiter-Korporal" in das Garderegiment 15b zu Potsdam aufge­nom­men; es war ein Unteroffiziersrang für angehende Offiziere, also junge Adlige. Kurz vor dem Tod der Mutter hat er dann noch einmal Urlaub nach Frankfurt erhalten; nach ihrer Beerdigung mußte er seinem Regiment in den Krieg nach­reisen, denn der breitete sich inzwischen über den Westen Deutschlands aus. Heinrich von Kleists Kindheit war zu Ende.

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(12) DKV, Bd. 3, S. 140-142.
(13) DKV, Bd. 4, S. 320.
(14) Vgl. Stephens, Sprache, S. 91.
(15) Zu den Unsicherheiten der Datierung vgl. Häker, Kleist, S. 173-185.
(16) Hoffmann, Paul: Ein Brief der Mutter Heinrich v. Kleists. In: bKG 1931/32, S. 112, 114.


Teil 3

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