Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hilary Spurling: La Grande Therese. Teil 2

05.03.2007.
Emotionale Zuwendung erhielt sie von ihrer alten Vertrauten Catherine Parayre. Als Thereses Stellvertreterin verwaltete Madame Parayre das Haus mit einem zwanzigköpfigen Personal unter ihrer Leitung und einem jährlichen Budget von zweihunderttausend Francs. Sie gab eine hervorragende Kastellanin ab: Mit ihrem stocksteifen, starrsinnigen und zugeknöpften Auftreten war sie der Schrecken all derer, die erfolglos versuchten, sich Zugang zum Anwesen Avenue de la Grande Armee Nr. 65 zu verschaffen. Der Zweitwichtigste des Clans war Romain Daurignac, der sich um die Neuankömmlinge kümmerte (mit Ausnahme der geladenen Prominenz), sobald sie den Zerberus am Eingangsportal überwunden hatten. Romain war der Spaßvogel der Familie. Der gut aussehende kleine Mann mit den dunklen Haaren und dem schwarzem Schnurrbart, der Eloquenz und ein Gespür für witzige Bonmots besaß, war in ganz Frankreich für seine Schwester geschäftlich unterwegs und hatte in jeder Stadt ein Mädchen. Doch hinter all dem verbarg sich auch eine dunklere Seite. War Frederic der Kopf der ganzen Produktion, Madame Parayre die Inspizientin und Therese der unangefochtene Bühnenstar, so operierte Romain hinter den Kulissen, wo unsichtbare Fäden gezogen, Hebel in Gang gesetzt und Fallen gestellt wurden. Er hatte sein eigenes Domizil in einem Hinterflügel des Hauses mit einem separaten Eingang zur Rue Pergolese hin, gleich neben der Remise, dem Hof und den Pferdeställen.

Sein Bruder Emile - ein stämmiger Bartträger, der älter aussah, als seine dreißig Jahre vermuten ließen - verlieh dem Clan so etwas wie Respektabilität. Er lebte in einer eigenen, relativ bescheidenen Wohnung an der Rue de Rivoli, die er sich mit seiner Frau, zwei kleinen Kindern und seinen betagten Schwiegereltern teilte. Gustave Humbert war nach seiner Entlassung als Justizminister zum Vizepräsidenten des Senats ernannt worden, 1889 wurde er Richter am Obersten Gerichtshof und im Jahr darauf Präsident des Rechnungshofes. Ehrwürdig und verehrt, überschüttet mit Auszeichnungen einer dankbaren Nation, ließ er dem Familienunternehmen nicht nur seine juristische Kompetenz angedeihen, sondern verschaffte ihm auch den unschätzbaren Vorteil seines bedeutenden Namens und Renommees.

Die drei älteren Daurignacs hatten bei allem, was sie taten, stets eine Einheit gebildet, von der die beiden nachfolgenden Geschwister - Louis und Marie-Louise - eigentlich immer ausgeschlossen blieben. Als Kinder waren sie zu jung gewesen und als Erwachsene zu aufsässig. Louis, der sich Thereses Plan widersetzt hatte, ihn bei den Trappisten unterzubringen, galt gemeinhin als der einzige ehrliche Daurignac. Mit den Inszenierungen seiner Schwester wollte er nichts zu tun haben, und diese behandelte ihn genau so rücksichtslos wie alle Leute, die sie irgendwie nervten: Sie verbannte sie - körperlich oder mental - und tat immer wieder so, als habe es nicht das geringste Problem gegeben. Im Falle von Louis kaufte sie kurzerhand einen Kolonialbesitz in Tunesien und schickte ihn als Verwalter dorthin. Ein ähnliches Schicksal erwartete Marie-Louise, die sich seit Kindertagen gegen Therese zur Wehr gesetzt hatte: Man arrangierte eine Hochzeit mit Frederics Cousin Lucien Humbert, der als französischer Konsul in den Kaukasus abgeschoben wurde, wo er einer Cholera-Erkrankung zum Opfer fiel und seine Witwe mit zwei kleinen Kindern zurückließ, für die sie Sorge zu tragen hatte.

Das Nesthäkchen Maria, das bravste aller Daurignac-Kinder, war immer Thereses Liebling gewesen. Sie hatte zwar nichts vom Feuer und vom Biß ihrer ältesten Schwester, und als große Schönheit konnte man sie auch nicht unbedingt bezeichnen. Doch sie war schlank, geschmeidig und liebenswürdig und besaß darüber hinaus den Reiz, im Besitz einer eigenen Erbschaft zu sein. Noch zu ihrer Zeit in Aussonne (als der cure in seinem Testament Maria angeblich mit einer hübschen Summe Geld bedachte) hatte Therese dafür gesorgt, daß ihre kleine Schwester als Erbin des bescheidenen Nachlasses eingesetzt wurde. Maria besaß eine Begabung für anmutige Improvisationen, die von Therese gefördert wurde. Ihre eigene Tochter Eve war noch zu klein und ähnelte vom Temperament her zu sehr ihrem Vater, als daß in dieser Hinsicht irgend etwas von ihr zu erwarten gewesen wäre. Maria hingegen war willfährig genug, um sich Vorschriften machen zu lassen, andererseits aber auch eine echte Daurignac, nämlich insofern, als es ihr großes Vergnügen bereitete, ihre Rolle auszuschmücken, sobald sie einigermaßen textsicher war. Sie wurde die Adoptivtochter des Hauses Humbert, eine Prinzessin, die von den "Dauphins der Dritten Republik", wie ein zeitgenössischer Beobachter sie nannte, umworben und erobert werden sollte. Im Laufe der Jahre schien es bisweilen so, als würde die Hälfte aller hoffnungsvollen jungen Vertreter der Pariser Anwaltschaft um Marias Hand anhalten.

Dem alten Daurignac - ein Mann bereits hoch in den Sechzigern, als ihm sein jüngstes Kind geboren wurde - war es gerade noch vergönnt, die Erfüllung seiner kühnsten Träume persönlich mitzuerleben. Als der Comte d?Aurignac - der es durch einen Akt der Selbstnobilitierung schließlich sogar zur Grafenwürde gebracht hatte - 1886 das Zeitliche segnete, wurde sein Ableben mit einem Pomp und einer Herrlichkeit zelebriert, welche der Erbärmlichkeit seiner Geburt fünfundachtzig Jahre zuvor in nichts nachstanden. Nach der Aufbahrung im Hause seiner ältesten Tochter wurde sein Leichnam zu einer feierlichen Trauerzeremonie in die mit Goldschmuck überladene Prominentenkirche Saint-Honore d?Eylau im mondänen 16. Arrondissement geleitet. Eigenwillig bis zum letzten Atemzug hatte er um seine testamentarischen Vorkehrungen ein solches Aufhebens gemacht, daß noch in der Nacht seines Todes Armand Parayre herbeigerufen werden mußte, um - mit dem Revolver in der Hand - den Familientresor gegen unerlaubte Zugriffe zu bewachen.

Dieser legendäre Safe - in Mysterien gehüllt wie alle Erbtruhen der Daurignacs - barg das Geheimnis im Herzen des großen Hauses an der Avenue de la Grande Armee. In seinem Innern ruhten die imaginären Crawford-Millionen in Form von Inhaberschuldverschreibungen. Ihm war ein eigener verschlossener Raum in der dritten Etage reserviert, den außer Monsieur oder Madame Humbert nie jemand betrat (mit Ausnahme von Madame Parayre, die das gute Stück einmal wöchentlich polierte). Gelegentlich durften handverlesene Besucher - meistens ein neugieriger oder mit Vorsicht zu behandelnder Anwalt - einen Blick durch die Tür des Zimmers werfen. Und in ganz seltenen Fällen wurde der Safe sogar für einen kurzen Augenblick geöffnet, damit ein wichtiger Gläubiger in respektvollem Schweigen die voluminösen Pakete voller versiegelter Umschläge betrachten konnte, welche den verborgenen Schatz enthielten. Mehr als einmal wurde der loyalste Beauftragte der Familie - Maître Dumort, ein prominenter Provinzanwalt aus Rouen - heimlich ins Nachbarzimmer eingeschleust, so daß er durch einen Spalt in der Wand zuschauen konnte, wie Frederic Humbert und Romain Daurignac die Verpackungen aufschnürten, um die jährlichen Coupons von den Schuldverschreibungen abzuschneiden.

Jeden Sommer, wenn die Familie in die Ferien nach Vives-Eaux aufbrach, fand dasselbe Ritual statt: Die Pakete wurden in einem Koffer verstaut, den Therese vor den Augen des versammelten Personals nach unten brachte, um ihn Armand Parayre für die Reise ans Handgelenk zu ketten. Parayres Loyalität gegenüber dem Justizminister war nie zu erschüttern. Nachdem er einst den neuen Anbruch des republikanischen Idealismus mit der Sache der Humberts gleichgesetzt hatte, diente er beiden mit der bedingungslosen Hingabe eines stolzen, generösen Charakters. Der kleine, drahtige Mann mit den dunklen Haaren und dem olivfarbenem Teint konnte in einem Anfall von Enthusiasmus oder Empörung gleichermaßen Feuer fangen. Die Fäuste verstand er ebenso gut zu handhaben wie den Revolver, er war ein schneller Schütze und sehr geschickt in der Kunst der Selbstverteidigung. 1885 schlug er sich in Melun erfolgreich mit einem journalistischen Rivalen in einem Duell, in dem es um die Pressefreiheit ging. Wann immer die Ehre der Humberts auf dem Spiel stand, wurde Parayre an die Front geschickt, um sie wiederherzustellen.

Leseprobe Teil 3

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