Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Kristian Ditlev Jensen: Leibspeise. Teil 2

07.08.2006.
S.168 ff

NEW YORK

Der Lehmgeborene

Im Herbst hat Amerika eine Farbe wie Karamelle. Eine Farbe wie getrockneter Lehm. Hellgolden.
Ich habe Hyde Park immer geliebt. Der Name der Stadt ist der gleiche wie der des Parks drüben in London. Aber hier oben, Upstate New York, sind überall schwankende Baumgipfel. Besonders im Herbst ist es spektakulär. Die USA haben völlig andere Farben als andere Länder. Dänemark ist sehr viel saftiger grün. England ist schwerer dunkelbraun. Japan ist synthetisch hellgrün und hellrot.
Danish Press. I am here to inspect the Craig Claiborne Collection at the Culinary Institute of America", sage ich und zeige dem Wachmann am Tor den Presseausweis, die kleine Plastikkarte mit den anmaßenden roten Buchstaben auf der Vorderseite.
Sie gestattet den Zugang auch hinter Polizeiabsperrungen. Aber wichtiger noch: Sie gestattet ihrem Besitzer den Zugang ins Tivoli - mit Begleitung. Zumindest früher. Ehe es geändert wurde, weil alle Journalisten mit ihren Frauen dorthin wallfahrteten. Midori liebte das Tivoli.
Bei wichtigen Aufgaben erwähne ich Dänemark nicht. Dann werfe ich statt dessen meinen amerikanischen Presseausweis hin und sage: The Times. Das ist einer der Vorteile, für Zeitungen sowohl in Dänemark als auch in der gesamten angelsächsischen Welt zu schreiben, vom Geld und der Freiheit, die einem das gibt, ganz zu schweigen - Arbeitgeber wie The New York Times, Herald Tribune und The Guardian vermitteln Respekt. Selbst wenn das, was man ihnen liefert, nur eine wöchentliche und mehrfach verwertete Glosse über Wein ist.
"Step right in, Sir", sagt der Mann, der mit seinem Rosinenkopf über der königsblauen Uniform aussieht wie ein schwarzer Landarbeiter beim alljährlichen Ausflug.
"Thank you", antworte ich mit amerikanischem Akzent.
Der stellt sich immer schnell ein, wenn ich in den USA bin. Besonders auf dieser Reise, für die ich tagelang gelesen habe, bin ich schon am ersten Tag in einer Fourth-of-July-Stimmung. Diese gehört zu den Geschichten, an denen mir wirklich etwas liegt. Wenn sie in die Sonntagszeitung kommt, wird das ein Scoop. Eine Reportage vom Ursprung aller Restaurantkritik und dem, was davon übriggeblieben ist. Um mich vorzubereiten, habe ich im Büro den ganzen Stapel noch einmal durchgesehen: New York Times Cookbook, Craig Claiborne s Gourmet Diet, Craig Claiborne s Memorable Meals, Craig Claiborne s Southern Cooking, A Feast Made For Laughter: A Memoir with Recipes ... plus die Artikel und Homepages im Internet. Die Leser werden es verschlingen.
Einmal lag ich auf dem Sofa im Londoner Elternhaus eines meiner Freunde, trank Tee und las eine zerknitterte alte Nummer des Gentleman's Quarterly. Da stieß ich auf das Interview mit dem Hotelkritiker des Guide Michelin. Es war eine tolle Geschichte über einen Mann, der das hatte, was ich schon damals als Traumjob empfand. Seine Arbeit bestand einfach darin, anstrengend zu sein. In dem Interview erzählte er - anonym und ohne Bild - von seinen Arbeitsmethoden.
Er buchte ein Zimmer in dem Hotel, das bewertet werden sollte. Dabei betonte er, bereits in einer Viertelstunde zu kommen, und zwar mit einem Stoß Koffer, der bis zur Decke reichte, sowie seiner kleinen Katze Clemence. Während er seinen Geschäften nachginge, müsse sich jemand um das eine oder andere kümmern. Außerdem erwarte er an diesem heißen Tag bei seiner Ankunft eine exzellente Eisspeise. Genauer gesagt, erwarte er Sorbet von Äpfeln, von Boysenbeeren und von Ananas. Stellte das ein Problem dar, machte er mit seiner Beurteilung gar nicht erst weiter. Aber das kam selten vor.
Zwei Stunden nach der geplanten Ankunft rief er an und korrigierte seine zu erwartende Ankunftszeit auf ein Uhr in der Nacht. Es habe ein Problem gegeben, leider. Darauf bestellte er ein Menü, drei Gänge, das bei seinem Eintreffen bereitstehen solle. Nein, kein Club-Sandwich und kühles Bier, nein danke. Und nein, kein frischer sommerlicher Salat, dazu Weißwein. Nein, auch nicht Room Service, sondern drei Gerichte. Eine gute Suppe, frisch gekocht, ein gründlich zubereitetes Fleischgericht und eine Überraschung aus der süßen Küche. In der Regel bedeutete das, daß die Küche außergewöhnlich lange geöffnet bleiben mußte. Was in den großen Hotels meist auch kein Problem darstellte.
Um acht Uhr abends gestaltete er dann seinen überraschend früheren Auftritt. Ja, leider, da ging etwas durcheinander mit den Abflugzeiten, aber hier war er nun also. War das Zimmer bereit? Gut! Er hatte nämlich auch Hunger. Was könnten sie ihm innerhalb von einer halben Stunde auf seinem Zimmer anbieten? Nun war heute doch sein Geburtstag, und er hatte eine Verabredung für die Abendvorstellung im Royal, da sollte es bitte ein richtiges Festmenü sein. Kaum auf dem Zimmer, rief er sofort an und beklagte sich über die Aussicht. Ging die Aussicht auf eine Mauer, litt er furchtbar unter Klaustrophobie. Ging die Aussicht auf die Seine, das Tadsch Mahal oder Stockholms Altstadt, litt er regelmäßig an furchtbarer Agoraphobie. Alternativ war es zu hell oder zu weit unten oder zuviel Verkehrslärm. Oder das Zimmer war ganz einfach zu klein für einen so großen Mann wie ihn.
Eine Viertelstunde vor dem Servieren des Essens, dessen Zubereitung in aller Eile tief unter seinem neuen und stets besseren Zimmer stattfand, rief er an und berichtete von seinen Allergien. Ja, er habe vergessen, das zu erwähnen, und ja, es täte ihm leid, aber zum Glück sei es ja noch nicht so schlimm. Hauptsache, im Essen seien kein Gluten oder Ei oder Milchprodukte, dann ginge es wohl. Kurz darauf klopfte es, und breit lächelnd wurden die drei Gerichte serviert. Wenn das Hotel ein Haus von hoher Qualität war. Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits zwei Kabel am Fernseher vertauscht und eine Batterie in der Fernbedienung für die Markise umgedreht.
Fünf Minuten Ruhepause auf dem Bett. Dann rief er an. Der Fernseher funktioniere nicht, und die Markise, was sei mit der? Er bat laufend um neue Kopfkissen, klagte über die allzu harten oder weichen Matratzen, das Shampoo mit Sandelholzparfum mußte ausgewechselt werden. Er bat, man möge ihm einen Friseur mit Spezialkenntnissen für Toupets nennen, plötzlich wollte er alles über die archäologische Geschichte der Stadt wissen. Jedesmal, wenn er auscheckte, stahl er sämtliche Handtücher. Und sobald er auch nur eine Silbe deswegen hörte, kostete es sie einen Stern.
Ich hatte gebrüllt vor Lachen. Das mußte doch der beste Job sein, den man sich vorstellen konnte! Seine Umgebung nach Strich und Faden zu schikanieren und dafür bezahlt zu werden.
Ich werde ins Herzstück der Bibliothek des Kulinarischen Instituts geführt. Zu all den Büchern aus Craigs Nachlaß. Seinen eigenen. Ich kann sie anfassen. Auf der Vorderseite des Buchs über Malay Cuisine ist ein Fleck Pfannkuchenteig. In einem der italienischen Bücher sind große Kaffee ecken. Außen auf einem der Bücher über Fleisch ist etwas Schwarzbraunes. Rinderblut. Oder Amarena-Kirschsoße.
Ich hörte zum ersten Mal von Craig Claiborne, als ich unterwegs zu einem meiner Studienaufenthalte in Kalifornien im Kennedy Airport über ein Porträt von ihm stolperte, das die New York Times brachte, als er 1986 in Pension ging. Ich war sprachlos. Er war der Mann, der die Restaurantkritik erfunden hatte.
Man muß das vor sich sehen. Ein netter Mann Anfang Dreißig, bekleidet mit einem unscheinbaren, klassischen grauen Anzug, schlendert eines Nachmittags in ein Restaurant auf der Third Avenue und bestellt einen Tisch für vier Personen zu einem Abend genau einen Monat später.
Craig Claibornes beste Zeit war damals, als die USA vor Wohlstand und MOTOWN swingten. Als aus dem Transistorradio in Craigs riesiger, superprofessioneller Hotelküche - die in dem kleinen Haus am Strand in East Hampton eingebaut war, das er vom Sandstrand bis zum Dach rst selbst entworfen hatte - die Four Tops tönten: "Sugar pie, honey bunch, you know that I love you, I can t help myself ...", oder vielleicht: "It s the same old song, but with a different meaning since you ve been gone", während er und Pierre Franey, der Koch im Le Pavillon, das Rezept für ein Souffle mit junger Rouen-Ente für Craigs nächste Kolumne testeten und lachten und Port Flip tranken. Und tanzten?
Wenn ich alle diese Kochbücher durchblättere, überlege ich eine Sekunde lang, ob man ihnen ansehen kann, daß ihr Besitzer schwul war? Daß er ein Restaurantkritiker mit ausgeprägter sexueller Präferenz war? Würde ein verheirateter Mann giftig eine ganze Seite aus einem Kochbuch herausreißen? Oder war das ein Zufall gewesen? Craig hatte, so heißt es, nie einen festen Partner, denn obwohl er vieles mit Männern gemeinsam machte und unternahm, so waren die in der Regel Heterosexuelle und fast immer verheiratet. Irgendwo in seinen Memoiren schreibt er von einem sexuellen Zusammenstoß mit seinem Vater. Mehr hört man dazu nicht. Seitdem ist es, als sei alles Begehren aus dem Ruder gelaufen und endete als Verlangen nach Essen, Essen, Essen.
Und was für ein Verlangen.
Weltberühmt wurde der Restaurantkritiker der New York Times, als er im November 1975 bei einer Auktion anläßlich einer Wohltätigkeitsveranstaltung der öffentlichen Fernsehsender New York Citys das höchste Angebot abgab. Das, wofür Craig Claiborne lumpige dreihundert Dollar bot, war ein Geschenk von American Express: ein Essen für zwei - ohne irgendeine Begrenzung der Rechnung - in welchem Restaurant auch immer auf der Welt, Hauptsache, es akzeptierte American Express. Craig lud Pierre Franey zum Essen in das ziemlich unbekannte Pariser Restaurant Chez Denis ein. Die beiden Männer aßen fünf Stunden lang. Sie aßen 31 Gerichte begleitet von neun Weinen. Für American Express belief sich die Rechnung auf viertausend Dollar. Craig Claiborne bekam die erste Seite der New York Times für die Geschichte vom besten Essen der Welt. Und er bekam mehr als tausend Briefe von wütenden Lesern, die ihn des Prassens in einer von Hunger gequälten Welt bezichtigten. Sogar der Vatikan äußerte sich zu dem Fall, der in der Hochburg der Todsünden "uno scandalo" genannt wurde.
Ich hatte immer das Gefühl, was ihn antrieb, war Snobismus. Ein Mann, der es genoß, dem gewöhnlichen Amerikaner beizubringen, daß ein ecailler - natürlich in guten Restaurants - ein Kellner ist, darauf spezialisiert, Austern zu öffnen. Der aber immerhin dem gewöhnlichen Amerikaner auch beibrachte, ordentlich zu essen.
Einen Monat später. Derselbe Mann kommt mit drei Freunden zu dem Restaurant, in dem ein Tisch bestellt ist. Craig gibt sich nicht zu erkennen, alle bestellen jeweils nur ein Hauptgericht. Er kostet diskret bei den anderen. Und achtet auf Einrichtung, Service, Bedienung und das kulinarische Niveau. Wenige Tage später kann man in der Zeitung lesen, ob das Restaurant einen, zwei, drei oder in seltenen Fällen vier Sterne von Claiborne bekommen hat.
Craig Claiborne war in der Geschichte der USA der erste Restaurantkritiker mit professioneller Ausbildung in einer Küche. Und er war in jeder Hinsicht ausgebildet. Durch seine Mutter, die in seiner Kindheit in Indianola eine Pension betrieb, wo schwarze Köche aus den Südstaaten nach den Rezepten, die sie von ihren Eltern in Sunflower, Mississippi, geerbt hatte, kochten. Durch seine Begegnung mit stark gewürztem Lamm mit Couscous als Soldat in Marokko. Durch die Begegnung mit koreanischer Kochkunst, als er sich im Koreakrieg wieder freiwillig meldete. Durch die Begegnung mit der französischen Küche auf der Ile de France. Durch die Ausbildung, die er mit Unterstützung des Militärs im schweizerischen Lausanne an der Ecole Hoteliere erhielt.
Midori erzählte das eines Tages beim Essen. Sie war zum Dänischunterricht gewesen, und ihr Lehrer hatte die Schüler Horoskope in einer Lifestyle-Zeitung lesen lassen.
"Craig Claiborne ist ein jung Frau", sagte sie laut und deutlich über den Teller mit brennender Liebe. Ich hatte das Gericht für sie gekocht, denn ich wußte, daß sie den Namen so witzig fand.
Sie erklärte mir, der Lehrer habe erklärt, das bedeute, daß er kritisch geboren sei. Dann fragte ich, was denn mit den Skorpionen sei? Da lachte sie und sagte, Skorpione seien hungrig. Und dann sagte sie, daß der große Stier derjenige sei, der alles materielle Glück schaffe, aber der könne doch immer auf den kleinen Skorpion treten, wenn der zu kritisch würde. Sie hielt sich die Finger als kleine Hörner an die Stirn und fauchte gefährlich, ich formte mit meinen Händen Klauen und kniff sie in die Wange.
In Wahrheit war sie es, die kritisch war. Hysterisch kritisch. In den letzten sechs Monaten ihres Lebens gab es nichts, das gut genug war. Am Schluß war es eine Frage der Perspektive. Nicht des objektiven Gut-genug-Seins, sondern alles wurde ewig gedreht und gewendet, und am Ende war es doch falsch. Zu klein. Oder viel zu groß. Mit meinem kleinen Blumenstrauß machte ich viel zuviel aus unserem Hochzeitstag, denn die ganze Hochzeit war im Grunde ja nur eine Formalität, zu der sie mich genötigt hatte. Ich protestierte zwar umgehend, wurde aber scharf mit einem hysterischen "Yamete!" unterbrochen. Nach einem solchen giftigen "Laß es!" blieb nichts mehr zu sagen. Aus ihrem Geburtstag machte ich ein bißchen zuwenig. Ich hatte mehr als dreißig Gäste ins Restaurant eingeladen. Aber das war nicht persönlich genug. Mein Haar war zu blond, manchmal geradezu "unappetitlich". Mein Parfum war zu kräftig, viel zu kräftig. Ich war zu dick, Punkt, aus. Am nächsten Tag war ich zu bodenständig, war ich kein seriöser Mensch, hatte nichts begriffen. Und meine Kritiken? Die waren ober ächlich. Die waren unseriös. Meine Kenntnisse über Essen waren nicht genug. Mein Japanisch war zu schlecht, und wenn ich versuchte, es mit ihrem nach jahrelangem Unterricht für Außenstehende immer noch mehr oder weniger unverständlichen Dänisch zu vergleichen, war ich abscheulich. Dänisch war ja eine viel, viel schwierigere Sprache!
Mein Notizblock ist satt. Er hat Hunderte dänische und amerikanische und französische und italienische und spanische und lateinische Wörter gegessen. Buchtitel, sprechende Details, besondere Fachausdrücke, eigentümliche Zutaten, die präzisen botanischen Angaben von Kräutern und all die vielen kleinen Zitate der Bibliotheksangestellten, die jede Menge Anekdoten zu erzählen wußten. Sobald ich wieder im Hotel bin, will ich die Redaktion anrufen und bitten, auf der ersten Seite des Lifestyle-Teils Platz freizuhalten. Die Geschichte wird gut.
Der Wachmann nickt freundlich, als ich hinausgehe. Das gleiche tun die Bronzebäume, die sich in der Nachmittagssonne für den bevorstehenden Abend umkleiden. Hyde Park ist ein guter Ort zum Nachdenken. Es hilft, die Großstadt ein Stück weit hinter sich zu lassen. Zeit zu bekommen, alle die Eindrücke zu verdauen, die einem New York gibt, und die leicht zu existentieller Verstopfung führen können. So sind die Gedanken wie brauner, getrockneter Lehm im gequälten Kopf. Gedanken, die in der Nacht ganz schwarz werden können. Schwarz wie der glänzende, harte Rückenschild eines Skorpions.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hoffmann und Campe

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