Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit. Teil 3

03.09.2007.
Ich liebte Tante Graces Kochkunst. Und wie vor allem später dann, als man mich auf ein englisches Internat geschickt hatte, fand ich mich oft als letzter vor meinem Teller sitzen, während Onkel Aviv neben mir saß und mir wohlwollend ein weiteres Kibbeh - ovale Pasteten aus Lammfleisch und Burghul - nachlegte oder noch ein paar Löffel Loubia, grüne Bohnen in Tomatensauce, auf meinen Teller lud. Endlich besiegt, sagte ich ihm schließlich, ich könne nicht noch mehr essen. In meinem Internat hatte man mich gelehrt, dass man alles zu essen hatte, was auf dem Teller war. (Noch vierzig Jahre später erinnere ich mich, dort nach dem Mittagessen eine qualvolle halbe Stunde vor meinem Teller verbracht zu haben, während die Hausmutter mich zwang, meine Portion fettes gekochtes Rindfleisch aufzuessen.) Doch in Onkel Avivs gastronomischer Tradition - einer großzügigen arabischen Tradition, in der Gastfreundschaft zentrale Bedeutung besitzt - gilt der Gast erst dann als gesättigt, wenn er etwas auf dem Teller liegen lässt. Ich brauchte eine Weile, bis ich diese beiden verschiedenen Etikette-systeme auseinander halten konnte, aber schließlich lernte ich, dass ich mit den im Lande meiner Mutter üblichen Bräuchen brechen musste, wenn ich bei meinem libanesischen Onkel aß und mich nicht unangenehm vollstopfen wollte.

Ich nehme an, wenn wir in Amerika gelebt hätten, wäre es irgendwann einmal notwendig erschienen, uns christlichen Vettern die Bedeutung des Ramadan zu erklären. Aber wir waren in Ghana, einem Land, in dem Christen, Muslime und Anhänger der traditionellen Religionen Seite an Seite lebten und die andersartigen Bräuche der Nachbarn akzeptierten, ohne sonderliche Neugier darauf zu zeigen. Tante Grace ging auch während des Ramadan jeden Sonntag in die Kirche. Unsere Vettern kamen an Weihnachten zu uns. Während meiner ganzen Kindheit fastete ich im Ramadan, aber was er bedeutete, erfuhr ich erst, als ich viel später als Erwachsener etwas darüber las.

Mohammed selbst unterhielt nach dem Koran freundliche Beziehungen zu den Juden und Christen in Arabien (und wenn er gegen sie kämpfte, so geschah das nicht aus religiösen Gründen). Er scheint den Koran als eine besondere, für die Araber bestimmte Offenbarung desselben einen Gottes verstanden zu haben, der den Bund mit Israel geschlossen und den Christen Jesus geschickt hatte. (Das war mehr als tausend Jahre, bevor Papst Paul VI. in seiner Erklärung "Nostra Aetate" für die Römisch-katholische Kirche feststellte: "Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.") Im Koran heißt es:


     Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn in bester Weise, außer mit jenen von ihnen, die ungerecht handeln; und sprechet: "Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt ward und herabgesandt ward zu euch; und unser Gott und euer Gott ist ein einiger Gott, und ihm sind wir ergeben."


Und ebenso heißt es dort: "Es sei kein Zwang im Glauben."(6)

Nicht nur der Koran, sondern auch die Praxis des Propheten, von der das Ahadith berichtet, verlangt keine Bekehrung des Ahl al-Kitab, des Volkes der Schrift (wie der Koran Juden, Christen und Zoroastrier nennt). Schon im siebten Jahrhundert nahmen die Kalifen, die Nachfolger Mohammeds als Herrscher über das muslimische Reich, das sich im ersten Jahrhundert des Islam explosionsartig über Arabien hinaus ausdehnte, die eroberten christlichen und jüdischen Gemeinden weitgehend unter ihren Schutz und forderten keine Bekehrung. In Persien, wo sie nicht nur auf Juden und Christen, sondern auch auf Zoroastrier stießen, erweiterten sie diese freundliche Behandlung auch auf die Anhänger dieser älteren Tradition. Als Akbar sein muslimisches Reich in Nordindien errichtete, übte er dieselbe Toleranz, mit der die frühen Kalifen dem Volk der Schrift begegnet waren, auch gegenüber den lokalen indischen Traditionen. Er ließ Hindutempel errichten und ermutigte den Dialog zwischen Gelehrten sämtlicher Religionen, darunter neben Juden, Zoroastriern und Anhängern diverser christlicher Sekten auch Sikhs, Buddhisten, Jainiten und sogar Vertreter verschiedener muslimischer Traditionen.

Von alledem wusste ich nichts, als ich jung war. Ich wusste nur, dass mein Onkel Aviv ein frommer Muslim und außerdem auch tolerant und freundlich war. Er kam aus einem von religiösen Streitigkeiten zerrissenen Land. Unter den Muslimen gibt es dort sunnitische und schi-itische Gemeinschaften, die wiederum in Alawiten, Ismaeliten, Zwölfer-Schiiten und Drusen unterteilt sind; bei den Christen gibt es Römisch-, Armenisch- und Syrisch-Katholische, Griechisch-, Armenisch- und Syrisch-Orthodoxe, Chaldäer, Maroniten und diverse protestantische Kirchen. Doch Onkel Aviv schien offen für Menschen aller Glaubensrichtungen zu sein. Vielleicht machte ihn das - nach den Maßstäben der lautesten muslimischen Prediger unserer Zeit - zu einem schlechten Muslim. Aber es machte ihn auch zu einem recht typischen Muslim, wie man ihn in vielen Ländern und Zeiten zu finden vermag. Onkel Aviv hätte zweifellos das Gefühl gehabt, dass seine Form von Islam, die eng mit den Bräuchen und Praktiken seines Herkunftslandes verwoben war, ein reicherer, nachhaltigerer Glaube war als die dünnen Abstraktionen der entwurzelten individualistischen Eiferer des Neofundamentalismus. Aber auch das zu beurteilen ist nicht meine Sache. Dennoch darf man annehmen, dass Muslime seines Schlages zwar nicht so lautstark auftreten mögen wie die Eiferer, sie an Zahl aber mit einiger Sicherheit weit übertreffen.


Kleine Haufen

Wenn Weltbürgertum, schlagwortartig verkürzt, Universalität plus Unterschied ist, könnte es noch einen weiteren Feind geben, nämlich -einen, der Universalität schlechthin ablehnt. "Nicht jeder Mensch zählt", könnte sein Wahlspruch lauten. Wie es in der Vergangenheit auch darum bestellt sein mochte, heute gilt, dass Menschen, die dies sagen, selbst nicht wirklich daran glauben. Bernard Williams schreibt in seinem Buch Ethik und die Grenzen der Philosophie: "Die Moral" - im Sinne universell gültiger Normen - "ist keine Erfindung der Philosophen. Sie ist der Standpunkt, oder zumindest ein Teil des Standpunkts, den jeder von uns einnimmt."(7) Damit meint er unter anderem, dass die meisten Menschen glauben, gewisse, wie Williams sie nennt, "unabweisbare" Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen zu haben. Und eine dieser unabweisbaren Verpflichtungen ist diese: Wenn Sie etwas tun, das anderen schadet, müssen sie dies rechtfertigen können. Die Leute, von denen wir annehmen, sie seien der Ansicht, nicht alle Menschen zählten, also etwa Nazis, Rassisten, Chauvinisten der unterschiedlichsten Art, sagen ständig: "Diese Menschen zählen nicht." Und sie sagen, warum sie nicht zählten. Die Juden zerstörten unsere Nation. Die Schwarzen seien minderwertig. Die Tutsi seien Schaben. Die Azteken seien Feinde des Glaubens. Nicht dass sie gar nicht zählten. Vielmehr haben sie es angeblich verdient, dass wir sie hassen oder verachten. Sie haben verdient, was wir ihnen antun.

So kommt es immer, wenn man anfängt, Begründungen zu geben. Vor allem wenn sich im Publikum auch einige jener Menschen befinden, von denen Sie behaupten, sie zählten nicht, sehen Sie sich gedrängt, auch ihnen gegenüber zu begründen, warum Sie ihnen etwas antun wollen, von dem Sie nicht wollten, dass man es Ihnen selbst antäte. Wenn Sie erst einmal anfangen, Ihre Nation (Ihre Rasse oder Ihren Stamm) zu verteidigen, sind Sie genötigt, zu begründen, warum es denn für alle und selbst für die zu diesem Zweck Misshandelten besser wäre, wenn Ihre Nation ganz oben stünde. Anhänger einer angeblichen Real-politik im Bereich der internationalen Beziehungen sagen oft, unsere Außenpolitik solle sich allein an unseren nationalen Interessen ausrichten. Das klingt so, als sagten sie, außer unseren Landsleuten zähle niemand. Fragen Sie diese Leute aber, ob sie meinen, wir sollten uns auf Völkermord einlassen, falls dies unserem nationalen Interesse entspräche, bestreiten sie meist, dass dies überhaupt in unserem nationalen Interesse liegen könne, da unsere nationalen Interessen irgendwie auf engste Weise mit gewissen Werten verknüpft seien. Dazu sage ich: "Gut. Dann gehört es offenbar zu unseren Werten, dass andere Menschen wenigstens so viel zählen, dass wir sie nicht töten dürfen, nur weil dies uns passt." Edmund Burke, der große Verteidiger des Lokalen, wird oft mit dem Ausspruch zitiert: "Der Klasse der Gesellschaft, zu welcher wir gehören, treu zu sein, den kleinen Haufen zu lieben, der uns zunächst umgibt, ist das erste Prinzip und gleichsam der Keim aller bürgerlichen Tugenden." Aber der Grund, den er dafür anführt, verweist gleichfalls auf universelle Erwägungen: "Es ist das erste Glied in einer Kette, die uns weiterhin mit unserem Vaterlande und endlich mit dem menschlichen Geschlecht zusammenknüpft."(8)

Ich behaupte nicht, die Gründe, die Menschen anführen, wenn sie die Interessen von Fremden ignorieren, könnten erklären, weshalb die Menschen einander oft so schlecht behandeln. (Wie schon gesagt, glaube ich nicht, dass moralische Argumentationen so funktionieren.) Und natürlich glaube ich nicht, dass diese Gründe solch ein schlechtes Verhalten rechtfertigen könnten. Doch wenn Sie erst anfangen, Gründe für Ihre Missachtung fremder Interessen beizubringen, zieht diese Argumentation Sie gewöhnlich in eine Form von Universalität hinein. Wer eine Begründung liefert, der gibt einen Grund an, weshalb er etwas denkt oder fühlt oder tut. Und es ist kein Grund für mich, wenn es kein Grund für Sie ist. Wenn jemand wirklich glaubt, eine bestimmte Gruppe von Menschen zähle nicht, dann wird er annehmen, sie stünde außerhalb jenes Personenkreises, dem man Begründungen schuldet. (Das ist einer der Gründe, weshalb der Gedanke, sie zählten nicht, im Blick auf Tiere leichter fällt als im Blick auf Menschen. Tiere können uns nicht fragen, warum wir sie misshandeln.) Wenn aber Menschen wirklich denken sollten, dass manche Menschen nicht zählten, kann man nur eines tun: Man muss versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen oder, falls das misslingt, wenigstens zu verhindern, dass sie ihre Vorstellungen in die Tat umsetzen.

Die wirkliche Herausforderung für das Weltbürgertum liegt nicht in dem Glauben, andere Menschen zählten gar nicht, sondern in dem Glauben, sie zählten nicht sonderlich viel. Wir können uns leicht darauf einigen, dass wir gewisse Verpflichtungen gegenüber Fremden haben. Wir dürfen ihnen keine schrecklichen Dinge antun. Sollte ihre Lage vollkommen unerträglich werden, und wir wären in der Lage, daran mit vertretbaren Kosten etwas zu ändern, haben wir vielleicht auch die Pflicht, einzugreifen. Vielleicht haben wir die Pflicht, Völkermorde zu verhindern und bei großen Hungersnöten oder Naturkatastrophen zu helfen. Aber müssen wir mehr tun als das? An diesem Punkt lässt sich ein Konsens nicht mehr so leicht herstellen.

Ich habe im Namen des kosmopolitischen Ideals gesagt, wir hätten Verpflichtungen gegenüber Fremden. Es ist an der Zeit, nun gegen Ende dieses Buches mehr darüber zu sagen, worin diese Verpflichtungen bestehen.

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(6) Koran 29,46 und 2,256; dt.: Der Koran, übers. von Max Henning, Wiesbaden o.j., S.363-364, 68.
(7) Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge 1985; dt.: Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999, S.242-243
(8) Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, London 1790; dt.: Betrachtungen über die Revolution in Frankreich, Zürich 1986, S. 108-109

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Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages
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