Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Silvia Bovenschen: Älter werden. Teil 3

17.08.2006.
Mit zwei gleichfalls älteren Freundinnen erörtere ich den Umstand, daß sie übereinstimmend behaupten, sich die Gesichter heutiger Stars nicht mehr merken zu können. Sie führen das auf einen Mangel an physiognomischer Prägnanz der zeitgenössischen Idole zurück. "Die sehen doch alle irgendwie gleich aus." Hatten das nicht unsere Eltern über unsere Idole auch gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Oder ist mit den wachsenden Möglichkeiten der chirurgischen und kosmetischen Schönheitsherstellung doch so etwas wie eine Verähnlichung eingetreten? Ich weiß es nicht. Wenn es nur noch schöne Mädchen gibt, gibt es keine schönen Mädchen mehr.
     Ich habe allerdings den Verdacht, daß wir diese Gesichter, diese Figuren, diese Erscheinungsbilder vorsichtshalber nicht mehr so genau betrachten und sie uns infolgedessen nicht einprägen, weil wir verfallsbedingt jedweder Vergleichbarkeit enthoben sind. Wir müssen uns an ihnen (erotisch) nicht mehr messen, und wir können es auch nicht mehr. Das, was einst notwendig zu deprimierenden Resultaten führte, ist jetzt hinfällig schon in der Absicht. Ein Abgleich wäre nurmehr lächerlich vor uns selbst. So verlieren wir schließlich auch noch die Chancen gesicherter Vergleichsniederlagen.
     Aber auch die Stars selbst, die "unserer Zeit", sind nicht mehr vergleichbar mit ihren aktuellen Kolleginnen. Rita Hayworth, einst als "schönste Frau der Welt" gerühmt, würde heute ihrer Körpermaße wegen von keiner Modelagentur aufgenommen. Das hochversicherte Bein der Marlene Dietrich und auch das ideale Plastikbein, das eine Strumpffi rma einst normgebend in den Schaufenstern aller Kurzwarenläden, (die es kaum noch gibt), untergebracht hatte, könnten heute keine Geltung mehr beanspruchen. Das Bein, das zu einer Körpergröße von einem Meter neunzig gehört, muß eine andere Proportion, eine andere Linie, einen anderen Schwung aufweisen.
     Wenn ich die zeitgemäßen Mannequins (wann und warum wurde dieses Wort aufgegeben?) betrachte, kommen sie mir vor wie von einem anderen Planeten, eine andere Sorte als ich und meinesgleichen. Allerdings, wenn ich sie reden höre, wird ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies doch wieder allzu offenbar.
     Finde ich sie schöner als die einstigen? Nein. Finde ich sie häßlicher als die einstigen? Nein. Nur anders.


      Zeitgeiz
Zu den Symptomen des Alterns gehört neben der Verlangsamung und dem Rückzug auf gesicherte Gebiete auch ein ökonomisches Verhältnis zur Zeit. Ich bemerke das zuweilen an mir selbst: "Es bleibt nicht mehr so viel Zeit im Leben, als daß man sich für Leute interessieren wollte, die nichts anderes können, als sich irgendwie im Licht der Öffentlichkeit zu halten", sage ich trotzig, wenn ich wieder mal nicht weiß, wer jemand ist.
     Zeitgeiz! Ich mag Geiz in keiner Form. Auch diesen nicht. Es ist ja zu keiner Zeit des Lebens gesagt, wieviel Zeit noch bleibt. Und ich habe keine Lust, meinen mentalen Haushalt der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu unterwerfen. Den Zeitgeiz nahm ich oft an amerikanischen Akademikerinnen wahr (auch bei den Jüngeren). Die Attitüde, daß sie keine Zeit zu verlieren hätten, daß man ihnen ihre Zeit nicht stehlen solle (auch dann, wenn man keinerlei Schritte in diese Richtung unternahm), daß jede Minute ihrer Existenz Wichtigem vorbehalten sei. Ihre angestrengte Sprungbereitschaft hat mich, selbst wenn sie mich mit Lob überhäuften (was sie freundlicherweise gerne tun), stets meinerseits angestrengt und in eine tiefe alteuropäische Müdigkeit gesenkt. (Hierin bin ich nicht mehr zeitgemäß.)


     Mode
Einst interessierte ich mich für Mode, für das Zeitgemäße an sich. (Hierin war ich für eine lange Zeit ganz auf der Höhe.) Und weil sie mich alltagspraktisch interessierte, rückte ich sie vorübergehend auch ins Zentrum meiner theoretischen Bemühungen. Das machte Freude, weil das Thema zu dieser Zeit in akademischen Kreisen noch anrüchig war. Die Hauptsache war doch immer, sich nicht zu langweilen.
     Jetzt sind die Aktualitäten der Mode etwas in den Hintergrund meines Lebens gerückt. Minirock, Hüfthose und Bauchfreihemdchen sind die Sache einer Sechzigjährigen nicht. Das kränkt nicht, denn alles, was ins Niedliche, Putzige, Infantile weist, hat schon in modefreudiger Jugend nicht mein Gefallen gefunden. Die fortgeschrittenen Jahre erzwingen eine Abwägung zwischen dem Zeitgemäßen und dem Altersgemäßen.
     Auf diesem Sektor meiner Existenz ist eine Beruhigung eingetreten. War ich früher kleiderästhetisch fasziniert von Exklusivität, Wirkung und Wagnis, so richtet sich jetzt mein Augenmerk vornehmlich auf Materialqualität, Verarbeitung, Schnitt und Sitz - auch der Aspekt der Wärmegebung ist hinzugekommen. Irgendwie läuft das auf die Suche nach der Jacke an sich hinaus. Man muß aufpassen, daß sich nicht altersbedingt die Fundamentalismen einnisten in die Bereiche, in denen die Reizbarkeit etwas nachläßt.


     Fraktionierte Existenz. Spartenleben
Ich komme hier zu einem versöhnlichen Schluß. Es gibt Gebiete, in denen ich mich einigermaßen zeitgemäß bewege, hoffe ich. Die Literatur könnte dazugehören. Andere Sparten wurden verfrüht vernachlässigt. Die Popmusik fällt leider in diese Sparte. Sie wurde nach einer hitzigen Jugendphase von mir aufgegeben. Davon verstehe ich gar nichts.

(Ich überlege, ob die Abwägung zwischen dem Altersgemäßen und dem Zeitgemäßen nicht die wahre Artistik des Alterns ist. Das ist ein Können, das wir vorübergehend noch können können.)


      *

     Schönheit. Verlust
"Ach, da bin ich richtig froh, daß ich nicht mehr achtundvierzig Jahre alt bin, sonst müßte ich mir jetzt basal und instinktiv die Frage stellen, ob es in meinem Verschulden läge, daß ich nicht mehr aussähe wie Catherine Tramell (Sharon Stone), so glatt, so straff, so sexy", sagt eine ältere Bekannte, der ich im Foyer eines Kinos begegne.
     "Ich kann gut älter werden, weil ich nicht schön war in meiner Jugend", sagt eine sympathische Dame, die ich ein wenig kenne.
     Anderen, die ich besser kenne, ergeht es schlechter, jene, deren Selbstwertgefühl sehr stark mit den Graden ihrer erotischen Attraktivität verknüpft ist. Wann und wie fi nden solche Verknüpfungen statt? Sie müssen mehr leiden, mit jedem Jahr und jeder Falte. Haben sie in den attraktiven Jahren wenigstens den Rahm abgeschöpft?
     Mir fällt die Äußerung meiner Freundin M.-L. Sch. ein, die einmal von einer Frau, die ich nicht kenne, sagte: "Sie war vollkommen vergeblich schön." Ich betrachte eine Photographie, die mich zeigt. Sie wurde vor etwa zehn Jahren aufgenommen. Ich erinnere mich, daß ich diese Ablichtung damals abscheulich fand (ältlich, unvorteilhaft) und nur vergessen hatte, sie zu vernichten. Jetzt finde ich, daß ich darauf, verglichen mit meinem heutigen Zustand, recht passabel aussehe. Jetzt würde ich gerne so aussehen. Offensichtlich hat sich etwas in mir schon mit den weiter zurückliegenden Verlusten abgefunden, denn ich käme nicht auf die Idee, mir ein Aussehen zu wünschen, wie ich es mit zwanzig Jahren hatte. Die Person, die die Photographien dieser Zeit zeigen, ist mir fremd. Ja, das war ich. War ich das?
     Damals (in meinen "zwanziger Jahren") hatte ich ein Aussehen, mit dem ich (das sage ich aus heutiger Perspektive, gewissermaßen so, als wäre ich meine eigene Mutter) durchaus zufrieden hätte sein können. War ich aber nicht. (Keine Zwanzigjährige ist mir ihrem Aussehen zufrieden.) "Kind, versündige dich nicht", sagte meine unfromme Mutter, wenn ich mein Aussehen bemängelte.
     Aber die Blicke, die mich trafen, die Avancen (dieses Wort war schon zu "meiner Zeit" aufgegeben), die ich erhielt, signalisierten mir doch, daß ich mir über mein Aussehen keine übertriebenen Sorgen machen mußte. Auch in meinem Falle war das etwas "vergeblich". Damals witterte ich in jedem Kompliment, das mein Äußeres betraf, eine Abwertung meines intellektuellen Vermögens. Ich zog keinen Honig aus dergleichen. Heute hingegen gebe ich mich noch der unaufrichtigsten, auf mein Erscheinungsbild gerichteten, Schmeichelei unkritisch hin.


     Wahlalter
"Wenn eine gute Fee käme und du dir ein beliebiges Alter aussuchen könntest, welches würdest du wählen?" frage ich meine Freundin F. G. (achtundachtzig). "Anfang vierzig", sagt sie ohne zu zögern. Ja, das wäre auch mein Wahlalter. Ich starte eine kleine Umfrage unter denen, die älter als fünfzig sind. Alle, wirklich alle, Männer wie Frauen, nennen diese Altersstufe. Auch die Begründungen sind identisch: Man habe die gröbsten Verklemmungen und Verwicklungen hinter sich und noch eine geräumige Zukunft vor sich (wenn alles gut gehe). Betrifft diese beste aller Altersmöglichkeiten nicht genau das Alter, in dem die quälende Midlife-crisis angesiedelt wird? Uns ist selbst unter dem Einsatz guter Feen nicht zu helfen.


     Größenordnungen
Einst, als junges Mädchen, habe ich mich bei der Besichtigung mittelalterlicher Burgen amüsiert über die Abmessungen der Rüstungen, Betten und Särge. Wie klein sie gewesen waren, die stolzen Ritter. So klein wie ich, ich aber würde ja noch wachsen, hoffentlich weit über sie hinaus. Ich empfand eine unverdiente Überlegenheit: Die Tatsache ihrer kleinen Statur schien mich größer zu machen.
     Das weiß ich noch.
     Als Studentin war ich von mittlerer Größe. Einsfünfundsechzig, stand in meinem Paß. Befand ich mich in einer Gruppe gleichaltriger Mädchen, so ragte ich nicht heraus (was ich gerne gewollt hätte), aber ich verschwand auch nicht in ihr. Dreißig Jahre später war ich im Vergleich mit den Studentinnen in meinen Seminaren klein. Die nachfolgenden Frauengenerationen hatten es gewissermaßen hinter meinem Rücken stetig in die Höhe getrieben. Diese Menschenverlängerung ist in nur wenigen Jahrzehnten gewaltig vorangekommen. Einsfünfundsechzig steht immer noch in meinem Paß. Jetzt hat mich das Alter vermutlich sogar schrumpfen lassen. Vielleicht würde ich wieder in so einen Rittersarg passen. Jetzt bin ich den Vergleichen enthoben, weil ich meistens sitze.


      *

     Einst
Einst, Anfang der siebziger Jahre ging ich mit einem Freund, den ich leider aus den Augen verloren habe, über die Buchmesse. Wir waren jung. Studenten. Wir merkten Bücher vor, die wir am letzten Messetag günstig an uns bringen wollten. Auf dem Gang zwischen den Verlagskojen kam uns, abgeschirmt durch einen Begleittroß, der damalige Bundespräsident entgegen. Unisono hörten wir uns sagen: "Den gibt s ja wirklich." Wir lachten. Wir waren gut gelaunt und vorbereitet auf das Medienzeitalter. Zwei Gänge weiter trafen wir wieder auf einen deutlich begleiteten älteren Herrn, den ich nicht hätte identifi zieren können. Der damalige Freund sagte: "Und der wäre, wäre die Geschichte anders verlaufen, heute unser Kaiser." Auch das fand ich komisch.
     Um auch ihn zu erheitern, erzählte ich, daß meine Mutter mir, als ich noch ein kleines Mädchen war, erzählte, daß sie, als sie noch ein kleines Mädchen war, den deutschen Kaiser zu Pferde gesehen habe. Einst. Auf einem Schimmel, in Köln, glaube ich.


      *

     Zufall
Je älter ich werde, um so mehr begrüße ich den Zufall, mein bisheriges Leben in einem Zeitraum verbracht zu haben, der von der Verderbnis des Krieges nicht berührt war. Schonzeit, Schonraum. Schließlich kennt die deutsche Geschichte nicht viele Phasen solcher Schreckenlosigkeit. Das fällt mir gerade jetzt zunehmend auf, jetzt, da die Zeichen von kommenden ungekannten Wirbelstürmen künden. Da könnte man fast froh sein, etliche Jahrzehnte hinter sich zu haben. (Das aber heißt: älter sein.) Andererseits: Man kann ja schlecht hoffen, daß man, bevor die neuen Taifune einsetzen, schon tot sein wird. Vielleicht aber doch.


     Jetzt (2004)
sehe ich eine Fernsehwerbung, in der der Vertreter einer Lebensversicherung, sich an den Einzelnen seiner anonymen Zuschauerschaft wendend, drohend fragt, ob der sich das Älterwerden finanziell leisten könne. Nein, kann ich eigentlich nicht. Da es für ein lebensversicherndes Sparvorhaben jetzt schon ein bißchen zu spät ist, handelt es sich wohl um eine Aufforderung zum Suizid.

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages

Informationen zum Buch und zur Autorin hier