Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind. Teil 1

14.08.2006.
Erstes Kapitel

Daphne Abdela

Sie waren zu spät. Hatten keine Ahnung, wie lange die Taxi­fahrt vom Hotel hinunter in die 29. Straße dauern würde.Wünschten sich jetlagmüde nur, daß die sommerheiße Stadt immer weiter vor den Autofenstern vorbeiziehen möge, während sie auf der weichen Rückbank des Wagens zueinanderrutschten, in den Luftstrahl der Klimaanlage hinein, der ihren Schweiß trocknete, bis sie zu frieren begannen. Vor Müdigkeit, sagte er. Vor Aufregung, Liz. Sie küßten sich, starrten hinaus, und dann waren sie auch schon da. Drei Schritte nur durch den Abend, dessen Luft feucht und schwer war, und sie standen in der wohltuend metallenen Kälte eines Restaurants, dessen französischen Namen Niklas Kalf sich im Hotel noch schnell eingeprägt und beim Betreten schon wieder vergessen hatte.
     Geschäftsleute mit Hosenträgern, das Jackett über dem Arm, drängten sich laut an der Bar neben dem Eingang, Frauen in Leinenkostümen hielten Cocktailgläser, die Barkeeper hinter dem Tresen hatten viel zu tun und lächelten nicht. Der eigentliche Gastraum war so dunkel, daß nur die Kerzen und die weißen Tischdecken kalt hervorleuchteten, goldgerahmte Spiegel und hochlehnige Lederbänke an den Wänden, davor Bistrotischchen in engem Spalier.
     Kalf erkannte Albert Snowe sofort. Ende Vierzig, eine rote Krawatte zum weißen Hemd und auf den Wangen ein deutlicher Bartschatten. Unentwegt wechselte er von den Zehen auf die Ballen, und der bullige Oberkörper wippte hin und her dabei. Seine Begleiterin mußte Lavinia Sims sein, die Übersetzerin. Als sie ihn hatte wissen lassen, der Verleger von Farrar Straus & Giroux würde ihn gern zum Abendessen treffen, war Niklas Kalf sehr überrascht gewesen. Er blinzelte, wie er das oft tat, wenn er nervös war, die hellen Pupillen seiner blauen Augen wäßrig und durchsichtig. Seit der Kinderzeit trug er die weißblonden Haare kurz, fein und dünn legten sie sich dem Kopf an, und auch die helle, sommersprossige Haut trug zu jenem Eindruck einer seltsamen Durchsichtigkeit bei, der von ihm ausging. Meist nutzte es den Interviews, die er führte, daß er zu verschwinden schien. Eine Fähigkeit, die er ebenfalls seit Kindertagen übte.
     Im selben Moment, als Liz ihren Mann am Arm faßte, entdeckte Albert Snowe seine Gäste, winkte, und sie bahnten sich einen Weg durch die Menge. Man begrüßte einander, und der Kellner führte sie zu einem großen, runden Tisch. Sie setzten sich in den Lichtschein der Kerzen hinein, der das weiße Rund des Tischtuchs umzirkelte und sich für einen kurzen Moment in den Pupillen der vier spiegelte, mit einem seltsam technoiden Flimmern, das aufbrach und wieder verschwand wie zitterndes Diodenlicht.
     Zwei hochgewachsene Bedienungen, die aussahen wie Schwestern, reichten große Speisekarten in die Runde herein. Es werde ihnen eine Freude sein, sie zu bedienen. Ein Kellner, der die Anzahl der Eiswürfel geschickt dosierte, indem er den Pitcher mit einer nie gesehenen Bewegung über den Handrücken kippte, schenkte Eiswasser in sehr große Gläser. Snowe hatte einen massigen Schädel und starke Kiefer. Zwei tiefe Falten gruben sich beidseits seines Mundes in die dunkle, lederne Haut. Er nahm sein Glas und klimperte mit dem Eis darin, bevor er trank und sich dabei einen Würfel in den Mund spülte, den er langsam zerbiß.
     "Wie war der Flug?"
     Niklas Kalf sah die weit klaffende Tür zur Küche, deren neonweiße Kacheln wie der Eingang zu einem unabsehbaren unterirdischen Kellersystem leuchteten, und nickte. Der Flug, dachte er. Es bedurfte nicht mehr als Snowes Frage, daß die LCD-Bildschirme über den Sitzen wieder in ihre Arretierung zurücksurrten und es wieder, für diesen sehr langen Moment, ganz still war. Und er wußte wieder, was er gedacht hatte.
     Nichts, war ihm durch den Kopf geschossen, hat Bestand gegen die Kaskade von Wirkungen, die mit der Schuberhöhung losbrechen wird. All der Routine ist nicht zu trauen, den Sicherheitsinstruktionen nicht, der Freundlichkeit der Flugbegleiter und der Bordkarte nicht und nicht den sanften Linien der kunststoffverkleideten Innenraumkabine. Vereinzelt rastete klackend noch eine Gurtschnalle ein. Dann drückte der Schub die Köpfe in die Lehnen zurück, irgend etwas klapperte, hörte auf zu klappern, und Flug 340 der Lufthansa von Frankfurt am Main nach New York City war, leicht verspätet, um dreizehn Uhr fünfunddreißig in der Luft.
     Die Stewardessen begannen sofort mit der Essensausgabe. Erleichtert kramte man im Handgepäck, Taschen und Jacken wurden über die Sitze gereicht, Bücher und CDs, Liz packte ihre Strickjacke aus hellblauem Mohair aus, eine Illustrierte dazu, und versank in gleichförmiges, von keiner Lektüre unterbrochenes Blättern. Hin und wieder strich sie ihre Locken hinters Ohr. Seit sie schwanger war, schienen ihre Haare, die dieselbe Farbe wie seine hatten, noch dichter und schwerer als zuvor. Er beobachtete, wie sie eine Hand auf ihren hochgewölbten Bauch legte. Die Glanzpapierseiten leuchteten regelmäßig im Lichtkegel des Punktstrahlers auf. Frauen und Häuser, Uhren und große, geschminkte Augen. Immer wieder das Meer. Er sah seiner Frau zu, beruhigt von der Gleichförmigkeit ihrer Bewegung, und wurde müde darüber, während ohne Unterlaß tödlich kalte Luft in die Turbinen strömte und in einem feinen Nebel aus Kerosin unvorstellbar heiß verbrannte.
     Stumm wechselte in monotoner Folge die Anzeige der Bildschirme über den Sitzreihen. Time to Destination, Local Time at Origin, Local Time at Destination, Estimated Arrival Time, Meter und Fuß, Celsius und Fahrenheit, Kilometer und Meilen. Ground Speed 448 mph, Altitude 31 000 feet, Outside Air Temperature - 51 f. Und ein kleiner Punkt auf dem Screen ruckte als ihr winziges Abbild sehr langsam über den schwarzblauen Atlantik zur Küste Nordamerikas hinüber, die am linken Bildschirmrand wartete.
     Kalf räusperte sich. Der kleine, wandernde Punkt vor seinen Augen verschwand nicht. Snowe lachte und zerbiß noch einen Eiswürfel, als sein Gegenüber nicht antwortete. Es freue ihn sicher, sagte er dann, jetzt in New York sein zu können. Gerade als Schriftsteller.
     Ja, natürlich. Vor allem, da sie beide, Liz und er, zum ersten Mal die USA besuchten. Aber er sei kein Schriftsteller.
Der Verleger zog überrascht die Augenbrauen hoch.
     "Biograph", sagte Kalf.
     "Ist das denn etwas anderes, ein Biograph?"
     "Niklas ist etwas hilflos, was sein eigenes Leben angeht", erläuterte Liz entschuldigend.
     Snowe sah sie an. Er verstehe das, sagte er. Sehr gut sogar. Ihn selbst interessierten fremde Lebensgeschichten auch ungemein. Vielleicht sei er deshalb Verleger geworden. "Und manchmal schnurrt so ein fremdes Leben dann auf einen Augenblick zusammen."
     alf nickte: "Auf ein Geheimnis."
     "Ja", sagte Albert Snowe.
     Und nach einem Moment, in dem er ihn ruhig gemustert hatte, beugte er sich vor, sah ihn über die Kerzen und das kleine Bouquet aus weißen und blauen Orchideen hinweg eindringlich an und fragte: "Have you ever heard about Daphne Abdela?"
     Kalf schüttelte den Kopf, und die Zeit stoppte. Daphne Abdela, wiederholte er in Gedanken, mit einem Mal gar nicht mehr angespannt und müde, gar nicht mehr in jener Jetlagblase aus Traum und Halbschlaf, sondern wach und neugierig, welche Geschichte sich hinter diesem fremdklingenden Namen wohl verbergen mochte, der ihn sofort in den Bann schlug. Doch zunächst kamen die beiden Kellnerinnen wieder in den Kreis der Kerzen, um die Bestellungen aufzunehmen, und als eine von ihnen sich zwischen Lavinia und Kalf hinabbeugte, registrierte er überrascht auf jedem ihrer langen Fingernägel das winzige Bild einer Madonna. Blue Cheese, Thousand Islands, Vinaigrette, French, Italian, Caesar, Ranch, Russian, Dijon, zählte sie die Salatsoßen auf, und nur der Ringfinger der linken Hand, mit der sie den Block hielt, zitterte dabei. Snowe bestellte Red Wine für alle.
     "Wer ist Daphne Abdela?" fragte Niklas Kalf ungeduldig.
     Lavinia Sims wiegelte ab. Die Übersetzerin war eine große Frau, einige Jahre jünger als Kalf, hatte lange, dunkle Haare und ein klar geschnittenes Gesicht. "Eine alte New Yorker Geschichte. Ist sicher fünf Jahre her."
     "Was denn?"
     "What happened?" Snowe antwortete auf englisch, als nehme er gar nicht wahr, daß man Deutsch sprach. "Well, back in May of ninety-seven early one morning a man was found floating in the lake in Central Park. His torso was slashed open. The police said they found something like fifty stab wounds."
     Slashed open, wiederholte Kalf für sich. Wußte nicht genau, was stab wounds sind. "Und?"
     "Daphne Abdela war die Täterin", sagte Lavinia. "Das Mädchen war, glaube ich, fünfzehn Jahre alt."
     Sofort stellte er sich jenen See vor, an dem er nie gewesen war, den er aber aus dem Fernsehen kannte. Eine Gestalt darin, schwer und dunkel und ebenso gesichtslos wie das Mädchen, dessen Name ausreichte, damit in seiner Vorstellung voller Entsetzen eine Hand hochgerissen wurde neben ein Gesicht. Stichwunde war das Wort, das ihm gefehlt hatte. Man brachte den Wein. Snowe probierte, nickte der Kellnerin zu, und sie schenkte reihum allen ein außer Liz, die ihre Hand über das Glas hielt.
     Das Mädchen und ihr Freund, nahm Snowe den Faden wieder auf, erstechen den Mann und schneiden ihm die Kehle durch. Dann beschweren sie die Leiche und werfen sie in den See. Anschließend verbrennen sie die Brieftasche des Opfers mit allem, was ihn identifizierbar macht. "Listen, Nick: They were teenagers. He was an altar boy and Daphne lived with her family in the Majestic on Central Park West."
     "Altar boy?"
     "Er war Meßdiener, Nico", half Liz ihm aus.
     Kalf sah sie so überrascht an, als hätten sie sich lange nicht gesehen. Er mußte wieder daran denken, wie sie vom Flughafen in die Stadt hereingekommen waren, noch zitternd von der Nacht plötzlich wieder im Realen. Wie das Taxi über die Bodenwellen des New-Jersey-Highways wippte, als atme es aus und wieder ein, so lange, bis auf einer seiner Flanken die Spitzen der Skyscraper erschienen waren. Sofort hatten sie begierig mit der Entzifferung des Vertrauten begonnen, doch gerade, als sie das Chrysler Building und das Empire State Building erkannt und überlegt hatten, wo das World Trade Center gestanden haben mochte, stürzte das Autobahnband zwischen mit Graffiti weiß beschneiten Felsen in eine Senke hinab, in der eine Mautstation den Wagen für einen Moment innehalten ließ, bevor der gekachelte Lincoln-Tunnel ihn in sein dreckiges, endloses Weiß hineinsaugte und das Gewitter vor den Augen für kurze Zeit aussetzte.
     Vielleicht, weil sie die Fremdheit nicht aushielten, hatten sie sich in jenem Moment geküßt, und er hatte Liz die Hand auf den Bauch gelegt, und dann war auch schon das Eiland Manhattan, wie es bei Brecht heißt, hinter den hohen Mauern seiner Türme atemberaubend schnell emporgewachsen, so unermeßlich hoch und abweisend fremd wie nur je die Aurelianische Mauer um Rom.
     Jetlag, dachte er verwundert, als er sah, daß Liz ihr Besteck bereits wieder zurück in die Reste der ölig schimmernden Marinade legte. Er hatte keine Ahnung, wie lange er unaufmerksam gewesen war, auch sein Salatteller war leer, man räumte bereits ab. Dann traten die Kellnerinnen aus dem Dunkel an den Tisch und reichten, ganz langsam und mit einer fremden, unterwürfigen Sorgfalt, große Teller. Alle außer Liz hatten das Entrecôte bestellt. Man wartete, daß man ihren Fisch brachte.
     "Und Daphne Abdela? Wie sah sie aus?"
     "Sie war schwarzhaarig, glaube ich. Sie sah ein bißchen wie ein Punk aus", versuchte Lavinia sich zu erinnern, während die Kellnerin die Schwingtür zur Küche mit dem Rücken aufdrückte, noch einmal schnell mit der Spitze ihrer Schürze einen Soßenfleck vom Rand des Tellers wischte, bevor sie heran war und Liz das im Kerzenlicht sehr bleiche Wallerfilet reichte.
     "Und ihr Komplize?"

Teil 2