Vorgeblättert

Marcia Pally: Lob der Kritik, Teil 3

26.02.2003.
Aus Kapitel 5:
Das unausgeglichene Selbst: Narzissmus, Religiosität, Faschismus, Neurose


Zweiter Abschnitt, worin es darum geht, schlanker, blonder, reicher und Opfer zu sein.

Welchen Reiz die eigene Unschuld besitzt, zeigt sich in allen Versuchen, dem kritischen Denken auszuweichen, und insbesondere in der Reaktion auf die Forschung an menschlichen Embryonen. Bei den Gegnern dieser Forschung findet sich eine starke Identifizierung mit den Embryonalzellen. Die Technologie ist der schreckliche Andere, aber die Gene sind "wir". Diese essenzialistische Sicht wird dem Menschsein nicht vollkommen gerecht, da sie die selbst bei eineiigen Zwillingen unterschiedlichen hormonellen, chemischen und physikalischen Bedingungen im Mutterleib außer Acht lässt, ganz zu schweigen von den nachgeburtlichen Unterschieden in der Interaktion mit der Welt. Dennoch setzen die Gegner der Stammzellenforschung den Embryo mit menschlichem Leben gleich und menschliches Leben mit dem Embryo. So werden auch die (menschlichen) Gegner dieser Position mit dieser allerersten Form des Lebens identifiziert. Nicht nur, dass Gentechnologien die Unschuld zerstören und ihre Gegner eine gute Tat tun, wenn sie das verhindern. Mit der Rettung des Embryos retten sie zugleich auch ein potenzielles Selbst. In seiner Verteidigung embryonalen Lebens gegen die Stammzellentechnologien stellt Jürgen Habermas sich nicht nur auf die Seite der Kleinen und Schwachen, sondern sieht im Embryo buchstäblich eine "zweite Person". Der Embryo ist ein potenzielles "ich" oder etwas Ähnliches wie ich, aber vor allem das denkbar reinste potenzielle Ich. Wenn wir die Reinheit und Unschuld des Embryos betonen, muss Gleiches auch für uns selbst gelten, denn wir sind aus demselben Stoff. Nicht nur rein und unschuldig, sondern auch gut. Unschuld wird mit Gutsein gleichgesetzt. Und je unschuldiger, desto "guter". Die Gegner der Embryonenforschung wollen gut sein. (Und wer möchte das nicht?) Man kann Gutes tun, um ein besserer Mensch zu werden, doch die Ablehnung der Stammzellenforschung bietet noch größere Chancen. Sie gestattet es dem Kernselbst, ebenso fundamental und wesenhaft gut zu sein wie der Embryo. Indem man die Menschen und sich selbst mit der Unschuld des ungelebten Lebens gleichsetzt, erhebt man den Anspruch, ähnlich gut zu sein.

Die Gleichsetzung des Guten mit dem Unschuldigen und Ungeformten ist eine christliche Vorstellung, die aus den Traditionen des Dualismus zwischen Leib und Seele hervorgegangen ist. Nietzsche sprach in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einer christlichen Sklavenmentalität, die in der Zeit vor Konstantin entstanden sei, als die Christen in Rom den untersten Schichten angehörten. Auch wenn man keine Macht besaß, konnte man aus dem, was man hatte (zum Beispiel Unschuld), doch immerhin eine Tugend machen. In Nietzsches Augen sind Sklaven kraftvoll, produktiv und groß an Zahl, so dass ihre Sklavenmentalität die Oberhand gewinnt. Bei dieser "Umwertung der Werte" wird die Glorifizierung des Kleinen zur herrschenden Ethik und Ästhetik. Andere Traditionen wie die des klassischen Athen verbanden das Gute in erster Linie mit einer Bildung und einem Wissen, die auf der Höhe der Zeit waren. Nahöstliche Religionen wie der Islam und das Judentum glauben, dass der Mensch - unbeschwert von der Erbsünde - Gott durch Lernen und Erfahrung näher zu kommen vermag. Das Leben ist kein Projekt, das zurück zum Augenblick der geringsten Befleckung führt (eine ausgeprägte Flucht in die Vergangenheit). Das Christentum respektiert seine Gelehrten, räumt der unbefleckten Seele jedoch eine besonders leuchtende Position ein. Die "guteste" Geburt ist die jungfräuliche, der "guteste" Mensch ein Säugling und nun der Embryo.

Eine zweite christliche Vorstellung, wonach Gott in der Natur und in allen Dingen gegenwärtig ist, erweitert noch die Gleichsetzung des Guten mit dem Ungeformten. Nicht nur das Reine und Einfache ist gut, sondern alles Natürliche. Gott ist allgegenwärtig, und der Mensch vermag ihn an seinen irdischen Werken zu erkennen. Da die natürliche Entwicklung des Embryos zur Geburt führt, ist dieser Ausgang gottgewollt und heilig, so dass der Mensch ihn nicht abändern darf. Der beste und göttlichste Zustand ist der unbeeinflusste, von menschlichem Streben unbefleckte. Der unschuldigste Körper, der die geringste Lebenszeit hinter sich hat, wird bevorzugt. Und mehr noch, das nicht manipulierte Wesen ist danach dem manipulierten, "unnatürlichen" überlegen.

Die Bevorzugung des nicht manipulierten Körpers zeigt sich zum Beispiel in der Verachtung für allzu offensichtliches Schminken oder für kosmetische Operationen in den gebildeten Schichten des Westens, die das als unnatürlich, als Täuschung oder als vulgär empfinden. Ein Teil dieser Verachtung ist sexistisch. Seit die Männer in den westlichen Kulturen Perücken und Brokat gegen dunkle Anzüge eingetauscht haben, wird kunstvolle Aufmachung oft mit dem Femininen (und in der Erweiterung mit dem Verweichlichten oder Homosexuellen) gleichgesetzt und verächtlich gemacht. Doch ein Teil dieser Verachtung stammt aus essenzialistischen Vorstellungen von der menschlichen Natur und aus der christlichen Gleichsetzung des Nichtmanipulierten mit dem Guten. Die Deisten des 18. Jahrhunderts wichen von der traditionellen christlichen Theologie ab, als sie die Auffassung entwickelten, dass es dem Willen Gottes entspreche, wenn der Mensch die Welt manipulierte. Die traditionelle christliche Vorstellung entspricht eher der Auffassung des Kurienkardinals Ratzinger, wonach die Welt der Geburt nicht nur vor der Forschung geschützt werden muss, sondern auch vor Befruchtungstechniken, die eine unnatürliche Vereinigung von Samen und Ei herbeiführen und damit buchstäblich die Jungfräulichkeit des göttlichen Willens verletzen.

Das Gute wird in der christlichen Sicht jedoch nicht nur mit dem Unschuldigen und Nichtmanipulierten gleichgesetzt, sondern auch mit dem Opfer und dem Märtyrer. In anderen Gesellschaften wie Japan und dem antiken Griechenland oder Rom galt oder gilt die Opferrolle als Zeichen für Wertlosigkeit und Unfähigkeit. Nach christlicher Auffassung ist die Opferrolle dagegen der beste Beweis, dass man kein Anhänger des Bösen ist. In moralischer Hinsicht ist es besser, der Geschändete als der Schänder zu sein. Aus diesem Grund herrscht auch traditionell die Vorstellung, dass körperlich oder geistig Behinderte Gott näher stünden. Die Logik der Viktimisierung besitzt große Anziehungskraft. In den Vereinigten Staaten wetteifern Minderheiten um die zweifelhafte Ehre, wer das größte Unrecht und die schlimmste Unterdrückung erleidet. In politischen Auseinandersetzungen versucht jede Seite, in die moralisch vorteilhafte Position des Opfers zu gelangen. Abweichend vom üblichen Schema behaupteten die Nazis und die italienischen Faschisten ganz offen ihre Überlegenheit (auch wenn sie sich gern als Opfer angeblich minderwertiger Gruppen darstellten). Ihre Erben haben dieses hochmütige Ehrgefühl allerdings nicht ganz übernommen. Die heutigen Neonazis sehen sich regelmäßig in der Opferrolle. Sie behaupten, die fremden Invasoren nähmen ihnen ihre Jobs und ihre Kultur. Und wenn Invasoren unmoralisch sind, so auch Einwanderer. In Deutschland sind gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Neonazis, Antifaschisten und Polizei zu einem Ritual geworden, bei dem alle Seiten die größere Opferrolle beanspruchen. Die Neonazis behaupten, man verwehre ihnen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit; die Linken fühlen sich durch die Nazi-Ideologie beleidigt; und die Polizei hat unter den Beschimpfungen und Steinwürfen beider Seiten zu leiden. Am Abend gehen dann alle in aufgereizter Stimmung nach Hause und haben das Gefühl, in ihren Vorstellungen bestätigt worden zu sein.

Die Tradition der Gleichsetzung des Opfers und Geschändeten mit dem Guten hat den Widerstand gegen die Embryonenforschung gestärkt. Dabei kann man sich nicht allein mit dem Embryo identifizieren, jenem potenziellen Selbst, das durch die Laborverfahren geschändet wird, sondern auch mit den Kranken und Ungeliebten einer utopischen, ganz auf Gesundheit ausgerichteten Zukunft. Manche Gegner der Stammzellenforschung befürchten, die Fähigkeit, die Biologie des Menschen zu manipulieren und Krankheiten zu heilen, werde die Menschheit veranlassen, deren Ergebnisse (die Gesundheit) mit Gutsein gleichzusetzen - wie einst die wachsenden Fähigkeiten auf dem Gebiet der Physik und Chemie manche Optimisten im 18. Jahrhundert veranlassten, deren Ergebnisse (den technischen Fortschritt) mit dem göttlichen Willen gleichzusetzen. Aus dem Gedanken, dass Gesundheit gut ist, könne dann leicht die Vorstellung werden, dass gesunde Menschen gut seien. Dann werde die Welt von effizienten, gefühllosen Gesundheitsübermenschen bevölkert und von einem Gesundheitsfaschismus beherrscht sein. Menschen, deren Eltern keine Embryonenselektion vorgenommen haben (zum Beispiel wiel sie deren Kosten nicht tragen konnten), würden unter Krankheiten und einem unansehnlichen Äußeren leiden. Diese Unglücklichen seien dazu verdammt, die unterste Schicht in einer gnadenlos schönen Gesellschaft zu bilden. Für die Gegner der Stammzellentherapie hat die Identifizierung mit deren zukünftigen Opfern schon in der Gegenwart eine höchst komplexe Bedeutung. Sie sehen voraus, dass sie selbst in der untersten Schicht der Gesellschaft landen und das Leid dieser unansehnlichen Opfer teilen werden. Opfer sein heißt aber gut sein. Und so befindet man sich am Ende in der ersehnten Position. Ob man sich nun mit den durch Labortechniken geschändeten Embryonen oder mit den ungeliebten Opfern eines zukünftigen Gesundheitsfaschismus identifiziert, in jedem Fall hat man die Genugtuung, moralisch im Recht zu sein.

Die Stammzellenforschung mag die Bekämpfung einiger Krankheiten ermöglichen, aber sie wird die Menschheit nicht von Krankheit schlechthin befreien, da ständig neue Krankheiten entstehen können. Doch wer Opfersein mit Gutsein gleichsetzt, für den hat die negative Vision einer ganz an Schönheit ausgerichteten Gesellschaft weitreichende emotionale Folgen. Denn sich selbst als unschuldig, als Opfer und als gut zu empfinden bringt noch einen weiteren Vorteil, da man so über die vielfältigen Formen hinwegsehen kann, in denen Menschen das Leben anderer Menschen nach deren Geburt ausbeuten können. Das geschieht nicht nur in Politik und Arbeitswelt, sondern auch unter Freunden und in der Familie. Eltern wünschen sich Kinder aus den unterschiedlichsten narzisstischen Gründen. Diese Ungerechtigkeiten haben wir sorgfältig in das menschliche Leben eingebettet. Nur mit Mühe vermögen wir sie bei uns selbst zu erkennen und uns dennoch als gut empfinden. Da bietet der Widerstand gegen die Embryonenforschung zumindest eine Möglichkeit, an diesen Dingen vorbei zu sehen.


Dritter Abschnitt, worin Descartes in einen Ofen kriecht und allein sein will.

Ich möchte nun auf das Problem der Angst und Demütigung und auf die Lösungen zurückkommen, die man dafür finden muss. In den abrahamitischen Religionen ist der Glaube die Antwort auf Angst und Gefahr, aber als Rationalisten und Skeptiker Zweifel an einem Gott säten, der ständig in die Welt eingriff, gerieten die Menschen in eine unsichere Lage. Das nervös-existenzielle Rätsel um die Frage, wie man leben und wohin man gehen soll, blieb in den modernen Gesellschaften ohne endgültige Lösung und drängt sich dem modernen Denken weiterhin auf. Hier dürfte der Schlüssel für die von Edward Said diagnostizierte Willkür ohne Sinn und historische Bedeutung liegen. Tatsächlich kann man sagen, dass die Zwänge in der Moderne nicht Furcht, sondern Angst auslösen, eine Angst, die Trost sucht und kritisches Denken ausschließt.

In Psychology and the Human Dilemma unterscheidet Rollo May zwischen Furcht und Angst, wobei Furcht eine Reaktion auf Gefahren ist, die man versteht und für deren Abwehr man Mittel kennt. Wenn der König Gottes Stellvertreter ist und man ihm in eine Schlacht folgt, mag man Furcht empfinden, aber keine Angst. In der Moderne jedoch, wo der Einzelne sich sein Weltbild selbst schaffen muss, ist solche Klarheit oft nicht zu haben. Man hat mehrere Möglichkeiten des Verstehens und Handelns, aber unter Umständen auch gar keine passende Lösung. Die Angst ist die Begleiterin der Freiheit. In Kierkegaards Philosophie, auf die May sich stützt, ist diese Angst das normale Ergebnis der vielfältigen Möglichkeiten der Moderne und des Willens, sich selbst auch gegen den Status quo zu entwickeln, wie die eigenen Ziele und die Kreativität es verlangen. Wer die normale Angst nicht überwinden kann, verfällt einer neurotischen Angst, zieht sich in sich selbst zurück und verzichtet teilweise auf seine Ziele.

Das Leiden an der eigenen Freiheit zu beherrschen gehört zu den Projekten der Moderne. In der frühen Neuzeit reichte es zunächst noch aus, individuelle Freiheit als Projekt zu setzen. Leibniz wählte als Grundkonzept die Monade, ein eigenständiges, von anderen unabhängiges Sein. (Pascal war anderer Auffassung, konnte sich aber nicht durchsetzen.) Descartes soll sein Cogito ergo sum gefunden haben, als er eines Morgens in einen Ofen kroch, um allein sein und nachdenken zu können. Doch schon die teilweise Verwirklichung geistiger und politischer Freiheit stellte die Gesellschaft vor zwei Herausforderungen: die Unabhängigkeit des Einzelnen trotz des Konformitätsdrucks zu bewahren und zugleich die Bürger zu bewegen, über ihre persönlichen Interessen hinaus zu gehen und sich im öffentlichen Bereich zu engagieren (ohne dass die spezifische Sichtweise des Einzelnen darunter litte). Im Blick auf den frühneuzeitlichen Rationalismus schreibt May: "Wie vermochten diese Denker jener Tendenz zu psychologischer Isolation zu entgehen, die dem individualistischen Charakter dieses Denkens innewohnt?" Wie ließ sich unter solchen Umständen Angst vermeiden? Durch einen Ausgleich zwischen Eigennutz und bürgerlichem Engagement, hofften die optimistischen Aufklärer - ein Ziel, das sich nach ihren Vorstellungen ganz von selbst einstellen musste. Wer seinen privaten Interessen in der rechten Weise nachging, förderte damit auch das Gemeinwohl, so dass sich öffentliches Engagement einstellte. Doch ihre Hoffnungen bestätigten sich nicht einmal in ihrem hoffnungsfrohen Jahrhundert, und die Suche nach einem Ausgleich zwischen persönlicher Befriedigung und öffentlichem Leben beschäftigte die Denker auch in der Folgezeit. Im Blick auf das Elend, das aus der Verfolgung der Privatinteressen erwuchs, verteidigte Hegel zwar die Individualität, schrieb aber, das "Besondere für sich [sei] das Ausschweifende und Maßlose"; daher habe der Staat die Aufgabe, "die Besonderheit in Harmonie mit der sittlichen Einheit zu setzen".

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages

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