Vorgeblättert

Salomon Malka: Emmanuel Levinas, Teil 3

15.03.2004.
2. Das böse Genie

Levinas und Heidegger

"Er wurde geboren, arbeitete und starb." So begann Heidegger eines Tages ein Seminar über Aristoteles. Vielleicht wäre es dem Freiburger Philosophen ganz recht gewesen, hätte man diesen Satz auch auf sein Leben bezogen. Und in gewissem Maße haben sehr viele seiner Anhänger in Frankreich diesem Wunsch entsprochen. Sie lobten das Werk, hoben es in den Himmel und kümmerten sich nicht im geringsten um die "Zufälligkeiten" der Biographie. Für die Anhänger waren die Zugeständnisse an den Nationalsozialismus, die Parteimitgliedschaft und die Rektoratszeit ein Ausrutscher, ein verzeihlicher Irrtum, eine Dummheit. Und war Heidegger nicht "nur" von 1933 bis 1934 Rektor gewesen? Er war ja zurückgetreten. Dies ist die Sicht der Dinge, auf der der große Ruhm Heideggers in Frankreich beruht. Die Debatte über das politische Engagement des Autors von "Sein und Zeit? ist allerdings nie beendet worden, sie flammt immer wieder auf. Die Geschichte seiner Rezeption in Frankreich ist chaotisch. Sie reicht vom Besten bis zum Schlimmsten, wie Dominique Janicaud in seiner großen zweibändigen Abhandlung von mehr als tausend Seiten, in der Bilanz gezogen wird, gezeigt hat. Seit Heidegger nach dem Krieg in Verruf geriet, seit dem Lehrverbot, den Solidaritätsbesuchen französischer Intellektueller gleich nach dem Krieg, der Freundschaft mit Jean Baufret und Rene Char, den Frankreichreisen (Paris, Cherisy, Aix-en-Provence, Le Thor), bis hin zur Farias-Affäre Ende der achtziger Jahre (und darüber hinaus), ist diese Rezeption auch geprägt von leidenschaftlichen Interessen und Mißverständnissen. Die Publikation des Buches von Victor Farias wirbelte die philosophische Gelehrtenrepublik durcheinander. Der junge chilenische Dozent, ehemaliger Schüler Heideggers, der später an der Freien Universität Berlin lehrte, hatte gründlich recherchiert, und das Ergebnis war niederschmetternd. Heidegger war nicht, wie oft angenommen, ohne innere Überzeugung Nazi geworden, und sein Rücktritt war kein Protest. Die Bindung an den Nationalsozialismus entstand viel früher und reichte tiefer.

Vorher und nachher

Trotz der entscheidenden Rolle, die Levinas bei der Einführung der Phänomenologie in Frankreich spielte, gehörte er nie zu den sogenannten Heideggerianern. Als das Kulturzentrum Cerisy-Ia-Salle den deutschen Philosophen in den fünfziger Jahren zu einer seiner berühmten Tagungen empfing, war Levinas nicht anwesend. Er nahm auch nicht an den Seminaren in Le Thor 1968 und 1969 teil. Er war nicht einmal eingeladen worden. Er gehörte nie zu Heideggers ergebenen Anhängern und ging ihnen sogar, wo er konnte, aus dem Weg.
Jacques Rolland, sein Schüler und Freund, erinnert sich, Levinas einmal in bezug auf Heidegger sagen gehört zu haben: "Wenn ich ihn gleich nach dem Krieg getroffen hätte, ich hätte ihm nicht die Hand gegeben." Jean-Luc Marion zitiert den Ausspruch: "Was wollen Sie? Das ist eben Nihilismus. Der größte Philosoph des Jahrhunderts war Heidegger. Und der hatte seinen Parteiausweis. Das sind die Zeiten, in denen wir leben." Paul Ric?ur spricht von einem "permanent polemischen Verhältnis". Es war eine Mischung aus Bewunderung und Abgestoßensein, Faszination und gleichzeitigem Abscheu, extremer Nähe und absolutem Bruch. Levinas sprach oft über diese paradoxe Beziehung, nur um zu betonen, daß er Heidegger umso weniger vergeben konnte, als er eben Heidegger war. Was man über Heidegger wissen konnte, wußte er ohnehin alles - und das schon sehr früh. Als das Buch von Farias erschien, fragte man Levinas nach seiner Meinung. Er antwortete: "Farias hat einige Details klarer herausgearbeitet, aber er hat nichts wesentlich Neues publiziert." Und in einem Gespräch mit dem Nouvel Observateur betonte er, er habe von Heideggers Engagement für die Nazis "vielleicht schon vor 1933" gewußt oder es zumindest geahnt.
Ebenfalls in den achtziger Jahren brachte Jacques Rolland den italienischen Philosophen Giorgio Agamben zu einer Bibellesung am Samstagmorgen mit. Am Ende des Unterrichts entspann sich eine Diskussion zwischen den beiden, und Levinas fragte den Besucher: "Aber sagen Sie, Herr Agamben, Sie waren doch bei dem Seminar in Le Thor Ende der sechziger Jahre, wie war er denn da?" Agamben antwortete: "Ich kann nur sagen, was ich gesehen habe. Ich sah einen sanften Mann." Darauf Levinas: "Und ich, wissen Sie, ich kannte ihn 1928/29, und ich habe einen harten Mann erlebt. Ich muß es Ihnen glauben, da Sie es sagen, aber ich kann nicht zu der Überzeugung gelangen, daß dieser Mann sanft gewesen sein könnte." Agamben hat später zu Rolland gesagt: "Dazwischen lag eben der verlorene Krieg!"
Wie für Heidegger, so gab es auch für Levinas ein "Vorher" und ein "Nachher". Aber für Levinas ging es dabei nicht um die Niederlage eines Landes oder eines Regimes, sondern um etwas weit Abgründigeres, das ganz universell jeden einzelnen Menschen betraf. Mehr noch als Hannah Arendt, an deren Beziehung zu Heidegger die erotische Faszination ihren Anteil hatte, war Levinas während seiner gesamten Laufbahn, von der studentischen Begeisterung in Davos über die Ungewißheit in der Gefangenschaft bis zur bitteren Gewißheit in den reifen Jahren, immer der Jude, der Heideggers Weg kreuzte und ihn nach einer noch viel wesentlicheren Vergessenheit befragte als der des Seins. Daß ihre Beziehung nicht durch Begegnungen, Korrespondenz oder Polemik aufrecht erhalten wurde, ändert daran nichts. Den Blick des Philosophen der Ethik, gerade auch in bezug auf die begriffliche Schuld, muß das Genie in seinem Wirken als unerträglich empfunden haben. 

Zorn

Selten allerdings sah man Levinas sich über dieses Thema ereifern, mit einer Ausnahme. William J. Richardson, heute Philosophieprofessor in Boston, hat anläßlich einer internationalen Tagung an der Universität von Loyola im Mai 1993, die auf Anregung Adriaan Peperzaks organisiert worden war, von einer solchen Ausnahme berichtet. Richardson war Levinas 1963 begegnet. Er hatte gerade bei Nijhoff ein Buch mit dem Titel "Heidegger, von der Phänomenologie zum Denken? veröffentlicht, eine bearbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift, die er in Leuwen in Belgien verteidigt hatte. Daher war er von derselben Universität eingeladen worden, sich für den Titel eines maitre-agrege zu bewerben, dem Äquivalent des doctorat d'Etat in Frankreich oder der deutschen Habilitation. Dazu mußte er das Werk vor einer internationalen Jury öffentlich verteidigen. Der Kandidat durfte eigene Vorschläge zur personellen Zusammensetzung machen und, wenn sie angenommen wurden, im Namen der Universität die Einladung aussprechen. Der Name Emmanuel Levinas war sofort auf Zustimmung gestoßen.
Bei der ersten Begegnung mit Levinas, die sehr höflich ablief, bat der französische Philosoph Richardson, ihm sein Buch zu überlassen. Er werde es lesen und ihm dann seine Antwort mitteilen.
Die zweite Begegnung verlief ebenso höflich. Levinas nahm die Berufung in die Jury an, warnte ihn jedoch: Da er kein Freund von Heidegger sei, behalte er sich vor, sich frei zu äußern. Richardson hatte darauf nur eine Antwort: "Genau deshalb haben wir Sie doch berufen!"
Die Zusammenkunft fand statt, feierlich, wie es der Brauch vorschreibt. Als die Reihe an Levinas kam, zeigte er sich wiederum - immer nach den Worten Richardsons - sehr liebenswürdig. Alle hatten eine harsche Attacke erwartet. Aber seine einzige Kritik bezog sich auf den seiner Meinung nach zu "schülerhaften", zu "pädagogischen" Charakter des zu debattierenden Textes. Er fügte jedoch die Frage an, warum wohl ein gläubiger Christ "soviel Zeit mit dem Studium Heideggers verbringen" könne.
Nach der Verteidigung fand ein Empfang im Hause des Universitätspräsidenten statt. Richardson ging, wie er weiter berichtet, Hände schüttelnd von einem zum anderen, als er plötzlich von hinten einen kräftigen Schlag auf die Schulter erhielt. Als er sich umdrehte, erblickte er Levinas und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm für seine Mitwirkung zu danken. Levinas jedoch ignorierte die ausgestreckte Hand, blickte ihm direkt in die Augen und flüsterte: "Ich habe gerade mit alten Freunden über ihr Buch gesprochen und sie zum Lachen gebracht. Ich dachte, es würde Sie vielleicht auch interessieren, weshalb wir gelacht haben. Erinnern Sie sich an die Stelle in Ihrem Buch, wo Sie sagen: '1943 war ein sehr fruchtbares Jahr'"? - "Ja, ich erinnere mich", erwiderte Richardson. "Nun, im Jahre 1943 waren meine Eltern in einem Konzentrationslager und ich in einem anderen. Das war wirklich ein sehr fruchtbares Jahr!" Darauf machte er auf dem Absatz kehrt und ließ Richardson stehen.
Richardson erkannte verblüfft, daß Levinas auch zornig werden konnte und gar nicht mehr der höfliche Akademiker war, der noch vor einer Stunde seinem Vortrag vor der Jury respektvoll zugehört hatte. "Wenn er eine solche Salve loslassen wollte, warum hat er es dann nicht während meiner Verteidigung getan? Es hätte eine wirkliche Konfrontation vor einem akademischen Publikum gegeben! Statt dessen hat er gewartet, bis die Sitzung vorüber war!" Und in dem Gefühl, Zeuge eines unpassenden Verhaltens geworden zu sein, stellte Richardson die Frage: "Wie läßt sich eine solche Szene in Levinas` Denken einordnen? Welchen Stellenwert soll man ihr einräumen?"
Wenn man ihn heute nach dieser lange zurückliegenden Begebenheit fragt, verwendet er noch immer nahezu dieselben Worte: "Der Zeitabstand hat mein Urteil über Levinas nicht verändert. Er war ein bewundernswerter Mensch und Denker. Diese Begebenheit zeigt meiner Ansicht nach nur eine Schwachstelle seines Denkens auf, das eine Seite des Menschen überhaupt nicht berücksichtigt, nämlich das Unbewußte. Die Vorlesung, in der ich diesen Text vorstellte, hat nur einmal mehr diesen Mangel unter Beweis gestellt."
Seltsame Einschätzung! Von welchem Unbewußten war die Rede? Von Levinas' Unbewußtem? Oder von seinem?
Es wäre doch ein Leichtes gewesen, sich vorzustellen, daß die Lektüre eines Buches von siebenhundert Seiten über die Entwicklung von Heideggers Denken ohne die geringste Erwähnung seines politischen Engagements - außer in der lächerlichen Wendung der "fruchtbaren" Aktivität - für Levinas schmerzhaft gewesen sein muß. Dadurch, daß Richardson lieber allgemeine Betrachtungen zur Psychoanalyse und zu deren Einschätzung durch Levinas anstellte, verstärkte er - zweifellos "unbewußt", wie er gerne sagt - noch die Taktlosigkeit, die ihm vorgeworfen wurde.
Dies also war einer der seltenen "Zornesausbrüche" von Levinas. Dieser Mann, dem so oft seine Milde vorgeworfen wurde, konnte bisweilen von schneidender Schärfe sein. Die Episode verrät jedenfalls einen immer noch heftigen, niemals ganz besänftigten Schmerz.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages C.H. Beck

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