Vorgeblättert

Stefan Müller-Doohm: Adorno, Teil 2

04.08.2003.
Seinen Eltern gegenüber verschwieg Adorno auch nicht eine für ihn im höchsten Grade unangenehme Angelegenheit, die Ernst Bloch betraf.(623) Dieser hatte sich mehrfach an Horkheimer mit der Bitte gewandt, durch Forschungsaufträge eine institutionelle Absicherung und finanzielle Förderung durch das Institut zu erhalten.(624) Der Institutsdirektor hatte stets eine reservierte Haltung gegenüber dem Autor des berühmten Buches Geist der Utopie, die noch durch dessen Verteidigung der stalinistischen Säuberungen verstärkt worden war. Nun hatte sich Bloch im September 1942 mit einem im Ton verzweifelten Brief an Adorno gewandt,(625) in welchem er seine aktuelle materielle Misere in dramatisierender Weise darstellte: "Als Tellerwäscher bin ich entlassen, weil ich mit dem Tempo nicht mitkam. Zähle und bündle jetzt Papiere, verschnüre sie und bringe sie auf einen Wagen. Acht-Stunden-Tag. Macht mit Hin- und Rückfahrt und einer Stunde Mittagspause elf Stunden, bis ich wieder nach Hause komme. Von irgendeiner Art eigener Arbeit ist, wie sich versteht, keine Rede mehr."
War es blinde Naivität oder extremes Mitgefühl, daß Adorno diese Schilderung wörtlich nahm? Tatsächlich war der marxistische Philosoph niemals Tellerwäscher, und er hat auch nie Pakete gepackt. Aber Adorno war fest davon überzeugt, daß Bloch, zu dem er und seine Frau ein freundschaftliches Verhältnis pflegten, umgehend geholfen werden müsse. Unabhängig von der vorübergehenden Unterstützung durch das Institut, für die er sich eingesetzt hatte, veröffentlichte Adorno nach Rücksprache mit Horkheimer einen Spendenaufruf im Aufbau zugunsten von Bloch. In seinem kurzen Artikel brachte er nicht nur eine Darstellung der Grundideen der Blochschen Philosophie ("die Entfremdung von Subjekt und Objekt zu überwinden ", "das messianische Ende der Geschichte: [. . .] die unbedingte buchstäbliche Abschaffung von gesellschaftlich-natürlichem Leid"), sondern schrieb unter anderem: "der Theolog der Revolution konnte sich nicht anpassen, und das wird von denen, die die Arbeitsplätze zu vergeben haben, so wenig verziehen wie von den Intellektuellen [. . .]. Seine Beziehung zum Papier ist endlich realitätsgerecht geworden. Er bündelt es, acht Stunden am Tag in einem dunklen Loch stehend. Dem Konzentrationslager ist er entronnen, auf daß man ihm die Mucken draußen austreibe. [. . .] Die Emigration ist ihm den Dank schuldig geblieben.Wie einem Sündenbock hat sie all ihr Elend einem aufgeladen, der mit wenigen anderen jenes Deutschland repräsentiert, dem in der Tat Hitlers tödlichster Haß gilt."(626) Daraufhin erklärte Bloch in einem offenen Brief in der Exilzeitschrift, daß er den Autor des Aufrufs in keiner Weise dazu inspiriert habe. Zugleich verwahrte er sich Adorno gegenüber gegen derartige Initiativen in "jener falschen Öffentlichkeit ". Er betonte: "Ich kann mich auch nicht als Sündenbock ansehen, dem die Emigration all ihr Elend aufgeladen hat. Es gibt viele Tausende, denen es ebenso wie mir und schlimmer geht."(627) Durch diesen unglücklichen Vorfall kam es zum Zerwürfnis zwischen Adorno und Bloch, das über zwanzig Jahre andauern sollte. Im Brief an seine Eltern, kurz vor Weihnachten 1942 geschrieben, gestand Adorno die Blamage ein, die sein Aufruf und der Leserbrief für ihn bedeuteten. Er habe sich Bloch zum Feind gemacht.
Noch von einer anderen Affäre setzte Adorno seine Eltern ins Bild: die im November begonnene, sich mehrere Monate hinziehende Liebesaffäre mit der Schauspielerin und Drehbuchautorin Renee Nell. Für sie, die er seine "Baudelairsche Geliebte" nannte, hatte er ein Poesiealbum mit eigenen Gedichten verfaßt.(628) Die im höchsten Maße erotisch besetzte Beziehung zu dieser Frau hatte Adorno, so bekannte er brieflich in aller Offenheit, bis ins tiefste Innere getroffen, erschüttert und emotional aus der Bahn geworfen. Einzig seine dickhäutige Nilpferd-Natur habe ihn am Ende davor bewahrt, ganz und gar Opfer des haltlosen Kummers und des Leidens zu werden, die diese überschwengliche Liebe für ihn bedeutete. Als Opfer seiner "manisch-depressiven Natur" lösten sich grenzenlose Glücksgefühle und heftige Verzweiflung in kurzer Folge ab. Insofern sei er selbst, weil sich im Grunde "so gut wie nichts" ereignet habe, "Schauplatz des ganzen Romans".(629) Von sich selbst sagte er, daß "ich wahrscheinlich die Eigenschaften, die mich bei der Arbeit vielleicht zu etwas Besonderem qualifizieren, nicht hätte, wenn sie nicht mit einer grenzenlosen Fähigkeit zum Leiden, zum Hingerissen-Werden, zum sich Verlieren gepaart wären. Da ich schon einmal mit allem, was ich bin und vor allem mit den subtilsten sensorischen Reaktionen denken und reagieren muß, so ist es nicht unbegreiflich, daß diese Reaktionen auch eine Heftigkeit annehmen, die weder mit dem vereinbar ist, was sich der gesunde Menschenverstand unter einem Philosophen vorstellt, noch auch nur den berühmten sense of proportions bewährt".(630) Nicht zuletzt durch das "unverdiente Verständnis", das Gretel und Max seiner Passion entgegenbrachten, habe er es geschafft, langsam wieder zu Verstand zu kommen. Adorno machte aus seinen Empfindungen auch deshalb kein Geheimnis, weil er die Freundin jener "Baudelairschen Geliebten" als Besucherin bei seinen Eltern in New York ankündigte, die Schauspielerin Irena Coryan, die mit ihrem richtigen Namen Ira Morgenroth hieß und mit dem Kunstsammler und Philosophen Stephan Lackner (eigentlich: Ernst Gustave Morgenroth) verwandt war, der wiederum Kontakt zu Benjamin, Horkheimer und Adorno hatte.
Die Affäre mit Rene Nell lag seit Frühjahr 1943 glücklich bzw. unglücklich hinter ihm, da ließ sich Adorno im folgenden Jahr abermals auf eine amouröse Beziehung zu einer verheirateten Frau ein. Wenn er nach San Francisco fuhr, um an den Besprechungen über die Antisemitismusforschung teilzunehmen, übernachtete er bei dem befreundeten Arzt Robert P. Alexander, der ihn im übrigen auch regelmäßig behandelte, und dessen Frau. Das Paar hatte fest vor, sich zu trennen. Und Adorno verliebte sich in Charlotte Alexander. Auch diesmal verschwieg er seine Leidenschaft gegenüber Gretel nicht, wie er seinem Freund Hermann Grab nach New York schrieb und dabei anvertraute, Charlotte habe äußerlich und in der Art und Weise des Sprechens Ähnlichkeiten mit ihm selbst. "Wir haben ein halbes Jahr des wolkenlosesten Glückes miteinander gehabt."(631) Entweder kam sie am Wochenende nach Los Angeles, oder Adorno traf sich mit ihr in San Francisco. Was ihn an der Frau fasziniere, sei ihre Aura, der Zauber ihrer Person, "wie wenn ein Stück ganz verschollenen Glücksversprechens aus der Kindheit auf die unerwartetste Weise, zu spät gleichsam, erfüllt worden sei."(632) Als Charlotte Alexander einen Flirt mit einem anderen Mann anfing und sich die Möglichkeit einer festeren Verbindung abzeichnete, reagierte Adorno eifersüchtig und ließ durch Grab Erkundigungen über diesen Mann einholen, ja er ging so weit, vorzuschlagen, man solle ihn mit anderen Frauen aus dem Freundeskreis bekannt machen, denn es müsse um jeden Preis verhindert werden, daß sein Rivale am Ende auf den Gedanken komme, Charlotte zu heiraten.(633) Adorno wurde sich schnell bewußt, daß sein Wunsch etwas "Manisches" hatte, denn schon sechs Monate später schrieb er wiederum an Grab, daß er "die Selbstkontrolle wiedergewonnen habe".(634)
Natürlich waren nicht alle Beziehungen, die Adorno zu Frauen hatte, verwickelt und erotischer Natur. Sosehr er die Schauspielerin Luli Deste, die Gräfin Goerz, geborene Baroneß Luli von Bodenhausen verehrte, die er Mitte 1943 bei einer Gesellschaft kennengelernt hatte, die Liebe zu ihr blieb platonisch.635 Die höchst attraktive, geradezu grazile Frau mit ihren graublauen Augen und dem brünetten Haar war zwei Jahre älter als Adorno. Sie stammte ausWien und behielt den Akzent ihrer Geburtsstadt auch im Englischen bei, was Adorno gewiß äußerst charmant fand. Die Afghanen-Hunde, die sie mit in die USA brachte, waren zeitweilig bei Adorno in Pflege. Luli Deste wirkte in mehreren Filmen mit wie Thunder in the City (1937), She Married an Artist (1938), South of Karanga (1940), Flash Gordon Conquers the Universe (1940), bis sie Anfang der vierziger Jahre der Filmbranche den Rücken kehrte.
Als Adorno die ausgewählten Traumprotokolle veröffentlichte, seine jeweiligen Ergänzungen zu den Aphorismen im Schlußteil der Dialektik der Aufklärung schrieb und noch nicht mit dem Hauptteil seiner Arbeitszeit in das Berkeley-Projekt über soziale Diskriminierung integriert war, nahm er ein auf die Zeit in Oxford zurückgehendes Vorhaben wieder auf: Er erinnerte sich der aphoristischen Notizen, die er kurz nach Erscheinen von Horkheimers Dämmerung verfaßt hatte. Vermutlich hatte Adorno im Laufe der vorausgegangenen Jahre die seit 1935 entstandenen Entwürfe zuweilen ergänzt, so daß er schon eine Anzahl von Texten zusammengestellt hatte, als er den Plan zu realisieren begann, zu Horkheimers Geburtstag ein umfangreiches Manuskript mit tagebuchartigen Aufzeichnungen fertigzustellen. So gelang es ihm, Horkheimer zum 50. Geburtstag am 14. Februar 1945 den ersten Teil einer Sammlung von fünfzig Aphorismen zukommen zu lassen, versehen mit der handschriftlichen Eintragung "Als Dank und Versprechen".(636) Leider konnte Adorno seine Textsammlung nicht persönlich übergeben, denn während er sich in Santa Monica aufhielt und das Glück hatte, von Kalifornien aus an dem Projekt der Antisemitismus-Forschung mitzuarbeiten, war Horkheimer in New York damit beschäftigt, seinen nicht gerade geschätzten Verpflichtungen innerhalb des Department of Scientific Research des American Jewish Committee nachzukommen. Den zweiten Teil der Aphorismen konnte Adorno Weihnachten 1945 persönlich übergeben; auf der Reinschrift stand dieWidmung "Für Max. Zur Rückkunft." Auch die über fünfzig Aphorismen des dritten Teils, die Adorno 1946/47 verfaßte, verstand ihr Autor als "Zeugnis eines dialogue interieur: kein Motiv findet sich darin, das nicht Horkheimer ebenso zugehörte wie dem, der die Zeit zur Formulierung fand."(637) Diese Bemerkung bezog sich darauf, daß Horkheimer, nachdem die Dialektik der Aufklärung abgeschlossen und die daraus hervorgegangenen Vorlesungsmanuskripte unter dem Titel Eclipse of Reason bei der Oxford University Press zur Veröffentlichung umgearbeitet waren, überwiegend mit administrativen Aufgaben belastet war. Obwohl auch Adorno die 'Knochenarbeit' des social research keineswegs erspart blieb, hatte er zeitlich gesehen doch eher die Möglichkeit, die 1942 begonnenen geschichtsphilosophischen und gesellschaftskritischen Denkansätze in selbständiger Weise fortzuführen. Eben davon zeugen jene Reflexionen aus dem beschädigten Leben, die er erst Jahre später, als er nach Deutschland zurückgekehrt war, in Buchform mit diesem Untertitel veröffentlichen konnte. In dem Brief, in dem er seinen Eltern gegenüber diese Aphorismen erwähnte, betonte er nicht nur die geradezu existentielle Zielrichtung seiner Reflexionen,(638) sondern bekannte sich auch zu ihrer fragmentarischen Form, zu der er durch die erneute Nietzschelektüre angeregt worden sei.(639) Leitmotive dieser zumeist kurzen Textstücke waren die Emigration und der Totalitarismus, die Individualität und die Psychoanalyse, die Kulturindustrie und die Verantwortung des Intellektuellen; aber auch alltägliche Phänomene wurden kritisch behandelt wie beispielsweise das Wohnen, das Schenken, das Laufen auf der Straße, schließlich die Unmöglichkeit der Liebe, die Notwendigkeit der Hoffnung und die Ausweglosigkeit der Lüge. In der "Zueignung", die wie in Goethes Faust den vorgestellten Adressaten der Reflexionen ansprach, gab Adorno über die Verfahrensweise seiner "traurigen Wissenschaft " Auskunft. Trotz des historischen Zerfalls des "alten Subjekts" ging seine Betrachtung der Welt von den individuellen Erfahrungen aus: ganz zufällige Begebenheiten, eigene Beobachtungen und Einsichten. Auch wenn dieser "subjektiven Betrachtung" etwas "Sentimentales und Anachronistisches" anhafte, teile sich der Zustand der Gesellschaft gerade der "individuellen Erfahrung" mit. Dies sei der Grund, als Philosoph ganz der reflexiven Durchdringung eigener Erfahrungen zu vertrauen, die sich ihm im "engsten privaten Bereich" des "Intellektuellen in der Emigration" aufdrängten.(640)

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(623) Vgl. Brief von Adorno an die Eltern vom 21.12.1942, Adorono, Briefe an die Eltern 1939-1951, 2003, S. 175.
(624) Vgl. Horkheimer, Briefwechsel, GS 16, S. 413 ff. sowie Band 17, S. 334 f.
(625) Vgl. Bloch, Briefe, Band 2, S. 443 ff.
(626) Adorno, Für Ernst Bloch, GS 20.1, S. 190 ff.
(627) Bloch, Briefe, Band 2, S. 446.
(628) Diese Gedichte schrieb Adorno im Februar, Mai und Juni 1943. Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. (Ts 51833).
(629) Brief von Adorno an seine Mutter vom 10.2.1943. Adorno, Briefe an die Eltern 1939-1951, 2003, S. 180 ff.
(630) Ebd., S. 181.
(631) Brief von Adorno an Grab vom 27.10.1945. Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. (br 497/39, 40).
(632) Brief von Adorno an Grab vom 2.5.1946. Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. (br 497/41, 42).
(633) Brief von Adorno an Grab vom 4. und 25.10.1945. Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. (br 497/36, 39).
(634) Brief von Adorno an Grab vom 2.5.1946. Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. (br 497/41, 42). Charlotte Alexander hat später neuerlich geheiratet, sie wurde Frau Violin, während ihr ehemaliger Mann Robert Alexander 1948 Anita Seligmann ehelichte, die mit Adorno schon siet den dreißiger Jahren in Frankfurt bekannt war; sie hatte damals vor, bei ihm eine Dissertation über Robert Walser zu schreiben.
(635) Vgl. Brief von Adorno an Luli von Bodenhausen vom 8.7.1951. Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. (br 154/18).
(636) Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. (Ts 1396/1515).
(637) Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 17.
(638) Vgl. Brief von Adorno an die Eltern vom 31.10.1945. Adorno Briefe an die Eltern 1939-1951, 2003, S. 336.
(639) In Nietzsches Werk nehmen, ähnlich wie bei Adorno, die Aphorismen eine Zwischenstellung zwischen Philosophie und Literatur ein. Die Werke Nietzsches, auf die sich Adorno bezog, waren neben
Jenseits von Gut und Böse die Sammlungen Menschliches Allzumenschliches, Morgenröthe und Fröhliche Wissenschaft. Vgl. Krüger, Über den Aphorismus als philosophische Form, 1988.
(640) Vgl. Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 13 ff.


Teil 3