Vorgeblättert

Stephan Wackwitz: Neue Menschen. Teil 1

29.08.2005.
(S. 217ff)

Beim Onkel Otto

Die "Evangelisch-Theologischen Seminare", wie die Klosterschulen der Württembergischen Landeskirche seit 1806 heißen, wurden 1559 durch den schwäbischen Reformator Johannes Brenz gegründet. Seither hat man in diesen Seminaren viel Erfahrung damit gesammelt, wie man die pietistisch entzündeten jungen Psychopathen des Schwabenlands einerseits im Herrn und in seiner Zucht erhält, andererseits so weit wieder auf den Teppich bringt, daß sie in der Verwaltung von Staat und Kirche einigermaßen verwendbar (und zum Teil sogar außerordentlich tüchtig) werden; was sie jahrhundertelang ja wirklich waren. Württemberg, so informiert uns die Psychiatriehistorie und -statistik, ist neben der Gegend um Dublin das europäische Gebiet mit der größten Häufung psychotischer und neurotischer Erkrankungen. Zu den Zeiten des deutschen Kaiserreichs gehörte ein field trip von Berlin nach Stuttgart und Tübingen, um dort "die herrlichen schwäbischen Schizophrenien" differentialdiagnostisch durchzuchecken, zu den Höhepunkten des psychiatrischen Ausbildungsgangs.
     Ob die reiche und bis heute geradezu erschreckend lebendige pietistische Tradition dieser Gegend der Grund für diese Häufung ekklesiogener und ekklesioformer Dachschäden im Schwabenland ist oder sich umgekehrt jener verdankt, ist eine offene und wahrscheinlich nicht entscheidbare Frage. Fest steht, daß die jahrhundertealte, vor allem literarisch-philosophische Blüte der schwäbischen Kultur sehr dicht an einem Abgrund psychopathologischer Erregungs-, Erwartungs- und Selbstverkapselungszustände entstanden ist. Man muß die Krater, Auswurfkegel und Lavafelder des Wahns in der geistigen Landschaft des Achtzehnten Jahrhunderts vielleicht überhaupt als das verschwiegene Glutzentrum der Goethezeit und ihrer kulturellen Beschleunigung in Rechnung stellen.
     Brenz, der noch Luther selbst in Heidelberg disputieren hörte, war ein realistischer, begabter, tatkräftiger und mutiger Administrator, Fürstenberater und Politiker. Aber schon sein Nachfolger (und übrigens leiblicher Urenkel) Johann Albrecht Bengel, Leiter der Denkendorfer Klosterschule, erscheint im Rückblick sehr verschattet von Prophetentum, kabbalistischen Zahlenspekulationen und ekstatischer Verzückung. Sein sentimentales Angedenken ist in den entsprechenden württembergischen Kreisen noch heute auf eine leicht gruselige Weise lebendig. Und seine Datierung des Weltendes auf den 18.6.1836 war der Grund für eine der großen schwäbischen Auswanderungswellen in das Heiligungs- und Verklärungsland überm Meer, nach Pennsylvania.
     Bengels Schüler Friedrich Christoph Oetinger wiederum erlebte seine dramatische Konversion 1720 als neunzehnjähriger Blaubeurer Klosterschüler unterm Einfluß der Schriften Jakob Böhmes. In seinem Werk kann man die krause, kranke, entzündet-hochfahrende Endzeiterwartung, das seltsame und unheimliche Pathos des schwäbischen Pietismus schon in voller Blüte studieren. Die esoterischen Berechnungen. Die alptraumhaften naturphilosophischen Phantasmen. Den stieren Blick in das unsichtbar immer weit offen stehende Jenseits. Den unfreiwillig komischen Swedenborg-Ton unmittelbaren Umgangs mit den Toten und dem Allerhöchsten selber. Ich studierte das alles im verregneten Frühling 2004 mit einer Art ungläubigem, sich steigernden Entsetzen. Denn in genau diesem unheimlichen Blütezustand ist die schwäbische Gnosis in die philosophischen und literarischen Entwürfe des Deutschen Idealismus eingegangen. Hegel, Schelling und Hölderlin teilten sich bekanntlich eine Stube in der den Klosterschulen folgenden universitären Einrichtung, dem Tübinger "Stift". "Reich Gottes" war die Parole und Abklatschformel, mit der die drei nach ihren Universitätsjahren auseinandergingen, um ihre Philosophen- und Dichterkarrieren zu verfolgen und auf die sie sich in ihrer Korrespondenz noch Jahrzehnte danach bezogen ("gimme five, Hegel! Reich Gottes!").
     Nach meinem eigenen kleinen Ausflug auf die Neverland Ranch des gnostischen Jugendirreseins bestand ich das sogenannte "Landexamen", mit dem man eine Freistelle in den "Evangelisch-Theologischen Seminaren" erwirbt. Ich erlebte die württembergischen Klosterschulen in Schöntal und Urach im Prinzip zwar noch in dem gleichen Zustand, wie der Zögling Hermann Hesse sie in "Unterm Rad" beschrieb. Andererseits war die strenge, im Kern noch auf Brenz zurückgehende Ordnung im "Semi" 1968 schon seltsam ausgefranst. Das Bildungspathos Bengels und Oetingers begann sich mit dem protestantischen Millenarismus Rudi Dutschkes zu vermischen. Die theologischen Fakultäten der Universität Tübingen (die evangelische war erst im Neunzehnten Jahrhundert aus jenem "Stift" hervorgegangen, auf das unsere Schule uns vorbereitete), waren das Schanghai jener Roten Garden und "Befreiungstheologen", die ein paar Jahre lang in einer heute nicht mehr vorstellbaren Weise den Ton auch unter frommen bundesrepublikanischen Intellektuellen angaben (der spätere Kardinal Ratzinger wandelte sich erst in Tübingen von einem liberalen Theologen in einen konservativen Literalisten). "Ich muß mich in diesem Urlaub einfach mal wieder mit dem ?Prinzip Hoffnung? in meinem Studierzimmer einschließen", sagte, wie ich mich aus irgendeinem Grund genau erinnern kann, einer unserer "Repetenten", ein junger Theologe, dessen Schlaf- und Arbeitszimmer jahrelang zwischen unseren Schlafsälen und Studierstuben lag.
     Woodstock kam. Dutschke wurde in den Kopf geschossen. "Beggars Banquet". "The White Album". "Get yer Ya-ya?s out". "Blow-up". "Let it Bleed". "Sticky fingers". Ich fuhr nach Paris. Die Tanzstunde. Das Abitur. Die plötzliche Vereinsamung danach. Marcuses "Versuch über die Befreiung". Mein erstes Auto. Einsame, ziellose Reisen. Joints, ein paar LSD-Trips. Tübingen. München. Stuttgart. Careless Love. Der geistige und dann auch lebensgeschichtliche Schock, den die Begriffe der klassischen deutschen Philosophie und ihr gnostisches Pathos bei der ersten Begegnung in mir ausgelöst haben, kam erst Jahre nach meiner fundamentalprotestantischen Schulzeit.
     Dieser Schock (dieses Bekehrungserlebnis?) ist mithilfe einer Notiz auf dem Schmutztitel der "suhrkamp taschenbuch wissenschaft"-Ausgabe von Walter Benjamins Dissertation "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" bis auf den Tag und auf eine bestimmte Gegend der Stuttgarter Außenbezirke genau datierbar. "Stephan Wackwitz. 1. XI. 75. über Wangen", steht da, sehr sorgfältig geschrieben, in der Art eines Epitaphs oder vielleicht eines Romanbeginns. Und als hätte ich den Zentralsatz dieses Romans (den mein Leben in den nächsten Jahren fertigschreiben würde) notieren wollen, steht darunter, mitten auf dem Blatt: "...im Hexensabbat der klassischen deutschen Philosophie mittanzen."
     Das ehemalige Weingärtnerdorf Hedelfingen ist heute eine Industriegemeinde, in der vor allem die Arbeiter der nahegelegenen Daimler-Chrysler-Werke und des Kodak-Konzerns ein wenig neckaraufwärts wohnen. Es gibt dort aber auch noch Weinbauern, die ihre Wohnzimmer, Hobbykeller und Veranden im Herbst zu "Besenwirtschaften" öffnen, wo der neue Jahrgang zu Butterbrezeln und Zwiebelkuchen bis spät in die Nacht ausgeschenkt wird. Betrunkene Gänge in den frühen Morgenstunden über die Neckarbrücke zum Taxistand in Obertürkheim; der nächtliche Blick auf die Kräne, Lastschiffe und Container des beleuchteten Neckarhafens. Auf die Höhen über Wangen steigt man auf alten Weingartenpfaden und -staffeln, an einer Kirche aus den Fünfziger Jahren vorbei. Dann erreicht der steile Weg den Absatz der Hochfläche und legt sich einem ebenerdig zu Füßen. Von dort oben kann man, ohne noch einmal steigen zu müssen, zwischen Schreberhäuschen, Obstgärten und Weinberghängen bis in die Stuttgarter Innenstadt weitergehen. Dramatisch wechselnde Ausblicke auf das von Produktionshallen, Autobahnen, Gaskesseln, von der Eisenbahnlinie und der Daimler-Teststrecke versiegelte Tal zu beiden Seiten des kanalisierten Stroms tun sich auf. Die tiefgestaffelten Weinberge des gegenüberliegenden Hang- und Seitentalsystems erscheinen am jenseitigen Anstieg des Flußtals. Der Melac-Turm aus dem Siebzehnten Jahrhundert, der schon zum Befestigungssystem der freien Reichsstadt Esslingen gehört, wird im Weitergehen drüben sichtbar. Die klassizistische Grabkapelle der Württembergischen Könige auf dem Rotenberg zitiert in einer surrealistischen Wendung mitten in der romantisch-industriellen Flußlandschaft das römische Pantheon.
     Ich wohnte mit meiner Freundin in drei kleinen Zimmern eines Hauses, dessen Fenster im frühen Neunzehnten Jahrhundert in einen Garten hinausgesehen haben müssen, der in die noch unregulierten Neckarauen überging. Jetzt drangen hierher nicht mehr der Nebel, die Anmutungen, Gerüche und Vogelstimmen einer Flußlandschaft. Nicht Baumkronen, Wiesen und Felder waren in der Nähe. Auf Güterwaggons montierte Container waren aus unseren Fenstern zu sehen und schoben sich in tage- und nächtelangen Prozessionen vorbei. Einmal, als ich an meinem Schreibtisch saß, stand ein schmaler Mond über der Gleislandschaft und die türkisenen und orangenen Farben des winterlichen Spätnachmittags leuchteten. Der hintere Teil des heruntergekommenen Hauses bestand aus einem Atelier. Ein wandgroßes Fenster ging auf einen zugewucherten Garten voll dunkler Nadelgewächse hinaus. An Nachmittagen saßen wir mit dem jungen Maler, der dort wohnte und mit dem wir die Toilette teilten, in unserer Küche, tranken Nescafe oder rauchten einen Joint, während im Ofen die Briketts zu glühenden Krümeln verbrannten. Einmal besuchte ich ihn mit zwei Bierdosen in dem saalartig großen, mit unverkauften Leinwänden vollgestellten Raum, wo er in einer irgendwie abgetrennten Ecke sein Bett hatte. Ich hatte einen fürchterlichen Streit mit meiner Freundin gehabt. Es hatte geschneit. Wir saßen im abnehmenden Licht, das durch sein Atelierfenster zu uns hereindrang, sahen gemeinsam in die Dämmerung hinaus, sagten nicht viel und tranken die beiden Biere.

Teil 2