Vorgeblättert

Wolfgang Hädecke: Novalis. Teil 2

25.08.2011.
Das Ende des Soldatenplans war hart - oder auch banal: Der Rentmeister Mindermann in Eisleben, Vermögensverwalter der Familie von Hardenberg, machte, unterstützt vom Vater, dem Offiziersanwärter klar, daß die ins Auge gefaßten militärischen Einheiten "Cavallerie" und "Churfürst Cürassier" viel zu hohe Ausstattungskosten verlangten und unbezahlbar waren. "Mit Geld ists überall gut seyn, selbst Fahnenjunker, aber ohne Geld da ists ein armseelig Ding zu leben", schrieb der Ernüchterte an Erasmus. Eine Anleihe von 500 Talern beim Vetter von Miltitz wurde verworfen, die Fortsetzung des Studiums beschlossen: "Meine Mutter ergriff mit beyden Händen meinenabgeänderten Entschluß"; mit der "Humanitaet" des Vaters konnte der Sohn, einige berechtigte Vorwürfe abgerechnet, zufrieden sein. Wittenberg wurde der dritte und letzte Studienort.

Daß diese Auskünfte in einem Brief an Erasmus stehen, ist kein Zufall: Er war eindeutig der Lieblingsbruder von Fritz, erst recht nach seinem Abgang von Schulpforta im März 1792 und der Aufnahme des Jurastudiums zu Leipzig im Mai. Friedrich beriet, schützte und lenkte den häufig Kränkelnden, der ihn bewunderte, ohne sich zu ducken - manchmal geriet Fritz regelrecht ins Dozieren, wenn er zum Beispiel dem Jüngeren zu klugem Verhalten gegenüber "den beyden altmodigen Köpfen" Vater und Onkel riet oder ihm eine Auswahl französischer Romanlektüre vorschlug. Gewichtig war auch Friedrichs besorgter Rat zur Preisgabe des Studiums: Der Arzt drang darauf, weil dem ernsthaft erkrankten Erasmus die sitzende Lebensweise schade - so nahm dieser schließlich einen Vorschlag des Vaters an, ging im Juni 1793, kurz nach Friedrichs Anfang in Wittenberg, als Jagdvolontär und Forstjunker zur kurfürstlichen Oberförsterei Schloß Hubertusburg und bezog Wohnung im nahen Städtchen Wermsdorf.
Daß die befürwortete Trennung der beiden Herzensbrüder den Älteren auch schmerzte, zeigt eine wohl im September 1793 abgeschickte, humorig-selbstironische Äußerung: "Uns beyden geht es sonderbar. Wir spielten in Leipzig brillante Rollen auf dem Theater der Welt. Jezt vegetirt der Eine in Wittenberg und knackt lateinische Nüsse und streut Bücherstaub auf seinen Scheitel - der Andre gähnt in einem Holzwinkel hinter den Huronen und treibt das ehrwürdige Handwerck der alten Deutschen, hängt ein Flinte auf die Schulter und lebt halb abgestorben still für die Zwecke der Zukunft. Die Hoffnung und unser Ziel müssen uns begeistern und die Gegenwart mit ihrer feindseligen Laune verdrängen."
Am 11. März 1793 kehrte Novalis nach Weißenfels zurück. Am 27. Mai wurde er in Wittenberg immatrikuliert: "Ich wurde gewissermaßen gezwungen nach Wittenberg zu gehn und zu der Jurisprudenz zurückzukehren", schrieb er Ende Januar 1800 mit Seitenhieb gegen die Eltern an seinen Gönner und Vorgesetzten, den Geheimen Finanzrat von Oppel in einer Art autobiographischem Lebensabriß, fügte aber hinzu: "Mein Mißgeschick weckte meine Ambition und mein Glück führte mir vortreffliche Lehrer zu - so daß in fünf Vierteljahren das Versäumte nachgeholt und ich examinirt war." Namen von Professoren nannte er nicht - es waren fünf in einer starken juristischen Fakultät mit durchaus konservativem Grundzug, das Althergebrachte herrschte, wie Hardenbergs Studienkollege Karl Salomo Zachariä, später ein bekannter Staatsrechtler, deutlich urteilte: "So entsteht aber eine gewisse Einförmigkeit der Lehrart, Anhänglichkeit ans Alte, Einseitigkeit, Abgeschlossenheit." Novalis setzt seine volle Arbeitskraft in das Fachstudium, mit jenem Hoch-Maß an Konzentration, das einer seiner stärksten Charakterzüge ist: "Fleißig bin ich jezt immer ?, besonders da es mir leichter wird, als ich mir selbst vorstellte", schreibt er der Mutter zu ihrem 23. Hochzeitstag Ende Juni 1793, "der Vater wird auf Michaelis zufrieden seyn." Diesem selbst versichert er wenige Wochen vor dem Examen, daß ihm die Arbeit schmecke: "Staatsrecht, Statistik, Völkerrecht und Referiren füllen außerdem meine Stunden völlig." Für das unentbehrliche juristische Repetitorium und den Einpauker hat er im Brief an Erasmus sogar Humor: "Ich mache ziemlich beträchtliche Fortschritte. Mein Repetent Mangold ist bey mir jezt Mode. Ich rede von nichts als von ihm. Es ist ein excellenter Kerl."
Dem Bruder erzählt er auch von den fröhlichen Stunden mit "ein paar Schwestern", Mitbewohnerinnen des Hauses, wo er mit seinem Kommilitonen Friedrich Wilhelm von Kommerstedt "in hoher Eintracht" logiert. Die jungen Herren besuchen die jungen Damen - "sehr hübsch, wunderschön" - jeden Abend - und müssen dazu "eine Fahrt in die Bürgerwelt machen. Es sind nichts als blanke, baare Bürgermädchen - aber sie haben hundertmal mehr Verstand als die Vornehmsten." Wenn Hardenberg dann noch hinzufügt, daß "der Philisterstand" herrlich sei, kommen einem Zweifel, wie ernst das gemeint sein kann und ob es "da drinnen" nicht ganz anders aussieht, zumal der Vater in einer scheinbar harmlosen Affäre Alarm geschlagen hat, der gar nicht zur Heiterkeit des Examenskandidaten und seinen Fleißbekundungen paßt: Der Salinendirektor murrt mit den drei SöhnenFriedrich, Erasmus und Karl wegen der Kosten eines Tagesausflugs nach Wörlitz, den sie sich geleistet haben, ohne zu fragen - Friedrichs daraufhin geäußerter Wunsch nach einer festen Anstellung mit Unabhängigkeit vom Geldbeutel des Vaters entspringt also keineswegs nur der erwähnten Fröhlichkeit mit den Schwestern.
Jedenfalls bricht der heitere Enthusiasmus nach dem 14. Juni 1794 plötzlich ab. An diesem Tag besteht Novalis das Juristische Staatsexamen am Wittenberger Hofgericht "mit der ersten Censur" - und verläßt die Stadt kurz danach unangekündigt Richtung Weißenfels. Hat er die Nase voll von allem, was ihm in der Universität und der juristischen Plagerei widerfuhr? Die glänzend bestandene Prüfung müßte ihn doch eher beflügeln.
Über die Zeit von Anfang April 1793 bis Ende Juli 1794, von Hardenbergs Einstieg ins Wittenberger Studien-Finale bis zu Weißenfelser Erholungswochen nach dem Examen spannt sich ein allerdings zweifach lädierter Briefwechsel-Bogen zwischen den beiden künftigen Romantikern - lädiert, weil von Schlegel zehn Briefe überliefert sind, von Hardenberg nur einer, freilich großen Formats - und weil Schlegel zwischen dem neunten und zehnten Brief ein Dreivierteljahr schweigt; im übrigen kann man den Inhalt der verlorenen Schreiben Hardenbergs zumindest annähernd den Schlegelschen Texten ablesen.
Beide Partner suchen die Nachwirkungen ihrer unglücklichen Lieben zu verarbeiten, wobei Schlegel, der tiefer und länger Leidende, den Freund umso heftiger zu trösten versucht, obwohl er weiß: "Du hast Dich selbst nicht verloren - das ist genung", während er selber hin und her gerissen zwischen Erbitterung und Sehnsucht Mitte August klagt: "Jetzt ist es ein Jahr, daß ich die unseelige Bekanntschaft machte." Umgekehrt weist Hardenberg den Übermittler der peinlichen Ausfälle seines Vaters in Auerbachs Keller in die Schranken, als Schlegel böse Urteile über den Adelsstolzen abgibt.
Erschütternd sind Schlegels offene Eingeständnisse seiner kolossalen Schwierigkeiten, die Existenz als "freier" Schriftsteller durchzuhalten. Er scheint zu verstehen, daß Novalis der Bitte, ihm sechs Louisdors zu leihen, nicht stattgeben kann (daß das Geld für Caroline Böhmer bestimmt war, erfuhr Hardenberg erst viel später); dann aber malt Schlegel ein düsteres Bild seiner Lage: "Daß ist das Schlimmste meines Schicksals, daß ich bey meinen Freunden betteln muß, oder doch sie peinigen, wenn ich nicht gar ihr Zutrauen verliere." Mit unterschwelliger Kritik am adligen Freund fährt er sodann fort: "Du weißt vielleicht nicht von welchem Werth mir freie, reine Thätigkeit des Geistes für mich ist, und wie gäntzlich sie gestört wird durch die ängstliche Besorgniß, daß über kurz oder lang meine Ehre unter dieser Betteley leiden könnte." Man weiß nicht, ob Novalis auf diese Selbstdarstellung Schlegels geantwortet hat; er wird aber gewiß beeindruckt gewesen sein. Sein einziger erhaltener Beitrag hebt das Gespräch auf die Ebene einer hintergründigen Hymne, in der die konkreten Nöte des Freundes eher mythisierend gedeutet werden:

Mich dauert Dein armes, schönes Herz. Es muß brechen, früh oder spät. Es kann nicht seine Allmacht ertragen. Deine Augen müssen dunkel werden über der schwindelnden Tiefe in die Du hinabsiehst, in die Du den bezauberten Hausrath Deines Lebens hinabstürzest. Der König von Thule, lieber Schlegel, war Dein Vorfahr. Du bist aus der Familie des Untergangs, Jezt kann ich Dirs sagen und wundre mich, daß Dirs Dein Bruder nicht sagt. Du wirst leben, wie wenig leben, aber natürlich kannst Du auch keinen gemeinen Tod sterben. Du wirst an der Ewigkeit sterben. Du bist ihr Sohn - sie ruft Dich zurück. Eine seltne Bestimmung hast Du bey Gott. Vielleicht seh ich nie wieder einen Menschen, wie Dich. Für mich bist Du der Oberpriester von Eleusis gewesen. Ich habe durch Dich Himmel und Hölle kennen gelernt - durch Dich von dem Baum des Erkenntnisses gekostet.

Die düster-prophetische Hymne mit ihrer Untergangs-Vorhersage wird immerhin durch die Anspielung auf die Eleusischen Mysterien mit ihrem ursprünglichen Fruchtbarkeitskult etwas aufgehellt; auch folgen dahinter nicht weniger pathetische, aber aufrichtende, ermutigende Sätze mit der Zurückweisung untergründiger Todeswünsche des Freundes, die Hardenberg zu wittern scheint - und es folgt noch einmal ein heiterer Blick auf seine eigene Lage: Er ist zufrieden, "in einer glücklichen Ruhe"; allerdings mit seinem "Schöndenken und Schreiben ists jezt vielleicht auf immer vorbey", seit dem Weggang von Leipzig will er "keine 10 Blätter gelesen" haben; er will nach dem Tode des Vaters bei den Geschwistern die Vaterstelle einnehmen: "Diese häusliche Familienbestimmung ist ganz die Meinige. Diese Lebensart bekommt mir, wie Bergluft."
Schlegel entgegnet gelassen: Novalis habe zwar "kalte Bewunderung" statt eines freundlichen Blickes und eines sanften Gefühls für ihn geäußert, aber auch "ganz treffend Wahres, noch mehr Vortreffliches" gesagt. Der Freund sei ein Prophet und solle nun mehr und mehr ein Mensch werden, mit dem er gern sein Leben teilen wolle: "dringen doch Wenige vielleicht niemand so tief in mich ein wie Du, und ich finde mich so gerne in Dir wieder" - stets "nach einem ächten Leben" trachtend und nicht etwa "nach einem großen feyerlichen Untergang". Einen ganz entscheidenden Unterschied setzt er freilich der Familien-Häuslichkeit Hardenbergs entgegen: "Deine Bestimmung ist, Deinem Hause treu zu seyn, es zu adeln und zu zieren. Ich Flüchtling habe kein Haus, ich ward ins Unendliche hinaus verstoßen (der Kain des Weltalls) und soll aus eignem Herzen und Kopfe mir eins bauen." Das Bild vom unbehausten Flüchtling ist fast ein Zitat aus Goethes "Faust. Ein Fragment", das 1790 im Druck erschienen war.
Nach einem weiteren kurzen Brief schweigt Schlegel, wie erwähnt, ein Dreivierteljahr: Er will den Freund nicht mit seiner Unruhe, seinen Sorgen belasten, wie er Ende Juli 1794 nach der langen Korrespondenzpause versichert - aus Dresden, wohin er zu Jahresanfang gezogen ist, unter den Fittichen seiner Schwester Charlotte Ernst und ihres Mannes, eines hohen Hofbeamten. Er sei übergesiedelt mit dem "Opfer strengster Entsagung und unaufhaltsamer Thätigkeit", verspricht er August Wilhelm, seinem lebenslangen Helfer und Wohltäter, aber auch mit gewichtigen Nachrichten zu großen, alsbald realisierten Schreibplänen über griechische Dichtung, ja: griechische Kunst und Kultur überhaupt. Noch im gleichen Jahr erscheint als erste dieser Arbeiten der Zeitschriftenaufsatz "Von den Schulen der griechischen Poesie"; 1795 wird das Hauptwerk "Über das Studium der griechischen Poesie" mit einbezogener umfassender Analyse und Kritik der Gegenwartsliteratur entstehen. Schlegel hatte Dresden mit Hardenberg schon im Frühjahr 1792 besucht, wobei sie auch Schiller trafen; 1794 scheitert aber Schlegels Versuch, den Freund zur Elbmetropole zu holen; Hardenberg folgt dem Ruf nicht und geht, auch unter dem Eindruck des Briefwechsels, seinen eigenen Weg, auf dem ihm klar wird, wie er nicht leben und arbeiten will: wie Schlegel. Die Freundschaft zerbricht daran nicht, denn "wir können doch eine Bahn gehn", schreibt Novalis am 1. August 1794 fast programmatisch.
Im gleichen Brief zieht er Bilanz: "Mit der ersten Censur war ich um einen guten Schritt weiter. Der Pedantismus der Schule war nun überstanden, und ich war mit dem zweiundzwanzigsten Jahre frei, munter und mutig. Jetzt hat mein ganzer Charakter einen politisch philosophischen Schwung erhalten, und zwar sehr unmerklich. Ich bin plötzlich von Wittenberg weggegangen, um mich allein zu haben." Der kleine Kausalsatz ist ungeheuer wichtig. Er drückt erstrebte und gewonnene Stärke aus. Hardenberg weiß nach der Wittenberger Strapaze, daß er solche - oft alles andere als lustvollen - Aufgaben bestehen kann: glänzend und kraftvoll: "Des jugendlichen Lärms habe ich genug. Hier erwarte ich gelassen den Ruf meines Schicksals, denn mein Leben ist schon fertig - Ich habe nur einen Zweck - der ist überall erreichbar, wo ich thätig sein kann, doch habe ich mir nicht, wie ein Spießbürger, allzu enge Gränzen gemacht."

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