Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2001.

FAZ, 25.04.2001

Die beiden originellsten Artikel befinden sich der Stil-Seite. Jürgen Dollase durfte auf FAZ-Kosten (oder hat ihn der Koch eingeladen?) bei Alain Passard essen, der im siebten Arrondissement von Paris ein Dreisterne-Restaurant. betreibt. Er hat neulich in Liberation verkündet, von nun ab eine fleischarme Küche auf höchstem Niveau zu betreiben. Berühmt wurde er ja ohnehin schon durch seine "kandierte Tomate mit zwölf Aromen", die er als Dessert reicht. Dollase isst und testet und schildert Passards "wichtigstes Stilmerkmal": "die Schaffung außergewöhnlich enger Akkorde, die im optimalen Verhältnis der Elemente einen Mischgeschmack bilden, der ungewöhnlich, undefinierbar oder neuartig wirkt. So bei seinem schon klassischen Amuse bouche, dem 'Warm-Kalt vom Ei mit Ahornsirup und Sherry-Essig', bei dem je nach Zusammensetzung des Löffels keines der Elemente (das Eigelb hier nicht optimal temperiert) erkennbar wird, dafür aber der Eindruck entsteht, man hätte etwas völlig anderes - und das von großer Qualität - gegessen." Passard und anderen Spitzenköchen widmen wir unseren heutigen Link des Tages.

Nebendran ein Artikel von Isabelle Graw über die Mode von Miuccia Prada. "Labels wie Prada tragen maßgeblich dazu bei, dass jeder auf seinen Platz verwiesen wird - und die Platzanweisung ist die Essenz des Kapitalismus. Diesem Signalcharakter kann man in den Kleidern selbst nachspüren; so scheint der typische Prada-Rock mit seiner Trapezform niemals mit seiner Trägerin zu verschmelzen, sondern ihr äußerlich zu bleiben. Wer diese Kleider anprobiert, wird merken, dass sie irgendwie steif sind - man steht förmlich in ihnen. Diese Mode signalisiert primär ihr Label, und ihre Trägerin wird sogleich als finanzkräftig ausgewiesen." (Allerdings gehört Prada nicht, wie Graw irrtümlich behauptet, zum französischen Konzern LVMH. Auch Jil Sander wurde nicht von dem Konzern gekauft, sondern von der Firma, die Miuccia Prada und ihrem Mann gehört.)

Jens Petersen berichtet, wie Italien vor den Wahlen von einem demoskopischen Wahn heimgesucht wird, an erste Stelle natürlich Silvio Berlusconi selbst, der seine Demoskopen behaupten lässt, er liege zehn Prozent vor dem Linksbündnis. Kein Wunder, denn er besitzt 90 Prozent der Privatsender, die ihn achtmal häufiger zeigen als seine Konkurrenten. Der Corriere della Sera veröffentlicht unterdes eine Erhebung zur Frage, wie die Italiener zur Politik an sich stehen: "Unter zehn möglichen Einstellungen liegen 'Abscheu', 'Misstrauen' und 'Wut' (zusammen fünfzig Prozent) an der Spitze. 25 Prozent empfinden 'Gleichgültigkeit' und 'Langeweile'. Nur fünfzehn Prozent zeigen eine positive Einstellung zur Politik und zu den Politikern." Seltsamerweise wählen sie den Berlusconi dann doch.

Weitere Artikel: Christian Geyer fordert die Philosophen auf, klare Begriffe für die biopolitischen Debatten zu liefern. Mechthild Küpper erläutert das Programm des Kongresses, mit dem die taz am Wochenende ihren 22. Geburtstag zu feiern gedenkt: "Wie sollen wir leben?" Hans-Dieter Seidel gratuliert Bertrand Tavernier zum Sechzigsten. Falk Jaeger stellt die Architekturen neuer Kinos und Vergnügungspaläste in den Niederlanden vor. Eduard Beaucamp gratuliert Markus Lüpertz zum Sechzigsten. Rüdiger Klein beschreibt von Audi geschaffene urbane Verschönerungen in Ingolstadt. Peter Winter gratuliert dem "Cobra"-Maler Karel Appel zum Achtzigsten. Achim Heidenreich resümiert die Darmstädter Frühjahrstagung für Neue Musik.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Viktorianismus im Victoria & Albert-Museum, Gerard Corbiaus Film "Le roi danse" über Jean-Baptiste Lully, Janceks "Jenufa" in Essen, das Tiroler Osterfestival und eine Ausstellung israelischer Kunst in Jerusalem.

NZZ, 25.04.2001

Andrea Köhler schreribt eine flammende Verteidigung des Haffmans-Verlags, der durch Artikel im Schweizer Nachrichtenmagazin Facts und im Zürcher Tages-Anzeiger in die Kritik kam. Der Satiriker Gerhard Polt hat den Verlag verlassen, weil er die Honorare nicht pünktlich bezahlte. Köhler kommentiert: "Niemand wird den Autoren die - im Übrigen wohlfeile – 'Solidarität' verweigern wollen, wenn sie ihr Geld nicht rechtzeitig kriegen. Natürlich sind sie im Recht. Nur wundern muss man sich dürfen, wenn die Liquiditätsprobleme eines kleinen Verlags in Zeiten, in denen die Konzernriesen die unabhängigen Unternehmen eins nach dem andern schlucken, Anlass zu Häme geben... Dass die großen Konzerne den kleinen Verlagen die (häufig von ihnen durchgesetzten) Autoren mit hohen Vorschüssen abjagen, gehört zum Dauerlamento der Branche. Solidarität aber, welche die genannten Artikel gegenüber den verprellten Autoren einklagen, gebührt auch einem Literaturverlag, der sich nicht scheut, mit Einsatz und Risikofreude unverdrossen schöne und schwer verkäufliche Bücher zu machen."(Auf den Artikel im Tages-Anzeiger kann man nicht verlinken - geben Sie bei der Suche "Haffmans" ein.)

Hanno Helbling schildert einen Plagiatsstreit zwischen den beiden italienischen Autorinnen Ippolita Avalli, die angibt, bestohlen worden zu sein, und Susanna Tamaro. Dummerweise haben die beiden dieselbe Lektorin, die aktiv an beiden Manuskripten mitgewirkt hat, und Helbling stellt die Frage: "Demnach hätte von den drei beteiligten Personen nicht die erste die zweite, sondern die dritte sich selbst 'bestohlen'? Das ist sehr wohl möglich. Und es lässt sich verrechnen mit etwas wiederum ganz Vernünftigem, das man dem Redeschwall von Susanna Tamaro entnimmt: Die Sätze, die sie angeblich bei Ippolita Avalli abgeschrieben habe, könnten doch überall stehen. Das ist allerdings eine unübliche Weise, auf der eigenen Originalität zu beharren."

Weitere Artikel: Corinne Holtz gratuliert dem Geiger Igor Oistrach zum Siebzigsten. Besprochen werden die Berlin-Biennale, der Meininger "Ring" und Alexander Bahars und Wilfried Kugels Buch über den Reichstagsbrand, das die Alleintäterschaft van der Lubbes in Frage stellt (der Artikel verweist in diesem Zusammenhang auf auf ein Internetarchiv der Landes-und Zentralbibliothek Berlin zum Thema).

SZ, 25.04.2001

In der SZ stellt Jeremy Rifkin sich vor, wie es aussieht, wenn sämtliche Ätherwellen unseres Planeten globalen Medienunternehmen wie AOL, Time Warner, Telefonica oder der Deutschen Telekom gehören und von diesen als "privater elektronischer Grundbesitz" weiterverscherbelt werden. Genau dies, schreibt er, seien führende Wirtschaftswissenschaftler in Washington gerade dabei in die Wege zu leiten. Wenn aber erst das Grundrecht auf drahtlose Kommunikation, die freie Meinungsäußerung über den Äther, die kulturelle Vielfalt und das Recht auf Datenschutz der Willkür mächtiger Wirtschaftsunternehmen unterliege, meint Rifkin, stehe es um die Demokratie ganz schlecht.

In einem anderen Artikel erklärt Feridun Zaimoglu ziemlich stichhaltig, warum Maxim Billers Vorschlag einer Ausländerpartei "Unfug im Doppelwhopperformat" ist: "Eine Ausländerpartei ist eine Nische, das Reservat von Ethnocalvinisten, deren vordergründiges Ziel darin bestehen müsste zu erklären, wieso sie in Gottes Namen als Sammelbecken herkunftsfremder Deutscher einen symbolischen wie tatsächlichen Rückzug aus der deutschen Gesellschaft vollziehen, um aber das Recht auf Teilnahme und Teilhabe an eben dieser Öffentlichkeit einzuklagen."

Reichlich Musik in der SZ. Besprechungen neuer Alben von Caetano Veloso, von Nash Kato, Ellery Eskelin sowie Steve Coleman und einer Neuauflage des Psychedelic Pop Klassikers "Underwater Moonlight" von den "Soft Boys". Außerdem Interviews mit dem Komponisten und Dirigenten Esa-Pekka Salonen und mit David Byrne (neue CD "Look Into the Eyeball" ? Schau mir in den Augapfel, Kleines).

Weitere Artikel: Ein beunruhigender Kommentar zur jüngsten Welle von Selbstmordattentaten der Hamas. Ein Bericht von einer Reise nach Herefordshire: "Wie die Seuche ein ganzes Land verändert hat". Ein etwas scheeler Blick auf den Gewinner des Architektur-Wettbewerbs für die Wiener Albertina ("Hadid scheitert am Geld"). Recht scheel (gegenüber Journalisten nämlich) auch Peter Stein, der sich in Schadensbegrenzung versucht, nachdem er mit seiner Äußerung vom "Grillen" von Juden für Empörung gesorgt hatte. Außerdem: Ein Geburtstagsgruß zum 80. an den Maler Karel Appel und ein Nachruf auf den Kunsthistoriker Max von Freeden.

Und in der Reihe "Das war die BRD" geht es diesmal um ein ambivalentes Accessoire: "Das Palästinensertuch". Helge Timmerberg erklärt, warum sich das "Pali" in mitteleuropäischen Haushalten als Allzweckdeko durchsetzen konnte: Weil es dem gemeinen Spülhandtuch im Design und Material so ähnlich war. Und Arafat? "Ist das ein Staatschef? Oder arbeitet er in der Küche?"

FR, 25.04.2001

Manfred Schneider mit einem Bericht aus der "analgetischen Gesellschaft" und mit einer mehr als verblüffenden Erkenntnis der sogenannten "Schmerzlobbyisten" ? Ärzte, Kliniken, Verbände, Pharmakonzerne aber auch Patienten und Selbsthilfegruppen. Nimmt man deren Verlautbarungen ernst, schreibt Schneider, so legen sie die Feststellung nahe, dass der Schmerz als körperliches, als soziales und als kulturelles Phänomen ziemlich genau in dem Maße zunimmt, wie sich die klinischen, ärztlichen und pharmazeutischen Möglichkeiten zur Schmerzbekämpfung vermehren. Schmerzbekämpfung als Schmerzauslöser also. Die Opposition des Schmerzes gegen seine medizinische Enteignung, meint Schneider. Der Schmerz ? ein Rebell.

Für die FR (und für uns natürlich) hat Wilhelm Klauser sich im neuen Restaurant des Centre Pompidou umgesehen. "Georges" verwöhnt weniger mit Essbarem als mit Entertainment vom Feinsten: "Sorgfältig komponiert und abgewogen sind es die Zutaten Raum, Ort, Design und Zubereitung, die perfekt harmonieren ... Die vielfach unbestimmten Geometrien werden angeschnitten und es entstehen kleine Räume, die anderen Gesetzmäßigkeiten folgen als denen, die das Gebäude selbst vorgibt. Die Blasen aus Blech, die sie im obersten Geschoss einrichteten, brechen auf. In ihnen und zwischen ihnen sind plötzlich flache Stühle und Tische auf denen langstielige Rosen stehen, in eleganten Vasen." Das Menü für den idealen Nicht-Konsumenten, so Klauser, der bereit ist, offen, neugierig und extrem informiert alles Neue aufzunehmen ? möglicherweise sogar etwas Käse.

Außerdem: Thomas Fechner-Smarsly über ein "interaktives" Kirchenfenster von Mischa Kuball und einen so gar nicht dazu passenden Vortrag Friedrich Kittlers. Und Martina Meister über Raubkunst und ein dickes Buch mit dem schrecklichen Titel "Handreichung zur Umsetzung der Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der Kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz", das gestern in Berlin von Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin im Bundespresseamt vorgestellt wurde.

Und besprochen werden: David Mouchtar-Samorais Bonner Inszenierung von Grabbes "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung", "Meienbergs Tod" von Lukas Bärfuss am Theater Basel, John Boormans Film "Der Schneider von Panama" sowie eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus der Sammlung Falckenberg in Hannover.

TAZ, 25.04.2001

In der taz schreibt Volker Weidermann über den Schriftsteller Thor Kunkel und dessen neuen Roman "Ein Brief an Hanny Porter". Kunkel ist ein Mensch mit einer Vorliebe zum "wilden Denken" und zu "künstlichen Paradiesen", der er einerseits mit dem Entwerfen von Web-Sites für Auftraggeber wie Henkel (sehr wild), andererseits aber mit dem Schreiben von Büchern nachkommt. Was genau für einen Autor wir uns da vorzustellen haben, sagt besser als Weidermann allerdings Martin Walser, der sich von Kunkel sogar zu einem kleinen Hymnus inspirieren ließ, den die taz nahezu exklusiv abdruckt: "Chemielyriker"
Der Autor scheint ein Benennungsbesessener zu sein, ein Ekelvirtuose, ein Meisteranmacher, ein Sexualfundamentalist, ein Genie der Prosagraffiti, ein Chemielyriker, ein Mikrowellenpoet, ein Verzärteler des Mülls, ein Tragicomicer, ein Cherub der Keuschheit, ein Seraph der Obszönität, ein Engel des Drecks, ja, ein Sargnagel der Unsterblichkeit ist er, ein Gesellschaftskritiker und Kosmopath.

Außerdem zu lesen: Wie die Autoren des stadtsoziologischen Werkes "Die Stadt als Beute" in einer Sondernummer der Zeitschrift "Widersprüche" zur Revision ihrer Gedanken antreten. Sowie einige Betrachtungen von Gerrit Bartels: Über den Trend zum Akustischen und zu eher unauffälligen Ecken- und Rumstehern und schlauen Sensibelchen, die eigentlich nichts so sehr hassen wie Rampenlicht und nun die neuen britischen Pop-Helden sind, und zur Deutschlandtournee der Turin Brakes.

Und natürlich der Tom.