Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2002. In der SZ erklärt Albrecht Koschorke, warum die USA den Terroristen so sehr gleichen. In der taz erklärt der kubanische Autor Pedro Juan Gutierrez, warum er wie ein Macho schreibt. In der FAZ erklärt Gilbert Kaplan, wie der letzte Ton des ersten Satzes der Fünften Sinfonie von Mahler wirklich gespielt werden muss. Die FR erinnert an den Beginn des Bosnien-Kriegs vor zehn Jahren. In der NZZ geht's um Gombrowicz, Marx und Engels und die Globalisierungsbibel "Empire".

NZZ, 06.04.2002

Sieglinde Geisel denkt über Amerikanismen im Deutschen nach und protokolliert, wie sie nebenbei die Gallzismen verdrängen: "Aus decor (altmodisch) wurde design (modern), statt a la mode sagt man trendy, und sogar das rendez-vous hat seine Romantik verloren - beim unverbindlicheren date wird weniger Herz riskiert. Nicht einmal chic hat im Deutschen eine Überlebenschance, denn hier bieten gleich drei amerikanische Einsilber Konkurrenz: hip, hot & cool." Wie soll man sich da nicht echauffieren?

Weiteres: Bora Cosic meditiert im "Kleinen Glossar des Verschwindens" über die "Hakenleiste". Volker S. Stahr gratuliert Annemarie Schimmel zum Achtzigsten. Hanno Helbing meldet, dass sich Vincenzo Cappelletti von der Enciclopedia Treccani trennt. Joachim Kalka schreibt zum Tod des New Yorker Erzählers Henry Slesar. Gemeldet wird, dass Christoph Vitali zum Direktor der Fondation Beyeler bestimmt wurde. Besprechungen gelten der Eröffnung des Internationalen Tanzfestivals in Luzern, dem Basler Festival "Les Museiques" (mehr hier) und einigen Büchern, darunter Karl-Markus Gauß' Journal " Mit mir, ohne mich". (Siehe unsere Bücherschau morgen ab elf Uhr.)

Auch in Literatur und Kunst geht es fast ausschließlich um Bücher. Uwe Stolzmann bespricht Alfredo Bryce Echeniques Roman "Julius", eine "Abrechnung mit Perus Bourgeoisie" und ist völlig hingerissen: "'Eine Welt für Julius' ist ein Geschenk, ein einsam funkelndes Kleinod unter viel literarischem Schutt: verspielt, romantisch, spöttisch, leichtfüßig mit Tiefgang, ohne ein falsches Wort. Eine große Geschichte aus Hunderten kleiner Geschichten. Stimmung und Farbe wechseln manchmal im Satz, von Sonnenhell zu Höllenschwarz."

Zwei Artikel handeln von Witold Gombrowicz. Leopold Federmair erzählt, wie der polnische Autor " in Argentinien das Leben fand". Und Ulrich M. Schmid bespricht die (gekürzte) Neuübersetzung von Gombrowicz' Tagebuch in der Anderen Bibliothek. Lazlo F. Földenyi stellt Bela Zsolts Roman "Eine seltsame Ehe" vor. Uwe Justus Wenzel beschwert sich über die "angestrengte Theorieprosa" in der Globalisierungsbibel "Empire", der H. D. Kittsteiner trotz allem sehr ausführliche Kritik widmet.

Besprochen werden ferner der Roman "Klick" des Petersburger Autors Sergei Bolmat, ein Band aus der Marx-Engels-Gesamtausgabe mit den Kolumnen der beiden Autoren aus der New York Tribune und Gedichte der argentinischen Schriftstellerin Olga Orozco.

Im einzigen frei schwebenden Essay dieser grandiosen Samstagsbeilage stellt Hugo Loetscher an der Brücke von Narva "West-östliche Betrachtungen" an: "Drüben Russland und hier Estland".

SZ, 06.04.2002

Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke (mehr hier) denkt ausführlich über die spiegelbildliche Beziehung zwischen den USA und muslimischen Fundamentalisten, zwischen Recht und Gewalt nach: "Beide Seiten bedrohen einander mit dem Tod, die einen durch Terror, die anderen mit den Mitteln der Justiz. Recht und Gewalt stehen sich in symmetrischer Feindschaft gegenüber. Und wo Symmetrie herrscht, ist Ähnlichkeit", schreibt Koschorke und erklärt sie mit Thukydides: Macht und Gewalt, Staat und Räuberei sind gleichen Ursprungs.

Der Schriftsteller Joachim Helfer war bei einem Treffen iranischer Autoren mit Kollegen aus aller Welt auf der Golfinsel Kish. Eingeladen hatte das International Centre for Dialogue Among Civilizations. Die Sicherheitsvorkehrungen waren rigide, das Misstrauen groß, berichtet Helfer. "Vorträge der Ausländer wechseln mit Lesungen der Einheimischen, Jan Myrdal zählt seine Übersetzungen und Auflagen in ganz Asien auf, sein schwedischer Landsmann Peter Kurmann stellt Print on demand vor, der Kuwaiti Abdullah Khalaf beklagt die angebliche totale Verdammung des Islam in den westlichen Medien nach dem 11. September ... Applaus. Wobei auch das Händezusammenschlagen eine politische Demonstration ist, wo es als westliche Unkultur verpönt wird. Dialog aber muss etwas anderes sein, und endlich ergreift einer der jüngeren Iraner außerhalb der gedruckten Reihe das Wort, indem er Darwishian damit zitiert, dass Dialog zunächst nicht mit dem Ausland, sondern zwischen den Bürgern einer Gesellschaft geführt werden müsse."

Weitere Artikel: Holger Liebs berichtet, wie Barcelona den 150. Geburtstags seines größten Sohnes, des "genialen Erfinders" Antonio Gaudi y Cornet (mehr hier und hier) feiert ("ein irisierender Fiebertraum zwischen Jurassic Park und Jacques Cousteau"). Reinhard J. Brembeck weiß, dass es bei der Suche nach einem neuen Dirigenten für die Münchner Philharmoniker auch um den Wettstreit zwischen Berlin und München um die musikalische Vorherrschaft geht. Hermann Unterstöger berichtet vom Kongress der deutschen Altphilologen über den Nutzen humanistischer Bildung. Katajun Amipur gratuliert der Orientalistin Annemaire Schimmel zum Achtzigsten, C. Bernd Sucher gratuliert dem Schauspieler Helmut Griem zum Siebzigsten, Lothar Müller gratuliert dem Schriftteller Günter Herburger ebenfalls zum Siebzigsten. Karl Bruckmaier liefert einen Nachruf auf den britischen Popmusiker Frank Tovey, alias Fad Gadget.

Besprochen werden: Fosco und Donatello Dubinis Film "Thomas Pynchon - A Journey into the Mind of (P.)", Iva Scarcovas Komödie "Als Großvater Rita Hayworth liebte" sowie das Festival "Theater der Welt" an Rhein und Ruhr.

In der SZ am Wochenende erklärt Ulrich Wechsler, was wir schon immer geahnt haben: Fernsehen macht doof. Peter Hartl schreibt über den Einsatz deutscher Kamikazeflieger im Zwieten Weltkrieg. Friedemann Bedürftig sucht nach der schöne Fremden aus Mörikes Peregrina-Zyklus. Olaf Kaltenborn beschreibt das abenteuerliche Geschäft, gesunkene Schiffsladungen zu bergen. Und Robert-Michael Wolf erzählt das Märchen von Rotkäppchen und Jack The Ripper. Die Buchkritiken der SZ am Wochenende sind leider noch nicht im Netz. Mehr dazu erfahren Sie aber ab Sonntag um 11 Uhr in unserer Bücherschau.

TAZ, 06.04.2002

Barbara Bollwahn de Paez Casanova hat mit dem kubanischen Schriftsteller Pedro Juan Gutierrez ("Schmutzige Havanna Trilogie") über die schwierige Kunst, ein Macho zu sein, gesprochen. Auf den Vorwurf, seine Literatur sei sexistisch, antwortet Guierrez: "Ich schreibe nur über das, was ich sehe. Wenn ich über Männer schreibe, die Machos sind, dann sind es Machos, Männchen, und die Frauen sind keine Frauen, sondern Weibchen. Das vergessen die Feministinnen oft. Um mich herum leben keine Schweden, sondern Kubaner. Der kubanische Machismo funktioniert nicht nur als penetrierender Macho. Es gibt das penetrierende Männchen und das provozierende und verführerische Weibchen vom Typ Eva. Wem das nicht gefällt, der soll die Gesellschaft ändern, aber nicht mich angreifen." Hier eine Erzählung von Gutierrez (in englisch).

Weitere Artikel: Das Sparen in Berlin beginnt weh zu tun: Katrin Bettina Müller beklagt die von Kultursenator Thomas Flierl angekündigten Kürzungen für das Kulturhaus Podewil: "Vor den konkreten Beschlüssen hatte er noch theoretisiert, bei Schließungen den Abschied vom Unzeitgemäßen zu suchen. Für einen Schnitt bei den großen Berliner Häusern fehlte letztlich aber der Mut." Susanne Messmer trauert um Fad Gadget, den Pionier des Elektropop.

Das tazmag ist heute ganz dem 11. September gewidmet. Dabei geht es vor allem um die Frage, "was das Weibliche und Männliche mit dem Terror - und was Bevölkerungsentwicklungen in nichtwestlichen Staaten mit ihm zu tun haben." So das Editorial. Abgedruckt ist der bereits mehrfach erwähnte Text von Ian Buruma und Avishai Margalit über Okzidentalismus und den "Hass auf den Westen" nach (hier das Original). Gunnar Heinsohn widmet sich dem demografischen Überhang an jungen Männern in islamischen Ländern: 150 Millionen Söhne, die in den kommenden anderthalb Jahrzehnten ihr bestes Kampfalter (15 - 29) erreichen - und kaum Chancen auf akzeptable Lebensbedingungen haben. Verena Kern schreibt über die Gefahr, eine Frau zu sein.

Und schließlich Tom.

FR, 06.04.2002

Daniele dell'Agli freut sich über die Italienisierung deutscher Verhältnisse: "Seit gut einem Jahrzehnt zehren auch in Deutschland Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und Korruption, aber auch verlängerte Wochenenden und Überstunden an den Staatskassen und am sozialen Zusammenhalt. An die einst wertebildenden calvinistischen Sekundärtugenden (Ordnung, Disziplin, Fleiß, Pünktlichkeit, Redlichkeit, Pflichtbewusstsein) wird zwar landauf landab bei jedem Medienauftritt appelliert, doch ernstlich vermisst werden sie mittlerweile vor allem von Japanern und Chinesen. Unmerklich haben die Deutschen ihre Ordnungsmuster dereguliert und sich den entspannteren Lebensformen ihrer mittel- und südeuropäischen Nachbarn angenähert"

Der bosnische Autor Predrag Matvejevic (hier mehr) erinnert daran, dass vor zehn Jahren, am 6. April 1992 der Krieg in Bosnien begann: "Die Wunden von Sarajevo hören nicht auf zu bluten. Bosnien-Herzegowina ist auf eine unvorstellbare materielle Misere zurückgeworfen. Sein Überleben hängt einzig und allein von fremder Hilfe ab. Mehr als ein Staat ist es ein Skelett, eine in drei Teile und in drei Religionen aufgesplitterte Region, die jeweils von einem rückständigen und aggressiven Nationalismus gestützt werden. Es scheint sich tatsächlich auf einer Straße ohne jede Abzweigung zu befinden."

Weitere Artikel: Udo Dickenberger schreibt über fröhliche Spottgedichte und alberne Almanache. Roland Wiegenstein widmet sich der Verbindung von Glück und Gewalt, die unter anderem Thema des Kursbuch 147 ist. Gratuliert wird der Orientalistin Annemarie Schimmel zum 80. und dem Maler Wolfgang Mattheuer zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden: die Architektur-Ausstellung "The big projects" in Rotterdam und Bücher: der Band "Snow" des Fotografen Thomas Flechtners, Harold Brodkeys Essays "Liebeserklärungen und andere letzte Worte" sowie der Sammelband zu Marshall McLuhan "Das Medium ist die Botschaft" zu (mehr in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Im Magazin geht es unter anderem um die verlorengegangene Kulturtechnik des gepflegten Ausschaltens, Cowboys im falschen Land, die Poesie eines Geiselgangsters und die Suche nach der vergessenen African Queen in Tansania und Uganda.

FAZ, 06.04.2002

Der amerikanische Autor Russell Banks (mehr hier und hier), der an der Reise des Schriftstellerparlaments nach Israel und in die besetzten Gebiete teilgenommen hat, bekennt am Ende "leisen Optimismus", nachdem er zwei israelische Kriegsverweigerer kennengelernt hat. "Dies, dachte ich, ist der einzige Ausweg: Die Männer und Frauen der Besatzungsarmee müssen den Dienst verweigern. Erst dann werden ihre verzweifelten Gegner, die jungen palästinensischen Selbstmörder, allmählich zu der Einsicht kommen, dass ihr Leben vielleicht doch lebenswert ist. Erst dann können die Verhandlungen beginnen." Die gesammelten Notizen der Autoren des Schriftstellerparlaments finden sich auf dieser Seite. Sie werden in den folgenden Tagen aber auch von der FAZ publiziert.

Dokumentiert wird ein Brief Ivan Nagels (mehr hier) an den israelischen Botschafter: "Israels heutiger Krieg ist nicht nur ein dummer, sondern ein ungerechter Krieg. Es ist ein Krieg, der die Gewalt gegen Unschuldige zu verhindern vorgibt - in Wahrheit aber solche Gewalt selber ausübt und vermehren wird."

Michael Hanfeld kommentiert auf der Medienseite die kommende Insolvenz von Leo Kirch: "Trauer zu tragen, dafür gibt es Grund, weil es einem nicht eitel Freude bereiten muss, dass ein Lebenswerk sich derart neigt und von denen, die folgen und profitieren, nichts zu erwarten ist, was die Lage verbessert. Silvio Berlusconi und Rupert Murdoch werden uns selbstverständlich nicht das Programm anbieten, mit dem sie Italiener oder Briten bedienen. Aber sie werden ihre Macht ausbreiten und damit jene globale Struktur ausweiten, in deren Gefüge die Regierungen von Ländern ein kleiner Teil im Gefüge des Weltdorfs sind, die man leicht in Schach hält oder selber stellt."

Weiteres: Gina Thomas schildert die Stimmung in Großbritannien nach dem Tod der Königinmutter. Andreas Rossmann teilt das Progamm des "Theater der Welt"-Festivals mit, das im Juni im Rheinland stattfinden wird. Hubert Treiber schreibt zum Tod des Soziologen Heinrich Popitz. Stephan Mösch berichtet, dass man das Leipziger Wohnhaus Robert Schumanns wiederbeleben will. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften.

Geburtstagssträuße: Wolfgang Günter Lerch gratuliert Annemarie Schimmel (mehr hier) zum Achtzigsten. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Schauspieler Helmut Griem zum Siebzigsten. Harald Hartung gratuliert dem Schriftsteller Günter Herburger zum Siebzigsten. Michael Althen gratuliert Barry Levinson zum Sechzigsten. C.B. gratuliert dem DDR-Maler Michael Morgner zum Sechzigsten.

Besprochen werden eine Gilbert-and-George-Ausstellung im Frankfurter Portikus, ein von Matthias Langhoff verantwortetes Büchner-Spektakel in Paris, eine Ausstellung der Architekturfotografin Margherita Spiluttini in Wien.

In dem, was einmal Bilder und Zeiten war wird Andreas Rossmann Lobrede auf die Schauspielerin Judith Engel dokumentiert, gehalten zur Verleihung des Gertrud Eysoldt-Rings. Und Gilbert Kaplan, der als Amateurdirigent hervortrat, denkt über den berühmten letzten Ton im ersten Satz von Mahlers Fünfter nach, einem Streicherpizzikato, das zumeist wie ein Genickschlag im Forte den Satz abschließt - offensichtlich aber pianissimo gespielt werden sollte.

In der Frankfurter Anthologie stellt Eugen Gomringer das wunderschöne Gedicht "Nachtgeräusche" von Conrad Ferdinand Meyer vor:

"Melde mir die Nachtgeräusche, Muse,
Die ans Ohr des Schlummerlosen fluten!
Erst das traute Wachtgebell der Hunde,
Dann der abgezählte Schlag der Stunde,
Dann ein Fischer-Zwiegespräch am Ufer,
Dann? Nichts weiter als der ungewisse
Geisterlaut der ungebrochnen Stille
Wie das Atmen eines jungen Busens,
Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens,
Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders,
Dann der ungehörte Tritt des Schlummers."