Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2003. Die SZ erinnert an die kulturelle Bedeutung der durch das Erdbeben im Iran zerstörten Stadt Bam. In der FR begrüßt Herfried Münkler den libyschen Staatschef Gaddafi als zuverlässigen Bündnispartner der USA. Die NZZ versöhnt Ossis und Wessis. In der taz porträtiert Gabriele Goettle die Hochseil-Artistin Peggy Traber.

SZ, 29.12.2003

Bam, ein Bild der Verwüstung, klagt Ira Mazzoni und lässt die Geschichte der Stadt aus gegebenem Anlass noch einmal Revue passieren. "Bam bot einen sicheren Rastplatz am Rande der Wüste. So sorgten die durchreisenden Fernhändler für den Reichtum der Oase. Kamelkarawanen brachten Gewürze, Stoffe, Baumaterialien und auch Sklaven. In ihren besten Zeiten, im 17. Jahrhundert, hatte Bam eine Ausdehnung von sechs Quadratkilometern. 9000 bis 13 000 Einwohner lebten ständig in der Festung. (...) Bis heute ist nicht ganz geklärt, warum das alte Bam verlassen wurde. Wiederkehrende Erdbeben könnten ein Grund gewesen sein."

In einem interessanten Porträt stellt Tobias Timm einen der erfolgreichsten Künstler unserer Zeit vor, den reaktionär-kitschigen Maler Thomas Kinkade, dessen Bildfabrik (Homepage) sich aber recht modern ausnimmt. "Seine Ölbilder werden abfotografiert und auf Leinwandderivate mit vorgeprägter Oberflächenstruktur gedruckt. Eine Armee von Kinkade-Schülern - so genannten 'Master Higlighters' - hebt dann in emsiger Handarbeit einige Bilddetails mit kleinen Pinselstrichen und Ölfarbtupfern hervor. Dem Käufer soll so das Gefühl vermittelt werden, er habe ein Einzelstück erworben - das technisch reproduzierte Kunstwerk wird kunstfertig mit einem Aura-Surrogat versehen. Alle Reproduktionen werden maschinell signiert, doch bei manchen der bis zu 10 000 Dollar teuren Bilder wird in die Signatur-Tinte Kinkade-Blut, Kinkade-DNA gemischt."

Weitere Artikel: Der Philosoph und Rechtswissenschaftler Ronald Dworkin (was für eine Brille!) fordert einen internationalen Prozess für Saddam Hussein, als Signal zur Stärkung der Menschenrechte. Jörg Häntzschel erkennt in seinem Feiertagsstück in den Call-Centern die Galeeren der industrialisierten Gesellschaft. Sebastian Handke stellt das Longplayer-Projekt des ehemaligen Pogues-Gitarristen Jem Finer vor: sechs Klangschleifen, die erst in 1000 Jahren wieder an ihrem gemeinsamen Anfangspunkt ankommen. Fritz Göttler schreibt zum Tod des englischen Film- und Theaterschauspielers Alan Bates. Simone Kämpf traut dem quirligen Tobias Wellemeyer bedenkenlos zu, beide Theater Magdeburgs zusammenzuführen (im Netz ist das schon geschehen).

Gert Kähler plädiert für das Fach "Architektur" an den Schulen - und erwartet sich davon bessere Pisa-Ergebnisse und weniger Graffiti an den Wänden. "mau" echauffiert sich über den Plan der evangelischen Kirche, die Lutherbibel in ein zeitgemäßes Harry-Potter-Deutsch zu übertragen. Bernd Feuchtner hat das Erfolgsgeheimnis der muslimischen Kultur auf einer Sufi-Nacht im Berliner Haus der Kulturen erkannt: Konzentration statt Zerstreuung.

Die Medienseite bietet einen Rückblick auf das Medien-Jahr, sauber nach Zahlen geordnet. Darunter auch Wichtiges: "31Mal schaffte es Dieter Bohlen in diesem Jahr auf die Titelseite der Bild."

Auf einer eigenen Seite werden Ausstellungen im Januar empfohlen. Besprechungen widmen sich Bille Woodruffs Filmdebüt "Honey", Heinz Spielmanns "mit Verve" geschriebener Darstellung von Oskar Kokoschkas Leben und Werk, Norbert Viertels Hörstück "Das Puzzle" sowie einer Anthologie gegenwärtiger Lyrik (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 29.12.2003

Nach der großen Ostalgie-Welle im Jahr 2003 wird die Erinnerung an die DDR gelassener, meint Claudia Schwartz. Dazu beigetragen habe vor allem Wolfgang Beckers Film "Good bye, Lenin!". Er "löste als westöstliches Vergemeinschaftungsritual vierzehn Jahre nach dem Mauerfall eine erstaunlich sachliche Debatte darüber aus, ob es ein wahres Leben im falschen geben konnte. Er sensibilisierte dafür, dass persönliche Erinnerungen auch eine Ventilfunktion haben und ein unbestimmtes Verlustgefühl der ehemaligen DDR-Bürger auffangen, denen veränderte Lebensbedingungen eine enorme Anpassungsleistung abforderten und die im Übrigen in der Berliner Republik nicht viel Gelegenheit haben, sich zu erinnern."

Weitere Artikel: Beglückt meldet der Philologe Dieter Harlfinger einen Fund in der Bibliothek des Vatikans. Dort hat Francesco D'Aiuto, ein junger Professor für Byzantinistik, 400 Verse des griechischen Komödiendichters Menander (342-292 v. Chr., Bilder, Biografie) in einer syrischen Palimpsest-Handschrift entdeckt. Die eine Hälfte - "das ist die aufregende Überraschung - stelle einen unbekannten Lustspiel-Kontext dar, der auch von Menander stammen könne, mit einem Mädchen, einem Neugeborenen - vielleicht Frucht einer Gewalttat - und einer alten Frau als Figuren." Jetzt muss das ganze nur noch entziffert werden. "Es ist wieder ein exquisit scheußliches Bühnenbild, das Macha Makeieff für ihr jüngstes Gemeinschaftswerk mit Jerome Deschamps komponiert hat" - hingerissen beschreibt uns Marc Zitzmann die erste Inszenierung von Macha Makeieff und Jerome Deschamps am Theater in Nimes, das sie gerade übernommen haben. Paul Jandl berichtet von den Feierlichkeiten zum Jubiläum hundert Jahre Wiener Werkstätten. Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken des Malers Frederic Bazille (1841-1870) im Pariser Musee Marmottan Monet.

FR, 29.12.2003

Der Politikprofessor Herfried Münkler (mehr) erkennt im Einlenken des libyschen Staatschefs Gaddafi eine Seite eines Tauschgeschäfts. "Er verzichtet auf seine Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, und die US-Administration verzichtet dafür ihrerseits auf das Projekt des Regimewechsels." Andererseits verabschieden sich die USA damit auch von ihrer Demokratisierungsmission, die zumindest im Irak schon gescheitert ist, meint Münkler. "Eine tatsächliche Demokratisierung dürfte dort entweder zum Zerfall des Landes führen oder eine Regierung an die Macht bringen, die kein zuverlässiger Bündnispartner der USA wäre. Weniger jedenfalls, als es Gaddafi in Zukunft sein wird."

In Times mager träumt Michael Tetzlaff von einer Selbstbezichtigung des US-Präsidenten. Eine Meldung besagt zudem, dass der britische Schauspieler Sir Alan Bates ("Whistle Down The Wind") im Alter von 69 Jahren gestorben ist.

In der Politik lesen wir ein kleines Interview mit dem obersten Datenschützer Peter Schaar, der unter anderem ein Genom-Analyse-Gesetz fordert. " Auf keinen Fall darf es dazu kommen, dass Arbeitsplätze nur noch von Bewerbern besetzt werden, die ausweislich einer Gen-Analyse für bestimmte Krankheiten nicht anfällig sind. Es muss außerdem verhindert werden, dass Versicherungen von Kunden eine Genom-Analyse für ihre interne Risikobewertung verlangen können."

Zwei Rezensionen widmen sich einer gelungenen Schau der Industriebauten-Fotografien von Bernd und Hilla Becher im Düsseldorfer K21 sowie der glücklosen Auseinandersetzung vier junger Autoren mit dem Dramatiker Werner Schwab am Wiener Burgtheater ("in erster Linie eine Einverleibung seiner Sprache - ob sie nun zur eigenen passt oder auch nicht").

TAZ, 29.12.2003

Zum Ausklang des Jahres ein Bonbon von Gabriele Goettle, die schnell gelesene 951-Zeilen-Reportage vom Besuch bei der Hochseil-Artistin Peggy Traber. "Ich selbst stamme ja aus einer Familie der Raubtierdresseure. Wir hatten sibirische Tiger, einen Grizzly, einen Braunbären, schwarze Panter ? alle frei geboren auf unserem Hof, die haben wir dann großgezogen. Sie kamen auch richtig in unseren Haushalt zur Tür hereinspaziert im Sommer, und haben sich ihr Leckerli abgeholt. Die liebevollsten Tiere sind das, die man sich überhaupt vorstellen kann."

Reportagen auch in den übrigen Ressorts. In den Tagesthemen stellt uns Anne Hufschmid die mittlerweile zehnjährige Diskursguerilla von Mexiko vor, die Zapatisten, die den Widersinn als ihre Waffe entdeckt haben (hier ein Überblick zur Geschichte der Rebellenbewegung). Wolf-Dieter Vogel schildert hingegen, wie wenig sich geändert hat in Chiapas, trotz der weltweiten Sympathie für die mediengewandten Guerilleros. Und in der zweiten taz erstellt Clemens Niedenthal ein Psychogramm der Modelleisenbahnfreunde, die in ihren Hobbykellern bessere Welten schaffen (ein paar Details zur kleinen Eisenbahn).

Mareke Aden besucht für die Medienseite das Babelsberger Maskenstudio, wo die ehemalige Leiterin nun der ehemaligen Größe nachtrauert - und ihren siebzig Mitarbeitern. Christoph Schultheis nutzt seine Kolumne, um seinen Weihnachtshorror 2003 zu küren: das Flötenmädchen von Premiere.

Dann noch Tom.
Stichwörter: Goettle, Gabriele, TAZ, Eisenbahn

FAZ, 29.12.2003

Heinrich Wefing malt sich im Aufmacher aus, wie sich der Jahreswechsel 1943 für die deutschen Emigranten in Los Angeles gestaltet haben mag. In der Leitglosse freut sich "fld", dass der Frauenanteil in der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft bei 70 Prozent liegt. Der Rechtsprofesoor Klaus Lüdersen kritisiert am Europäischen Verfassungsentwurf, dass in den das Strafrecht betreffenden Passagen die Rechte der Angeklagten nicht ausreichend berücksichtigt seien. Joseph Croitoru glaubt, dass ein unter dem Pseudonym Nima Zamar erschienenes Buch über den Mossad (demnächst auf deutsch bei Kindler) eine Fälschung ist. Andreas Rosenfelder macht sich Gedanken um die Raelianer-Sekte, deren Antipapismus ihm nicht gefallen kann (nebenbei erfahren wir, dass sich Michel Houellebecq freundlich über die Sekte äußerte).

Auf der Medienseite schildert Stephan Kuss, "wie sich Unternehmenszeitungen den Lesern empfehlen". Auf der letzen Seite macht sich Alfred de Zayas, Rechtsprofessor in Vancouver, Gedanken über den Rechtsstatus des Stützpunkts der USA in der kubanischen Guantanomo Bay, durch den sich die amerikanischen Regierung zu einer rechtswidrigen Behandlung der dort Gefangenen legitimiert sieht. Dietmar Dath liest die Kundenrezsenionen zu Gaddhafis "Grünem Buch" bei Amazon.de, und Andreas Platthaus staunt über den neuen Band der Comicreihe Blake & Mortimer, der in Frankreich alle Auflagenrekorde bricht.

Besprochen werden eine Ausstellung von Architekturbüchern im Wiener Architekturzentrum, eine Roy-Lichtenstein-Ausstellung im dänischen Louisiana Museum, Prokofjews Ballett "Romeo und Julia", choreographiert von Declan Donnellan in Moskau, Performances von Vanessa Beecroft im Turiner Castello di Rivoli, Fotografien von James Nachtwey in einer Berliner Ausstellung. "Freischütz"-Inszenierungen in Basel und in Mainz, eine Ausstellung über die Spuren der Mode in der Karikatur in Berlin und einige Sachbücher, darunter eine intellektuelle Biografie über den unvergleichlichen Autor Bela Balazs von Hanno Loewy (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).