Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2004. "Spielverderber" nennt die SZ deutsche Theaterkritiker, die auf Werktreue bestehen. Die NZZ stellt die University of Central Asia des Agha Khan vor. Die FR gibt Tipps an Hacker, die den amerikanischen Wahlcomputer beeinflussen wollen. Im Tagesspiegel fürchtet Richard Sennett einen sanften Faschismus in den USA. Die FAZ berichtet über ein Künstlertreffen im kurdischen Suleimanyah.

SZ, 02.11.2004

"Spielverderber" überschreibt Christopher Schmidt seine amüsante Analyse des Berufsstands Theaterkritiker, welcher immerhin der "letzte Vertreter des Regisseurs" sei. Bis es so weit kommt, kann sich aber gern auch Trennendes einschleichen: Der Kritiker neige nämlich auch dazu, "das Theater als Verfallsgeschichte zu betrachten und hat den Ehrgeiz, das 'letzte Wort' zu haben. Man wird zum Grabredner und sagt dann Dinge wie, dass man 'seinen' Büchner nicht mehr wiedererkennen könne, obwohl man lediglich das ersehnte Deja-vu einer alten Büchner-Aufführung mit Büchner selbst verwechselt.... Aus solchen biologisch determinierten Krisen entstehen zyklisch jene hysterischen Theaterdebatten, in denen es angeblich um 'Werktreue' geht. Oder um 'Klassikerschändung'."

Die Wahl in Amerika wird auch in der SZ ressortübergreifend verhandelt. Im Feuilleton stellt Willi Winkler das Zeitschriftenunikat Final Edition vor, das der New Yorker Schriftsteller und Schauspieler Wallace Shawn zusammen mit seiner Frau Deborah Eisenberg, dem Lyriker Mark Strand und dem Publizisten Jonathan Schell zur Wahl vorlegt: "Diese Erst- und Letztausgabe zeigt eine schöne, fast schon wieder europäische Sinnlosigkeit". Im Feuilleton berichtet Andrian Kreye von Eminems neuer Rolle als "Politagitator" und seiner Parteitag-Imitation "Shady Convention". "kasu" informiert schließlich über eine Satireflut im Internet, die den Wahlkampf interaktiv machte.

Weiteres: Rainer Gansera sah bei den Hofer Filmtagen in vielen Filmen ein gemeinsames Hauptthema: "Wie die Liebe in ihre Einzelteile zerfällt und unerreichbar wird." Egbert Tholl kommentiert die Amtsniederlegung von Marcello Viotti als Chefdirigent des Münchner Rundfunkorchesters, das 2006 aufgelöst werden soll; Viotti reagiert damit auf die "menschliche wie fachliche Inkompetenz des br-Intendanten Gruber". "ijo" kommentiert die sinnfällige Eröffnung einer Ausstellung im Hamburger Zollmuseum durch Hans Eichel, in der es um - marktwirtschaftlich bedenkliche - gefälschte Markenartikel geht. Und in der Zwischenzeit betreibt Hermann Unterstöger wieder Sprachkritik und bekennt seine "gefühlsmäßige" Bevorzugung der Bezeichnung "Opelianer" statt "Opelaner".

Besprochen werden Christian Thielemanns Einstand in München mit Bruckners fünfter Sinfonie, eine Ausstellung von Claude Monets Gartenbildern im Kunsthaus Zürich, die Neuauflage von August Everdings "Zauberflöte" an der Bayerischen Staatsoper, eine "gescheiterte" Inszenierung der Dostojewski-Adaption "Zocker" durch Johan Simons an der Berliner Volksbühne und Rene Polleschs gelungener neuer Soap "Prater-Saga" in der Nebenspielstätte der Volksbühne. Außerdem Bücher, darunter John von Düffels Roman "Houewlandt", Philippe Claudels Roman "Die grauen Seelen", ein Buch von Adolf Muschg über Goethes Reisen, und eine auf Englisch erschienene Studie über die Mythologien des Nahen Ostens (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 02.11.2004

Thomas Veser berichtet vom neuesten Projekt des Agha Khan. Diesmal lässt er eine University of Central Asia bauen mit Standorten in entlegensten Bergregionen Kasachstans, Tadschikistans und Kirgisiens. Allerdings spart Veser nicht mit dem Hinweis, dass "den Löwenanteil der Kosten für seine weltweit rund 90 Projekte" die Organisation des Agha Khan über Fundraising von internationalen Gebern" einwirbt.

Besprochen werden die Ausstellung "Revision der Postmoderne", mit der das Frankfurter Architekturmuseum sein zwanzigjähriges Bestehen feiert, ein Konzert des Hagen-Quartetts in Zürich und Bücher, darunter Timothy Garton Ashs Band "Freie Welt", der Herfried Münkler die Erkenntnis bringt, dass die Gegnerschaft zwischen Frankreich und England (Azincourt! Waterloo!) das eigentliche Problem Europas ist, sowie Ryu Murakamis "umwerfend witziger" Schülerroman "69" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 02.11.2004

Selbstverständlich bestimmen die heutigen amerikanischen Wahlen auch die taz. Im Kulturteil erklärt Michael Rutschky, warum die Wahl in die "Geschichte der Amerikanisierung des Planeten" gehöre - "genauso wie die MoMA-Schlange und Halloween".

Auf den Tagesthemenseiten kommentiert unter anderem Andrea Böhm die Wahloption als Alternative zwischen "John Kerry und dem Allmächtigen", Bernd Pickert arbeitet - unfreiwillige - Übereinstimmungen der Kandidaten heraus und Michael Streck berichtet aus Florida über betrugsvorbeugende Maßnahmen. Auf der Meinungsseite imaginiert Daniel Bax eine Weltabstimmung, deren Sieger Kerry heißen würde. Im tazzwei prophezeit Stefan Kuzmany, dass in jedem Fall des Wahlausgangs weder Orkane noch Revolutionen ausbrechen werden, und die Medienseite bietet einen Überblick über alle (relevanten?) Sendungen zur Wahl heute Nacht.

Weiteres: Robert Misik erinnert in der Kolumne Theorie und Technik an die französische Theorie, die "ins Blickfeld rückte, was die alte Linke nur als Überbau wahrnahm: Kunst, Sex, Sprache, Werbung, Begehren". Christian Rath resümiert das diesjährige Weltmusiktreffen Womex in Essen, auf dem man sich um mögliche Modernisierungsmöglichkeiten der Branche stritt. Besprochen wird außerdem eine Ausstellung von Cosima von Bonin nebst so genannter Mitstreiter im Kölnischen Kunstverein. In tazzwei geht es außerdem in zwei Artikeln um die Berliner Mauer: einmal in einem Bericht über den "verstörenden Erfolg" des Mauermuseums und einer Reportage über Aneignungsformen von Mauergrundstücken, die weder bebaut noch verkauft werden können oder wollen.

Und hier TOM.

FR, 02.11.2004

"Bush gewinnt" orakelt Christian Schlüter in Times mager und weiß auch, warum: wegen der unmöglichen Wahlmaschinen und des per Verfassung festgeschriebenen Verbots, eine Präsidentschaftswahl annullieren zu können. "Allein die in einigen, vor allem den bevölkerungsreichen Bundesstaaten verwendeten Wahlcomputer, mit denen ganz ohne Stimmzettel und nur per Knopfdruck abgestimmt werden kann, sollten das sicherstellen. Sie quittieren das Votum mit einem entsprechenden Hinweis auf dem Bildschirm, nicht aber mit einem papierenen Ausdruck. Im Falle der Anfechtung - weil zum Beispiel die Wahlsoftware manipuliert wurde oder das Computernetzwerk einfach defekt gewesen ist - gäbe es keine Möglichkeit, die Stimmen nachzuzählen. Sie wären buchstäblich verloren." Zum "schön rechnen" des Ergebnisses lautet Schlüters Tipp an Hacker: "Der Zugangscode der amerikanischen Wahlcomputer lautet 1111."

Rüdiger Suchsland machte auf den Hofer Filmtagen vor allem in den internationalen Beiträgen eine Art "Dekonstruktion des Glamour" und die Rückkehr zu Fragen nach dem "wahren" Leben aus. Jamal Tuschick berichtet über eine Buchpräsentation von Peter Rühmkorfs "sehr vergnüglicher" Tagebuchfortschreibung "Tabu II" in Mainz.

Ansonsten viele Besprechungen: Passend zum Anlass wird die CD "protestsongs.de" vorgestellt, die deutschsprachiges Liedgut "gegen die Verhältnisse" versammelt. Besprochen werden des weiteren ein Abend mit Al Jarreau in der Alten Oper Frankfurt, eine "aufregende" und zugleich "verpasste" Inszenierung der "Herzogin von Malfi" in der Berliner Schaubühne, Lukas Bärfuss' Stück "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" am Stadttheater Gießen, und Morton Feldmans "rätselhafte" Beckett-Oper "Neither" an der Staatsoper Stuttgart. Außerdem eine Analyse des Historikers Gerhard Paul von Darstellungsformen moderner Kriege (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 02.11.2004

"Droht Amerika, in einen sanften Faschismus abzugleiten?", fragt der amerikanische Soziologe Richard Sennett, ohne sich selbst eine klare Antwort zu geben. Stattdessen raunt er: "Wir können uns eine harte und eine sanfte Variante von Faschismus vorstellen. Der harte Faschismus hämmert den Bürgern ein, dass sie mit eiserner Faust regiert werden, wie das bei Mussolinis theatralischer Gewalt der Fall war oder in George Orwells Alptraum 1984. Der sanfte Faschismus hingegen kommt nicht etwa mit Samthandschuhen daher, sondern als unsichtbare Hand, also in Form von Überwachungsmaßnahmen, die ihrerseits jeglicher Kontrolle entzogen werden wie im 'Patriot Act II', sowie einer Unterdrückung der eigenen Bürger, die der Öffentlichkeit als bloß präventives Vorgehen gegen Gefahren verkauft wird... Im harten Faschismus macht sich der Staat eine konkrete Furcht zunutze, im sanften Faschismus reicht eine diffuse Angst.

FAZ, 02.11.2004

Friedhelm Mennekes, Jesuit und Leiter der Kunst-Station Sankt Peter in Köln, erzählt auf der letzten Seite von einer Reise ins kurdische Suleimanyah, wo er an einem Künstlertreffen teilnahm: "Die Gespräche orientieren sich an zwei Künstlerheroen: Francis Bacon und Joseph Beuys (...) Bei den älteren kurdischen Künstlern mit einer dominierend arabischen Ästhetik oder stark beladener Erinnerungsmalerei bauen sich angesichts solcher Bilder schnell Widerstände auf, die schon am nächsten Tag von ihren jüngeren Kollegen aufgebrochen werden. Keine Frage, dass von den Bildern Bacons eine starke Verunsicherung ausgeht. Die Malerei aus dem subjektiven Nervenkitzel und als entschiedener Kampf mit dem Realismus der Fotografie wird als große Herausforderung verstanden."

Weitere Artikel: Die Queen besucht Berlin, und Gina Thomas fasst Artikel in der britischen Presse zusammen, die eine Entschuldigung für den Bombenangriff auf Dresden ablehnen. Bat. beschreibt kurz den Hof des Berliner Zeughauses, wo die englische Königin heute Abend dinieren wird. L.J. erläutert Britannias Herrschaftsabzeichen. Und Prinz Asfa-Wossen Asserate erklärt den Berliner Damen und Herren, wie sie die Königin zu begrüßen haben. Rmg. stellt ein Porträt der schwangeren Kate Moss von Lucian Freud vor. Freddy Langer freut sich über die Auszeichnung des japanischen Fotografen Daido Moriyama mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Fotografie. Andreas Kilb gratuliert Patrice Chereau zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite stellt Henrike Rossbach zwei Videos zum amerikanischen Wahlkampf vor: Eminems "Mosh" und "Cinnamon Girl" von Prince. Auf der letzten Seite porträtiert Christian Geyer den Hollywood-Produzenten Douglas Wick, der in Kalifornien zur Förderung der Stammzellforschung gründete. Joachim Müller-Jung nimmt die morgige Verleihung des königlichen Ehrenordens "Honorary Commander of the Most Excellent Order of the British Empire" an den Potsdamer Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber zum Anlass, über die Wespenplage in Großbritannien zu räsonnieren. Andreas Kilb resümiert die 38. Hofer Filmtage.

Besprochen werden die Heinrich Klotz gewidmete Ausstellung "Revision der Moderne" im Frankfurter Architekturmuseum, die Uraufführung von Kathrin Rögglas "Junk Space" beim Steirischen Herbst in Graz und Merce Cunninghams "Views on Stage" in Edinburgh.