Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2005. In der FAZ fragt Michael Borgolte, ob sich Joseph Ratzinger in seiner Namenswahl nicht an Benedikt XII. inspirierte, der die Katharer sensibel verhörte und unsensibel verbrennen ließ. In der taz fragt Georg M. Oswald, ob den Jugendlichen nicht gerade die gegenaufklärerische Entrücktheit Benedikts gefällt. In der NZZ schreibt ein Protestant: Habent papam und warum er selber keinen will. In der SZ spürt Georg Klein das Saugen eines epochalen Vakuums. In der Zeit kritisiert Robert Menasse den Kapitalismus.

Zeit, 21.04.2005

Viel Papst! Selbst in die Zeit hat es Benedikt XVI. noch geschafft, zumindest auf die vorderen Seiten. Bernd Ulrich hofft, dass der neue Papst Deutschland aus der Selbstbezogenheit führen könnte: "Mit Papst Benedikt XVI. rückt der Katholizismus, rückt das Christentum allgemein stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auch damit findet dieses Land einen engeren Anschluss an die Globalisierung. Denn es zeugt ja nicht von Modernität, sondern von Provinzialismus, so zu tun, als sei Religion eine absterbende Marginalie und nicht eine sich wiederbelebende Macht." Thomas Assheuer hofft, dass der Papst nicht als unerbittlicher Zuchtmeister, sondern als brillanter Intellektueller wirken wird.

Ans Feuilleton hat der Schriftsteller Robert Menasse "1 x Kapitalismuskritik" geschickt, in "zehntausend Zeichen, inklusive Leerezeichen", und zwar in Form einer Kassandra-Fantasie. So spricht die Dame: "Es muss gespart werden - erklären die Reichsten. Und das Wachstum muss angekurbelt werden - durch Kürzungen. Und der Standort muss gesichert werden - durch die Entlassung und Vertreibung derer, die an dem Standort leben und arbeiten. Glück? So, wie es produziert und beliefert wird, ist es nichts - als die Produktion von Dummheit mit technischer Intelligenz als Mittel. Hört zu! So hört mich doch an!"

Der britische Autor Salman Rushdie verübelt Tony Blair nachhaltig, dass er mit dem Gesetz über die Anstiftung zu religiösem Hass bei den Islamisten auf Stimmenfang geht: "Ich könnte mich eventuell bereitfinden, einen kompetenten, wenn auch befleckten Machtfreak zu wählen, aber einen Machtfreak, der sich in die Schuld religiöser Inquisitoren begibt, werde ich nicht wählen." Christoph Schlingensief freut sich, von Horst Köhler ernst genommen zu werden, der die angebliche "Entstaubung" der Klassiker als "Ausweis einer neuen arroganten Spießigkeit" gebrandmarkt hatte, möchte diese "Moralpredigt" aber doch schnellstens "gelyncht" sehen. Hanno Rauterberg feiert das neue Münchner Fußballstadion, die Allianz Arena von Herzog und de Meuron als grandioses Kunstwerk.

Christine Lemke-Matwey beobachtet begeistert den inzwischen dritten Part des Tanzprojekts "Rhythm is it!" der Berliner Philharmonikern mit Kiezkindern. Claus Spahn polemisiert dagegen mit Adorno gegen Musikpädagogik und die Vorstellung, Musik sei lindernde Salbe gegen den großen Krisenschmerz: "'Musik als soziale Funktion', schreibt Adorno, ist dem Nepp verwandt, schwindelhaftes Versprechen von Glück, das anstelle des Glücks sich selbst installiert'." Christian Staas schildert, was die Wissenschaft über die Wirkung von Musik herausgefunden hat: nämlich, dass Harmonie, Rhythmus, Melodie und Dynamik zu eng verwoben sind, um sie vollständig in "physikalischen Wirkungsparametern" beschreiben zu können. Intelligenter macht sie aber auf jeden Fall!

Thomas E. Schmidt spendiert Sydney Pollacks Thriller "Die Dolmetscherin" höchstes Lob: "Kino für Erwachsene!" Außerdem besprochen werden Peter Sellars schwülstige "Tristan"-Inszenierung an der Pariser Oper Bastille, das neue Album "Oceans Apart" der The Go-Betweens, eine Lotte-Lehmann-Aufnahme mit Schumann-Liedern und Robert Bressons Klassiker "Pickpocket".

Im Aufmacher des Literaturteils geht Susanne Mayer mit Haruki Murakami auf "Wilde Schafsjagd". Und von Jürg Laederach ist ein Text über Italo Svevo zu lesen.

FR, 21.04.2005

"Das wohl Bemerkenswerteste an der Wahl Joseph Kardinal Ratzingers zum 265. Papst ist, dass mit ihm endlich ein Intellektueller dasjenige Amt angetreten hat, das als machtvollstes und höchstes Amt gelten darf, das einem Intellektuellen überhaupt offen steht", findet Christian Schlüter. "Bei welchem Benedikt will Josef Ratzinger bzw. Bendedikt XVI. mit seiner Namenswahl andocken", fragt Rudolph Walter und lässt eine ganze Reihe von Benedikts Revue passieren.

Weiteres: Silke Hohmann stellt in der heutigen Times-Mager-Kolumne lakonisch fest. "Wenigstens habemus Pop." In der FR-Plus stellt Mirja Rosenau den Modedesigner Hussein Chalayan vor, dem gerade eine Einzelausstellung im Groninger Museum gewidmet ist, die neben einzelnen Kollektionen auch begleitende Videos und Installationen aus zehn Jahren zur Übersicht bringt.

Besprochen werden Sydney Pollacks UN-Thriller "Die Dolmetscherin" und Michael Radfords Shakespeare-Verfilmung "Der Kaufmann von Venedig", sowie Robert Jüttes Biografie des Begründers der Homöopathie, Samuel Hahnemann (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 21.04.2005

Michael Borgolte (mehr hier) fragt sich auf der letzten Seite, ob sich Joseph Ratzingers Namenswahl nicht an Benedikt XII. insprierte, der noch als Bischof Jacques Fournier in den Pyrenäen im 14. Jahrhundert die Katharer verhörte, ohne sie zu foltern (sie aber dann dem Scheiterhaufen überantwortete): "Seine Befragungen sind in vielen Bänden protokolliert und lassen erkennen, wie sensibel er dem Glauben der Irrenden auf die Spur zu kommen verstand, wie kompromisslos er auch die orthodoxe Lehre zur Geltung brachte. Als er 1326 in ein Nachbarbistum wechselte, war die Kraft des Katharismus wirklich gebrochen. Kurz darauf wurde Fournier Kardinal und theologischer Ratgeber seines Vorgängers als Papst, der - wie bei Benedikt XVI. - den Namen Johannes trug. "

Weitere Artikel zum Papst: Frank Schirrmacher kommentiert: "Anders als sein Vorgänger war er nicht auf der moralisch intakten Seite des Planeten geboren. Er ist damit - in einem ganz unpatriotischen Sinne - einer von uns." Christian Geyer versichert, dass Benedikt XVI. Mission als Dialog begreift. Patrick Bahners deutet die Bibelverse über den Arbeiter im Weinberg (Mt 20, 1-16). Heinrich Wefing berichtet vom schüchternen Stolz politischer Repräsentanten in Berlin. Paul Ingendaay schildert Reaktionen der Spanier und Jürg Altwegg das Entsetzen der Calvinisten. Dirk Schümer hofft, dass Benedikt XVI. Vorurteile der Italiener beseitigen hilft. Die Reaktionen der britischen Zeitungen, die nicht anders konnten als an Ratzingers Zeit in der Hitlerjugend zu erinnern, sind auf die Medienseite verbannt. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf schreibt in seiner Eigenschaft als Protestant.

Und sonst:

Philipp Blom (mehr hier) erzählt die faszinierende Geschichte der heute in Oxford aufbewahrten Oxyrhynchus-Papyri, Tausender verblichener Dokumente der Antike, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Ägypten gefunden wurden, aber kaum entzifferbar waren. "Der Durchbruch kam vor einigen Wochen mit Hilfe der Multispektral-Fotografie, einer Methode, die für die Aufbereitung von Satellitenbildern entwickelt wurde und durch das Herausfiltern von Licht im Infrarotbereich scheinbar kontrastlose Dokumente (wie zum Beispiel auch verkohlte oder verblichene Papyrusrollen) leicht lesbar machen kann." Zu den ersten Fundstücken gehören bisher unbekannte Fragmente von Sophokles, Euripides und Hesiod! Und Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazzbassisten Orsted Petersen.

Auf der Kinoseite interviewen Michael Althen und Peter Körte den Regisseur Sidney Pollack zu seinem Film "Die Dolmetscherin". Andreas Rossmann schickt Notizen vom Festival Femme totale. Und Andreas Platthaus beklagt Chaos auf dem DVD-Markt. Auf der Medienseite zitiert Michael Hanfeld die allerjüngsten Gerüchte zum möglichen Kauf der Pro 7 Sat 1-Gruppe durch den Springer-Konzern. Hanfeld berichtet auch, dass die Landesmedienanstalten durch Zentralisierung mehr Schlagkraft gewinnen wollen.

Besprochen werden Michael Radfords Verfilmung des "Kaufmanns von Venedig" mit Al Pacino, ein Auftritt der Band Queen mit einem Freddy-Mercury-Ersatzsänger Brian May und ein Konzert Anna Netrebkos in Frankfurt.

TAZ, 21.04.2005

"Früher waren wir Weltmeister, jetzt sind wir Papst. 482 Jahre ist es her, dass ein Deutscher Papst war, und so lange wird es wohl auch dauern, bis Deutschland wieder Weltmeister wird", beschreibt der Schriftsteller Georg M. Oswald den deutschen Wechsel von der Fußball- zur Papstbegeisterung. "Auffällig viele der in Glaubensfragen engagierten älteren Leute, die von den Fernsehjournalisten zur Papstwahl befragt wurden, bedauerten, dass Ratzinger 'so konservativ' sei, um dann die bekannten Einwände vorzubringen: Verhütung, Schwangerschaftsberatung, Zölibat. Für die Jüngeren hingegen scheint im Augenblick die größere Faszination von der Tatsache auszugehen, dass der Papst Haltungen repräsentiert, die vielleicht aus früheren Jahrhunderten stammen, aber gerade in ihrer gegenaufklärerischen Entrücktheit dem eingeschüchterten Westler etwas bieten, woran er sich halten kann. So gesehen sind wir noch nicht ganz Papst, aber wohl auf dem besten Weg, es zu werden."

Mehr Papst: Auf den Tagesthemenseite ist den weltweiten Reaktionen auf die Papstwahl ein ganzer Schwerpunkt gewidmet. Auf der Meinungsseite erklärt der Priester Paul M. Zulehner im Interview, warum junge Menschen plötzlich wieder am Katholizismus interessiert sind, obwohl sie ganz anders leben als gepredigt wird: "Sie sind an dem Gottesmann interessiert, der den Himmel offen hält, und nicht an Moral." Und in der tazzwei diskutieren acht tazler, ob man angesichts eines so konservativen Papstes noch in der Kirche bleiben kann.

Weitere Artikel im Kulturteil: Cristina Nord stellt den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethaku vor, dem das Filmfestival Visions du Reel im schweizerischen Nyon zurzeit eine Werkschau widmet. Claudia Lenssen fragt, wie es mit den beiden nordrhein-westfälischen Frauenfilmfestivals Femme totale und Feminale weitergehen wird.

Besprochen werden Michael Radfords Shakespeare-Verfilmung "Der Kaufmann von Venedig" und Anno Sauls Ethno-Komödie "Kebab Connection".

Und Tom.

Welt, 21.04.2005

Der ehemalige polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski erklärt, warum er froh ist über Benedikt XVI.: "Warum bin ich froh? Erstens weil Ratzinger - Papst Benedikt XVI. - Europäer ist. Er wird von großer Bedeutung sein für das Zusammenwachsen der europäischen Familie der Völker und Staaten. Zweitens, weil er aus Mitteleuropa stammt, aus dem Milieu katholischer Bauern. Die katholische Christenheit Europas entspricht, soziologisch gesprochen, in ihrer Mehrheit gerade diesem Milieu, zumindest ist sie aus diesem Milieu hervorgegangen. Drittens bin ich froh, weil Kardinal Ratzinger ein enger Mitarbeiter Johannes Pauls II. war."

NZZ, 21.04.2005

"Habent Papam. Ja, sie haben einen - neuen - Papst, die römisch-katholischen Schwestern und Brüder." Der evangelische Theologe Eberhard Jüngel gratuliert, bekundet seine Achtung vor dem Kardinal Ratzinger und ermuntert den Papst, neue Wege zu gehen, "dass er mehr noch als 'Was dürfen wir nicht?' fragt: 'Was können wir?' Ein Präfekt der Glaubenskongregation muss wohl immer auch ängstlich sein. Dem Pontifex aber rufen wir mit den ersten Worten seines Vorgängers zu: Habt keine Angst!"

Der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier erinnert daran, dass es "neben dem römischen auch den frühen Ratzinger (gibt): den jungen progressiven Theologen, der zu Anfang des Zweiten Vatikanums dem Kölner Kardinal Frings die Hand führte, als dieser für das Konzil das Recht erstritt, über die eigene Tagesordnung zu befinden. Es gibt den jungen Seelsorger, den Prediger mit der Glockenstimme, der als Priester und Dozent in Freising früh das Thema der 'neuen Heiden' und der Kirche entdeckte. Es gibt den theologischen Schriftsteller, dessen Bücher in alle Weltsprachen übersetzt sind und der ein Meister klarer und durchsichtiger Wortwahl und Satzbildung ist, ohne Modejargon, ohne die besonders im Deutschen beliebten Hieroglyphen und Dunkelheiten." Maier hofft, dass dieser frühe Ratzinger nicht ganz verschwunden ist.

Ulrich Ruh schließlich liefert ein Porträt des Papstes. Besprochen werden eine CD von Fischerspooner und Georg Christoph Lichtenbergs Korrespondenz (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 21.04.2005

"Natürlich ist die Entscheidung für Ratzinger radikal", erklärt Gustav Seibt. "Er gilt nicht als Mann des Ausgleichs, er ist keine populäre Erscheinung. Gelehrsamkeit und Intellektualität wirken nicht nur auf viele Gläubige eher abschreckend. Bei Ratzinger kommt ein nicht beiläufiger physiognomischer Zug hinzu: der durch seine schleppende, hohe Stimme bei aller Freundlichkeit erzeugte Eindruck von Ironie. Das ist keine leichte Hypothek, denn Kälte, Brillanz und eben Ironie zählten immer zu den schwersten Vorwürfen von Kirchenfeinden gegen einzelne Päpste. Es sind unjesuanische Eigenschaften, in denen sich eine Verbindung von geistiger Überlegenheit und irdischer Macht ausdrückt, die für viele geradezu unchristlich wirkt." Seibt findet das eher spannend. "Hinter seinem feinen Lächeln steckt jene Balance von Unterwerfung und Autorität, die den Kern des Katholischen ausmacht."

"Die Sehnsucht ist groß. Auf dem Petersplatz und auf den virtuellen Bühnen der Öffentlichkeit spürt man das Saugen eines epochalen Vakuums: Spirituelle Führerschaft! Gottesnähe!", schreibt Georg Klein in einer Reihe von Prominenten-Statements zur Papstwahl. "Aber nichts, rein gar nichts deutet bis jetzt darauf hin, dass dieser ungelenke Greis aus Deutschland dem Sog nach erlösender Geistigkeit mehr anbieten könnte als den Staub einer durch und durch verknöcherten Konfession. Das Papsttum bleibt auch mit Benedikt XVI. eine pompös aufgeblähte Vogelscheuche auf unfruchtbarem, auf hoffnungslos gottverlassenem Acker."

Außerdem gibt es eine Sammlung von Kurzkommentaren deutscher Schriftsteller, Regisseure, Schauspieler und Intendanten. Alexander Kissler macht sich Gedanken über den neuen Papst als Ästheten und Theologen des Blicks.

Weitere Artikel: Tilman Buddensieg würdigt ein bislang unveröffentlichtes plastisches Nietzsche-Bildnis des Bildhauers Max Kruse. Thomas Steinfeld schreibt zum Tod des Bassisten Niels-Henning Orsted-Petersen. Henning Klüver fasst italienische Debatten über den ermordeten Filmregisseur Theo van Gogh zusammen.

Besprochen werden die Ausstellung "Flämische Barockmalerei" in der Staatsgalerie im Schloss Neuburg an der Donau, Anno Sauls Ethnofilm "Kebab Connection", die Architekturfilmtage im Münchner Filmmuseum, die sich diesmal dem Komplex "Garten Film Kunst" widmen, Michael Radfords Shakespeare-Verfilmung "Der Kaufmann von Venedig", Tawik Abus Film "Atash" und Bücher, darunter Aki Shimazakis Roman Wasurenagusa" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).