Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2005. Die FAZ gerät angesichts der Nobelpreisentscheidung für Harold Pinter in ein hoch bedenkliches Kopfnicken. Die SZ findet die Entscheidung der schwedischen Akademie erratisch, die Welt abstrus, die FR enttäuschend, die taz fast weise. Aber in der SZ bekennt Luc Bondy: "Für mich wird von Pinter mehr bleiben als von Brecht."

FAZ, 14.10.2005

Harold Pinters frühe Stücke haben bei aller Rätselhaftigkeit den Nachteil der Langweiligkeit, findet Gerhard Stadelmaier. Naja, und die späten Stücke: "Er hat in einem seiner letzten, immer blässer, dümmer und hohler, aber auch immer politisch aufrechter gewordenen Stücke ('Party Time') eine Gesellschaft von vornehm verkommenen West-Fressenden und -Saufenden in ungeheurem dramatischem Gratismut und Schwung mit der Tatsache konfrontiert, dass, während hier Champagner und Kaviar geschlabbert werden, anderswo die Schreie der Gefolterten aus den Kellern dringen. Niemand kann dagegen etwas haben. Man kann dazu nur mit dem Kopf nicken. Aber gehen wir ins Theater, um mit dem Kopf zu nicken?" Gina Thomas berichtet in einem zweiten Artikel, dass Pinter bei mondänen Gelegenheiten wegen furchtbarer Wutausbrüche über Tschernobyl und anderer relevanter Themen unangenehm auffiel.

Weitere Artikel: Lorenz Jäger nimmt einen Text Peter Hartz' über "seinen Traum" in der letzten Zeit aufs Korn. Mark Siemons erkundet die symbolische Bedeutung von Chinas jüngstem Raumflug. Christian Schwägerl schreibt über notwendig zynisch wirkende Privilegierungen bestimmter Bevölkerungsteile durch den Seuchenschutz im Falle einer Pandemie. Freddy Langer gratuliert der Aktfotografin Ruth Bernhard zum Hundertsten. Und György Konrad schreibt zum Tod des Lyrikers und Publizisten Istvan Eörsi.

Auf der Medienseite gratuliert Robert Lücke der Zeitschrift Feinschmecker zum Dreißigsten. Und Michael Hanfeld berichtet, dass der Betriebsrat des Berliner Verlags nach einer möglichen Übernahme durch die britische Investorengrupppe 3i die Zerschlagung fürchtet.

Auf der letzten Seite liest Jürgen Kaube das "Potsdamer Manifest" bedeutender Gelehrter, die den Rest der Menschheit bitten, ihre Sorgen ernst zu nehmen. Philipp Blom erinnert an den Aufklärer Louis de Jaucourt, der einen Großteil der Artikel von Diderots "Encyclopedie" geschrieben hat. Und Judith Lembke proträtiert die 16-jährige Schülerin Josephine Ahrens, der das Verdienst zukommt, für die ehemalige Rechtschreibung einzutreten.

Besprochen werden Felicia Zellers Stück "Einfach nur Erfolg" über Kurt Cobain in Freiburg und Sachbücher, darunter eine Doppelbiografie über Elisabeth I. und Maria Stuart von Anka Muhlstein.

TAZ, 14.10.2005

"Harold Pinter? Ist das eine Enttäuschung! Eine miese Entscheidung! So lauteten erste Reaktionen bei uns in der Kulturredaktion", schreibt Gerrit Bartels auf den Tagesthemenseiten, "und schon liefen auch über die Ticker erste verblüffte Reaktionen von Großkritikern wie Sigrid Löffler ('bizarre Wahl') oder Denis Scheck, der die Wahl Pinters gleich als eine 'Beleidigung der Weltliteratur' bezeichnete. Nun könnte man fragen: 'Meine Güte! Warum nicht Harold Pinter?', mag er als Dramatiker noch so aus der Mode sein und unsereinem so gar nichts mehr sagen." In gewisser Weise, so Bartels, hat die "Akademie mit dem Preis für Pinter eine fast weise Entscheidung getroffen: Sie hat keinen Ruf zerstört, sondern die Erwartungshaltung für die Zukunft souverän heruntergedimmt."

Für Dominic Johnson machte Pinters "Hinwendung zum wirklichen Leben unter dem Einsatz von Sprachkunst auf allerhöchstem Niveau erst die Erneuerung des englischen Dramas möglich, aus der in der Thatcher-Ära eine neue Generation der politischen Satire und jetzt in der Krise des Blairismus eine Renaissance des politischen Theaters geworden ist, die in anderen Ländern ihresgleichen sucht".

Im Kulturteil resümiert Jan-Hendrik Wulf ein Treffen der "führenden Feuilletonisten Deutschlands", die am Mittwoch in der Berliner Volksbühne die Seichtigkeit von Talkshows beklagten. Thomas Winkler interviewt Jon King, den Sänger der Postpunk-Veteranen Gang of Four, die angeblich die "gerade einflussreichste Band der Welt". Susanne Messmer beklagt den Versuch von Jackie Chan, mit seinem jüngsten Film "New Police Story" ins Charakterfach zu wechseln. Tobias Rapp lotet die "Achse der Tanzmusik" aus und bespricht Alben von Mathias Aguayo, Metope und die vierte Produktion der "Famous When Dead"-Reihe vom Frankfurter Playhouse-Label.

Schließlich Tom.

FR, 14.10.2005

Der Dramatiker Thomas Oberender beglückwünscht Harold Pinter zum Nobelpreis und erinnert sich an "bewegende Inszenierungen" seiner Stücke. "Wie jung waren Pinters Stücke in solch halbdunklen, dem Jetzt grundsätzlich entrückten Räumen: Zwei junge Männer, die in Jürgen Kruses Inszenierung von 'Der Stumme Diener' Ganoven spielen, in einem Raum, der zur dritten Figur wird, gefährliche Typen, halb Kind, halb Killer, halb Freund, halb Feind. Dieses Spiel der Figuren mit der Rolle, die sie innehaben, als Maske und Auftrag, und wie daraus ein Spiel wird, das zeigt, wie Macht funktioniert, wie die Spielchen zwischen Menschen den Menschen erst 'machen', das hat eine hohe Lebensklugheit und - wie in den meisten seiner Stücke - eine frappierende Pointe."

Weitere Artikel: Frank Runde umreißt in seinem Porträt den "politischen Moralisten" Pinter. In Times mager kommentiert Ina Hartwig die Vergabe des Literaturnobelpreises und erklärt, warum sie "enttäuschte Leidenschaft" auslöse: weil Pinter bei allen Verdiensten eben nicht "unter dem Signum des Literarischen gefeiert werden" könne. Der ungarische Schriftsteller György Dalos (mehr hier) schreibt den Nachruf auf Istvan Eörsi.

Berliner Zeitung, 14.10.2005

Roland Koberg erzählt in seiner Würdigung Harold Pinters eine hübsche Anekdote: "Während eines seiner letzten Besuche bei Samuel Beckett vor dessen Tod erzählte Harold Pinter ihm davon, wie tief er über den derzeitigen Zustand der Welt deprimiert sei. Daraufhin lächelte Beckett hämisch und antwortete: 'Nicht so deprimiert wie ich es bin, Harold.'"

Bora Cosic schreibt zum Tod von Istvan Eörsi: "Ich denke an seine Rücksichtslosigkeit und seine Wut, Wut auf jenes langwierige Experiment mit der menschlichen Rasse, das sich Sozialismus nannte und das wir durchleben mussten."

Welt, 14.10.2005

Auf der Forumsseite kommentiert Tilman Krause die Nobelpreisentscheidung für Harold Pinter: "Jahr für Jahr werden die Stockholmer Entscheidungen abstruser, hilfloser, unnachvollziehbarer. Mit Harold Pinter, einem 1930 geborenen, in Ehren ergrauten Veteranen des einstmals vielgepriesenen absurden Theaters, ist man nun endgültig bei der Avantgarde von vorgestern angelangt."

Im Kulturteil schreibt L. Schmidt-Mühlisch ein Porträt über Harold Pinter. Matthias Heine erläutert, dass der Nobelpreis schon oft an Dramatiker vergeben worden ist. Im Interview mit Hanns-Georg Rodek lobt Jodie Foster die deutsche Sprache: "Es ist eine sehr schwierige Sprache, wirklich, aber ich liebe ihren Klang." Sven Felix Kellerhoff erzählt, was es mit Erich Mielkes "Sonderspeicher" auf sich hat, einem Aktenbestand, der zusammengetragen wurde, um Belastungsmaterial aus der Nazizeit für missliebige Westdeutsche bereit zu halten. Die Akten werden zur Zeit an zuständige Archive weitergegeben. Manfred Quiring besucht die Bibliothek "Russisches Ausland" am Taganka-Platz in Moskau, die der Literatur und Kunst der russischen Emigration des 20. Jahrhunderts gewidmet ist. Der Anwalt Peter Raue lobt das "betriebliche Bündnis für Arbeit" am Weimarer Theater, das er selbst bei der Umwandlung in eine GmbH anwaltlich vertrat. Günter Agde resümiert das Leipziger Dokumentarfilmfestival.

Besprochen wird die Ausstellung "Die letzten Stunden von Herculaneum" im Pergamonmuseum Berlin.

NZZ, 14.10.2005

Keine Kritik am neuen Literaturnobelpreisträger Harold Pinter in der NZZ. Im Gegenteil: Gleich zwei Artikel würdigen dessen Sprachkunst. Für Bruno von Lutz lag Pinters Interesse "von vornherein auf der Herstellung von Atmosphäre, einer beckettschen Atmosphäre von Erschöpfung und Endstadium, die aber vor dem Absurden bewahrt wird durch eine konkrete Bedrohungssituation, Drohgebärden bis hin zu Gewalttaten. Vor allem aber liegt sein Augenmerk auf der Ökonomie der Sprache, den kleinen Versprechern, Vergesslichkeiten, den Wiederholungen, gewollten und ungewollten Missverständnissen, dem Austrudeln der Sprache ins Nichts; oft auch einem Kreisen um ein einziges Wort, das somit zum Leitmotiv des Stückes wird."

Und Thomas Leuchtenmüller findet, dass Harold Pinter den Vergleich mit anderen Bühnenschriftsteller, denen man den Nobelpreis zuerkannte, wie Samuel Beckett oder Luigi Pirandello, Eugene O'Neill oder George Bernard Shaw, nicht scheuen muss.

Franz Haas stellt Sabina Guzzantis Dokumentarfilm "Viva Zapatero!" vor, in dem die Filmemacherin "in einer Folge von satirischen Sketches und realen Interviews von der schleichenden Zensur" im Fernsehen erzählt. "Die Autorin beteuert in Kommentaren, dass sich ihr Film nicht gegen die derzeitige Regierung richte, dass sie nur für ein unabhängiges Fernsehen plädiere, in dem auch die politische Satire ihren Platz haben sollte wie in allen zivilisierten Ländern. Tatsächlich stellt sie nicht nur die derzeitigen Machthaber spöttisch ins Licht. Haarsträubend widersprüchlich sind die Aussagen von linken Politikern, die das Machtspiel um das Fernsehen händeringend gutheißen, da sie ja seinerzeit, als sie an der Regierung waren, nichts getan haben, um das Medium unabhängig zu machen."

Weitere Artikel: Samuel Herzog schreibt zum Tod des Kurators, Künstlers und Verlegers Johannes Gachnang. Wilhelm Droste schreibt zum Tod des ungarischen Schriftstellers Istvan Eörsi.

Auf der Filmseite stellt Geri Krebs Trends im spanischen und im lateinamerikanischen Kino, die das Filmfestival San Sebastian offenbarte. Besprochen werden Terry Gilliams Film "The Brothers Grimm", Gitta Gsells Porträt der Jazzpianistin Irene Schweizer und der neue "Wallace & Gromit"-Film.

SZ, 14.10.2005

Die SZ widmet die erste Seite ihres Feuilletons dem Literaturnobelpreis für Harold Pinter. Die Entscheidungen der Akademie werden für Thomas Steinfeld immer rätselhafter. "Die Literatur- und Theaterkritiker der schwedischen Hauptstadt rangen, gleich ihren Kollegen in aller Welt, um Fassung. Einige versuchten, womöglich in Erinnerung an einen zwanzig oder dreißig Jahre zurückliegenden Englischunterricht, dem Beschluss etwas Positives abzugewinnen. Aber es half nichts, denn die Wahrheit dahinter ist allzu offensichtlich: Die Entscheidung für Harold Pinter ist eine trostlose, sektiererische, anachronistische und, schlimmer noch: entsetzlich langweilige Wahl. Man wird nicht erfahren, wie und warum sie zustande gekommen ist."

Der Theaterregisseur Luc Bondy dagegen zeigt sich im Interview hoch erfreut über die Wahl: "Pinter ist ein Autor mit Tiefgang. Man hat den Nobelpreis Beckett gegeben, man hätte ihn sehr gut Ionesco geben können. Pinter ist nicht einfach irgend ein sozialkritischer Stückeschreiber. Jetzt sage ich Ihnen was Schockierendes: Für mich wird von Pinter mehr bleiben als von Brecht."

Christine Dössel schließlich porträtiert den Dramatiker.

Weitere Artikel: Gottfried Knapp porträtiert den Münchner Künstler Hannsjörg Voth, der in der marokkanischen Marha-Ebene "bildmächtigen Bauten" errichtete; sie sind jetzt in einem "kongenialen" Bildband von Ingrid Amslinger und dem Künstler dokumentiert. Anlässlich der ersten Retrospektive seiner Arbeiten im Münchner Kunstverein spricht Turner-Preisträger Jeremy Deller in einem Interview über Kunst, Kitsch, Bush und Thatcher. Falk Jaeger stellt fest, dass aus der Konkurrenz und dem Überangebot der Berliner Luxushotels die Architektur als Sieger hervorgehen könnte; der Trend gehe weg vom "international gängigen Traditionalismus" hin zum "markanten Haus mit Alleinstellungsmerkmal". Jens Bisky würdigt in einem Nachruf den ungarischen Schriftsteller Istvan Eörsi. Harald Eggebrecht informiert über Vorwürfe, mit der Welfen-Versteigerung werde der "Ausverkauf" niedersächsischer Landesgeschichte betrieben. Und Bernd Graff stellt den Video-iPod und andere neue "Digital Lyfestyle-Produkte" von Apple vor.

Besprochen werden der Bahamasfilm "Into the Blue", die Japan-Tournee der Bayerischen Staatsoper, Puccinis "Le Villi" unter Leitung des neuen Berliner Chefdirigenten Renato Palumbo und Bücher, darunter eine Edition von Briefen, Texten und Notizen von Erhart Kästner und Gerhart Hauptmann, eine Geschichte der deutschsprachigen Literatur von Peter Sprengel und eine Wittgensteineinführung von Joachim Schulte. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)