Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.06.2006. Peter Handke hat auf den Heine-Preis nun verzichtet. Die SZ zieht eine bittere Bilanz der Affäre, die FAZ eine nicht ganz so bittere. Die NZZ lässt sich auf dem Pariser Marche Aligre über die Vorteile bestimmter Apfelsorten aufklären. Die FR wendet sich gegen eine Neudefiniton des Nationalgefühls. In der taz erklärt Green Gartside, warum er Christopher Norris lieber liest, statt mit ihm in einem sozialistischen Chor klassische Musik zu singen.

SZ, 09.06.2006

Thomas Steinfeld zieht eine bittere Bilanz der Affäre um den Heine-Preis, den Peter Handke für die Verteidigung einer "Offenen Wahrheit" zugesprochen bekommen sollte und auf den er nun in einem Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf verzichtete. Besonders scharf kritisiert Steinfeld die Düsseldorfer Politiker: "Die letzte Idee, die dieser Stadtrat vor Peter Handkes Entscheidung hatte, war der Vorschlag gewesen, die Heinrich-Heine-Universität möge vor der Vergabe der Auszeichnung ein Symposium ausrichten, auf dem das Werk des Schriftstellers hätte diskutiert werden und er selbst Rede und Antwort hätte stehen sollen. Es wäre ein Tribunal geworden, veranstaltet auf Kosten des Dichters. Diese Idee hat etwas Bestürzendes: Kann es wirklich sein, dass die Düsseldorfer Kommunalpolitiker gar nichts gelernt haben aus den Auseinandersetzungen der vergangenen zehn Tage, dass sie nicht sehen, welches Unrecht sie begangen haben?"

Auch Handkes Brief an Oberbürgermeister Joachim Erwin, der zugleich Sprecher der Jury war, wird dokumentiert: "Schade ist vielleicht nur, dass ich im Dezember einiges hätte darlegen können zum Unterschied zwischen journalistischer und literarischer Sprache." Online zu lesen sind der Brief und Erwins Antwort bei der FAZ und als pdf-Dokument bei der Stadt Düsseldorf.

Weitere Artikel: Kai Strittmatter schreibt über den Fall der türkischen Kolumnistin Perihan Magden, die ins Gefängnis gesteckt wurde, weil sie Wehrdienstverweigerung als Menschenrecht verteidigte - Orhan Pamuk hat sich neulich im Guardian für sie eingesetzt. Christopher Schmidt ist froh, dass die WM jetzt endlich beginnt. Steffen Kraft porträtiert die Berliner Graffiti-Aktivistin Irmela Mensah-Schramm, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Hakenkreuzschmierereien zu übermalen. Thomas Thieringer schreibt zum Tod der Brecht-Schauspielerin Eleonore Zetzsche. Jochen Stöckmann resümiert eine Hamburger Tagung über Krisen im Kalten Krieg. Für die Literaturseite besucht Maike Albath die Krimiautorin Donna Leon in Venedig.

Besprochen werden die zwei großen Ausstellungen über "Picasso - Tradition und Avantgarde" in Madrid, Olga Neuwirths "Don Giovanni-Komplex" in Wien, David Gieselmanns Stück "Die Plantage" in Magdeburg, ein neues Album der französischen Band Nouvelle Vague und eine Ausstellung über die Geschichte der Italien-Sehnsucht im Hager Mauritshuis.

NZZ, 09.06.2006

In Paris schlendert Marc Zitzmann über den Marche Aligre im zwölften Arrondissement. In der Markthalle gibt es "fünf Metzgereien, je zwei Gemüse-, Fisch-, Wurst- und Käsegeschäfte, dazu Läden mit Spezialitäten aus Portugal, Italien, Schwarzafrika und den Antillen: Die Auswahl ist überschaubar, der Anspruch jedoch enorm. Jean-Francois Daniel kann viertelstundenlang über die Eigenschaften dieser oder jener Apfelsorte extemporieren - und es ist kein Verkaufstrick. Während er ins Schwärmen gerät, ziehen pressierte Kunden, die hinter einem warten, weiter."

Weitere Artikel: Klaus Bartels verfolgt die Veränderungen des Wortes "Arzt" vom Griechischen ins Deutsche. Marianne Zelger-Vogt resümiert die Schubertiade Schwarzenberg. Besprochen werden eine Ausstellung zur Architektur von Sportarenen und -stadien im Architekturmuseum der TU München, eine Schau über Godber Nissen (1906-1997) in der Freien Akademie der Künste, die den Hamburger Architektursommer, einläutet und Schönbergs "Moses und Aron" in Wien.

Auf der Filmseite erklärt der Medienwissenschaftler Vinzenz Hediger, warum Film und Fußball viel schlechter zusammengehen als Fernsehen und Fußball. Besprochen werden John Moores Remake von Richard Donners Gruselklassiker "Das Omen" und ein Buch über "Psyche im Kino" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medien- und Informatikseite informiert uns eine Meldung, dass neben der Times jetzt auch die BBC und der Guardian den amerikanischen Markt erobern möchten. Carolyn McCall, Chefin von Guardian Newspapers Limited, erklärte kürzlich, "es gebe in den USA ein großes Interesse am Guardian, nicht zuletzt an dessen Website. Diese wolle man ausbauen. Geplant sei aber auch der Vertrieb der gedruckten Ausgabe."

"Ras" stellt die jüngsten Zahlen des Weltverbands der Zeitungsverleger (WAN) vor, wonach "das Papier als Informationsträger keineswegs ausgedient hat. Insbesondere boomt der Zeitungsmarkt in Asien. Die aufstrebenden Länder machen demnach keinen direkten Sprung ins rein elektronische Zeitalter. Laut den WAN-Daten, welche diese Woche anlässlich des Weltkongresses in Moskau publiziert wurden, nahm in China der Zeitungsverkauf innert fünf Jahren um 18 Prozent zu, in Indien um 33 Prozent und in Malaysia um 15 Prozent. China verfügt inzwischen über den größten Zeitungsmarkt (täglich 97 Millionen verkaufte Exemplare); es folgen Indien (79 Mio.), Japan (70 Mio.), die USA (53 Mio.) und Deutschland (22 Mio.). 70 Prozent der meistverkauften Blätter wurden in Asien publiziert."

Außerdem: Villö Huszai berichtet, dass an der Universität Zürich ein "Dokumenten- und Publikationsserver" aufgeschaltet werden soll, der alle an der Universität erbrachten Forschungen der Öffentlichkeit frei zugänglich machen wird. S.B. berichtet über den Kampf der Formate HD-DVD und Blu-Ray auf dem Videomarkt.

FAZ, 09.06.2006

Das Ende einer Farce: Abgedruckt wird unter dem Titel "Je refuse!" der kurze Briefwechsel zwischen Peter Handke und dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin, causa Heine-Preis, (vgl. Perlentaucher-Dossier). Handke will ihn, kurz gesagt, nicht mehr. Etwas länger gesagt: "Doch ich schreibe Ihnen heute zusätzlich, um Ihnen (und der Welt) die Sitzung des Düsseldorfer Stadtrats (heißt das so?) zu ersparen, womit der Preis an mich für nichtig erklärt werden soll, zu ersparen auch meiner Person, nein, eher dem durch die Öffentlichkeit (?) geisternden Phantom meiner Person, und insbesondere zu ersparen meinem Werk oder meinetwegen Zeug, welches ich nicht wieder und wieder Pöbeleien solcher wie solcher Parteipolitiker ausgesetzt sehen möchte."

Der kritische Kommentar von Hubert Spiegel in der FAZ dazu: "Wenn Handke sich missverstanden fühlt, ist er als erster dazu berufen, das Missverständnis auszuräumen. Wann immer dieser Schriftsteller die Öffentlichkeit gesucht hat, wusste er sie auch zu finden."

Weitere Artikel: Der Autor Walter Klier hat sich durch Reinhold Messners Museum auf Schloss Sigmundskron führen lassen. Der Schriftsteller Michael Lentz hat, damit seine Kolumne zur WM eröffnend, einen "Zauberspruch für Ballacks Wade" verfasst - scheint ja geholfen zu haben. Joseph Hanimann unternimmt einen deutsch-französischen "lexikalischen Grenzgang" zwischen 'L'equipe' und 'Mannschaft'. Martin Otto stellt die Saga um Babar, den kleinen Elefanten vor - und erkennt darin den Sieg der "postkolonialen Aufklärung". Von den Dresdner Musikfestspielen berichtet Anja-Rosa Thöming. Den Nachruf auf die Schauspielerin Eleonore Zetzsche hat Gerhard Stadelmaier verfasst.

Auf der letzten Seite findet sich ein Gespräch mit dem Fernsehmoderator Frank Plasberg ("Hart aber fair") über Fairness. Gerhard Rohde porträtiert Christoph Lieben-Seutter, den zukünftigen Generalintendanten der geplanten Hamburger Elbphilharmonie. Eberhard Rathgeb stellt den deutschen WM-Alarmplan vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Berlin-Tokio" in der Berliner Neuen Nationalgalerie, Yasmine Kassaris Film "Das schlafende Kind", ein Konzert der Flaming Lips in Köln und Bücher, darunter Tash Aws Roman "Die Seidenmanufaktur 'Zur schönen Harmonie'", David Schnarchs Studie "Die Psychologie sexueller Leidenschaft" und eine aufwendige neue Ausgabe von Benvenuto Cellinis "Traktate über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 09.06.2006

Angesichts der Scheidung von Christian Wulff und der privaten Konstellationen anderer CDU-Granden erklärt der Politologe Franz Walter den Kampf der CDU gegen den liberalen Zeitgeist auch auf persönlicher Ebene für gescheitert. Christian Seel berichtet von dem Rausschmiss des ARD- Schwimmreporters Hajo Seppelt, der die unkritische Berichterstattung seines Senders moniert hatte, und der Sauberkeitskampagne des von Stasi-Vorwürfe gebeutelten ARD-Sportkoordinators Hagen Boßdorf. Wieland Freund fasst kurz John Updikes im August in Deutschland erscheinenden neuen Roman "Terrorist" zusammen, in dem Updike diesmal eben Attentäter über Gott und die Welt reden lässt. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod der Schauspielerin Helga Marold.

Im Magazin nimmt Michael Stürmer die Robespierre-Biografie von Ruth Scurr zum Anlass, Taten und Untaten des Revolutionärs zu reflektieren.

"Besprochen werden die Fußball-inspirierte Ausstellung "Der Ball ist rund - Kreis Kugel Kosmos" im Berliner Pergamonmuseum, ein Berliner Konzert der Band Metallica mit zwanzig Jahre alten Stücken aus dem Frühwerk sowie das Album "Under The Iron Sea" von Keane.

FR, 09.06.2006

Christian Thomas kommentiert den nationalen Selbstverständigungsdiskurs, der gerade zur Unzeit anhebt. "Wahrscheinlich deshalb ist es wohl auch alles andere als ein Wunder, dass die Fußball-WM manchen Autor herausgefordert hat, eine Neudefinition des Nationalgefühls mit einem stürmischen Glaubensbekenntnis zu verwechseln. Man könnte auch sagen: eine geschichtsbewusste Selbstaufklärung mit einem nationalen Narzissmus, wozu gleich mehrere Erbauungsschriften erschienen sind, angefangen von Matthias Matusseks 'Wir Deutschen', über Florian Langenscheidts 'Das Beste an Deutschland' bis hin zu Henrik Müllers 'Wirtschaftsfaktor Patriotismus', worin eine alles andere als kontrollierte Patriotismus-Offensive zu einer ökonomischen Kategorie wird, aus der ein Wachstumsimperativ erhoben und eine Fortschrittsverheißung abgleitet wird."

Weiteres: In Times mager sieht Harry Nutt in der T-Com-Liga den Vorboten einer schleichenden Namensentwertung. Die einzige Besprechung widmet sich der Schau "Konstellationen" im Frankfurter Städel, in der Kunstwerke aus dem Sammlungsbestand und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts "assoziativ" kombiniert werden.

TAZ, 09.06.2006

Auf der Medienseite nimmt Jenni Zylka eine souveräne Position zum Bürgerjournalismus bei der neuen Reader's Edition, einer Art Wiki-Journal, ein: "Früher scheiterten talentlose wie oft auch talentierte Schreibwütige an den formalen Bedingungen der Verlage - die meisten Zeitungen drucken keine ungefragt eingesandten Texte, die meisten Buchverlage lassen Manuskripte lange liegen, manchmal für immer. Jetzt können sie sich im Netz ausprobieren und austoben. Irgendjemand liest es immer, und irgendjemand findet es immer gut."

Im Kulturteil unterhält sich Thomas Winkler mit Green Gartside von der immer noch existierenden Band Scritti Politti - Er empfiehlt den Band "Against Relativism" seines Lieblingsphilosophen Christopher Norris. "Ein unglaublich schlauer Mann. Er ist ein utopischer Sozialist, aber seine Leidenschaft ist die klassische Musik. Er singt in einem sozialistischen Chor in Wales. Er hat mich eingeladen mitzusingen. Ich habe das Angebot sehr höflich abgelehnt."

Weiteres: Harald Fricke klärt uns über Gnarls Barkley auf. Katrin Bettina Müller besucht die Berliner Klangkunstausstellung Sonambiente. Auf der Meinungsseite blickt Gerrit Bartels auf den Post-Handke-Heine-Scherbenhaufen.

Schließlich Tom.