Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2007. Die Zeit rät von Dani Levys Hitler-Film ab und empfiehlt statt dessen eine Website über Katzen, die wie Hitler aussehen. Die NZZ zeichnet ein drastisches Bild von Spanien im Zementrausch. Zwiespältiges zum 60. Geburtstag des Spiegel: Die FR fürchtet, dass er seine Funktion als politisches Leitmedium verloren hat. Die Welt dagegen verteidigt den Spiegel gegen die Nostalgiker der Spiegel-Affäre. Klaus Harpprecht sieht ihn in der SZ fest in der Hand von Frank Schirrmachers Sympathie-Imperium. Die FAZ sagt dazu nichts.

Zeit, 04.01.2007

Wer wirklich über Hitler lachen will, dem empfiehlt Harald Martenstein Seiten wie beautifulatrocities.com und catsthatlooklikehitler.com (Kitlers!) oder die Filmchen "Der Bonker" und "Hitler Leasing" bei YouTube. Denn Dani Levys jetzt anlaufende Komödie "Mein Führer" findet Martenstein nur partiell lustig. "Hitler ist bei Levy ein misshandeltes Kind, einsam, traurig, Bettnässer und impotent, von seinen engsten Mitarbeitern hintergangen, von seinem Lehrer gedemütigt... Er distanziert sich von den Morden, von den 'vielen Toten', das sei alles nicht auf seinem Mist gewachsen. Auf der anderen Seite kalauert der Film herum, seinen Humor bezieht er vor allem daraus, dass Hitler Essen spuckt oder dass ein Nazi 'Puffke' heißt und ein anderer 'Rattenhuber', während der Jude mit dem Vornamen 'Adolf' gestraft ist... Diese Komik ist deutlich schwachbrüstiger als die Tragik, die Hitler umweht. So wird 'Mein Führer' zu einem wirklich großen historischen Ereignis, nämlich dem ersten Mainstreamfilm seit 1945, in dem Hitler als ein bedauernswerter, im Grunde sogar netter Typ auftritt."

Abgedruckt ist Ronald Dworkins Dankesrede zur Verleihung des Bielefelder Wissenschaftspreises, in der der Rechtsphilosoph gegen den Relativismus und für eine wahrheitsorientierte Interpretation plädiert, sei es bei Kunstwerken oder Gesetzen.

Weitere Artikel: In der Randspalte schimpft Hanno Rauterberg über die Pläne der Europäischen Zentralbank für ihr neues Hauptquartier in Frankfurt: "Im Reich der Bau-Metaphern sind die EU-Politiker unbestritten die größten Künstler - in der Wirklichkeit des Bauens aber nur wüste Abrissunternehmer." Liane von Billerbeck preist die Kabarettistin und Schauspielerin Maren Kroymann, die ganz und gar schnörkellos in dem Film "Verfolgt" brilliere. Manfred Bissinger blickt zum sechzigsten Geburtstag des Spiegels auf die historischen Höhen und Tiefen des Magazins wie auf die gegenwärtigen Machtkämpfe um den Vorsitz der Mitarbeiter-KG. Barbara Kerneck berichtet, wie nun auch russische Geschäftsleute die Preise für Kunst aus der Heimat in die Höhe treiben.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Pierre Klossowski im Kölner Museum Ludwig, zwei Beethoven-Aufnahmen unter dem Dirigat von Paavo Jävi, das neue Album "Those The Brokes" der Magic Numbers und als Moderner Klassiker György Kurtags "Werke für Sopran".

Im Aufmacher des Literaturteils feiert Oliver Müller die Wiederentdeckung des "großen Denkers" Ernst Cassirer.

NZZ, 04.01.2007

Markus Jakob zeichnet ein drastisches Bild von Spanien im Zementrausch. Die ganze Gesellschaft scheint ihm verfallen, inklusive der Zeitungen, denen an ihren fetten Immobilienteilen liegt. "Spanien verbaut - vorwiegend entlang der Mittelmeerküste - pro Jahr und Einwohner weit über eine Tonne Zement, das Vier- oder Fünffache vergleichbarer Länder. Den einzigen Gegenpol im Landesinnern bildet der Moloch Madrid. Annähernd die Hälfte der Bevölkerung ballt sich heute auf einem Hundertstel des nationalen Territoriums. Kein Wunder, sind viele Spanier schwer baulärmgeschädigt."

Besprochen werden Mozart-Opern in Produktionen der Salzburger Festspiele 2006 auf DVD, Mozart-Streichquartette in historischen und neuen Aufnahmen und Ludger Lütkehaus' neues Buch "Natalität - Philosophie der Geburt".

FR, 04.01.2007

"Ohne Zweifel bietet der Spiegel heute optisch und inhaltlich nicht mehr das Angebot wie zu Augsteins Glanzzeiten", schreibt Roderich Reifenrath auf der Medienseite dem Hamburger Magazin zum Sechzigsten auf die Geburtstagstorte. "Da gab es nicht nur stärkere Gewichtungen auf politische Themen, sondern regelmäßig - von vielen nun vermisst - entschiedene Meinungsbeiträge. Und Würze reimte sich damals nicht zwingend auf Kürze, es waren halt andere Zeiten. Bonn, die Regierungskapitale, stand im Zentrum der Betrachtungen, während jetzt eine 'flüchtige Moderne' mehr und mehr die sogenannten weichen Themen für plakative Fernsehformate und Printstrecken favorisiert. Mit Folgen. Der Spiegel hat dabei seine lange währende Funktion als politisches Leitmedium verloren - und die Rolle als investigatives Flaggschiff ebenso: Die Konkurrenz ist herangewachsen. Montags wird im Land nicht mehr gebibbert. Es steht der Vorwurf von Franziska Augstein im Raum, das Produkt sei beliebig geworden und geschwätzig."

"Es sind zwei verschiedene Urs'", sagt der Schriftsteller Urs Widmer im Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs über sein gespaltenes Schriftsteller-Ich. "Der Theater-Urs ist aggressiver, politischer, dialogischer, nach außen gewandt, wütender, hüpft mehr herum; und der Prosa-Urs genießt natürlich diese herrliche Freiheit des Alleinseins, diese narzisstisch getönte Möglichkeit, Gott zu sein."

Weitere Artikel: Volkmar Sigusch befasst sich in seiner Kolumne zu Aspekten der sexuelle Frage heute mit der Geschlechterdifferenz. Klaus Walter berichtet von seinen Schwierigkeiten, sich beim Essen über Pop zu verständigen und empfindet eine diffuse Sehnsucht nach "einem Leuchtturm im Datenmeer". Elke Buhr stellt aus Anlaß des 25. Geburtstags von Britney Spears in der Kolumne Times Mager fest: "Im Pop von heute ... darf man sich offenbar weniger Exzesse erlauben als in einem beliebigen bayrischen Schützenverein."

Besprochen werden Christopher Nolans Magierfilm "Prestige", Angelina Maccarones Film "Verfolgt", Steven Zaillians Film über Aufstieg und Fall eines amerikanischen Volkstribuns "Das Spiel der Macht" (den Michael Kohler allerdings "seltsam blutleer" fand) und die Ausstellung "Idylle - Traum und Trugschluss" in der Hamburger Sammlung Falckenberg/Phoenix Kulturstiftung.

TAZ, 04.01.2007

Fast alles Kino heute: Hannah Pilarczyk nimmt den Start von Stephen Frears Film "Die Queen" zum Anlass, nicht nur über den Film, der in der Woche nach dem Tod von Prinzessin Diana spielt, sondern auch über das Verhältnis britischer Popkünstler zu Tony Blair nachzudenken. Ines Kappert ist beeindruckt vom präzisen Blick, den Angelina Maccarone in ihrem Film "Verfolgt" auf die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern wirft. Birgit Glombitza blickt mit zwiespältigen Gefühlen in Fernando Leon de Aranoas Film "Princesas" auf die Härte des Madrider Straßenlebens und träumt von Hurensolidarität. Cristina Nord kann an Steven Zaillians Film "Das Spiel der Macht" nur bewundern, was Hauptdarsteller Sean Penn aus seiner Rolle des Populisten Stark gemacht hat, in dem er den "Kampfkunst-Stil des 'Drunken Kung-Fu'" ins Repertoire filmischer Politiker-Darstellung aufgenommen hat.

Eine Besprechung gilt außerdem Michael Brauns "Der Deutschlandfunk-Lyrik-Kalender 2007" (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 04.01.2007

Im Aufmacher erinnert Wolf Lepenies an Arnold Gehlens Buch "Die Seele im technischen Zeitalter", das vor fünfzig Jahren erschienen ist. Eckhard Fuhr singt ein kleines Loblied auf den Kulturminister Neumann, der still und effizient arbeite und dabei ganz auf neoliberale Ruckreden verzichte. Uta Baier berichtet über den Einzug einer Figurengruppe von Tilman Riemenschneider ins Bode-Museum. Manfred Quiring erzählt vom Anliegen des Moskauer Bildhauers Wadim Zerkownikow, der Wera Muchinas "Arbeiter und Kolchosbäuerin", eine einst 60 Meter hohe stalinistische Scheußlichkeit, wieder in Moskau aufstellen will und auf die Sympathie der Stadtpolitiker stößt.

Auf der Medienseite gratuliert Chefredakteur Thomas Schmid dem Spiegel zum Sechzigsten und nimmt ihn gegen die etwas giftige Hommage Tom Schimmecks neulich in der taz in Schutz: "Wer seinen heutigen Machern Verrat am Spiegel der Spiegel-Affäre von 1962 vorwirft, hat einen romantischen Blick auf die Geschichte der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Und er verkennt, dass es heute einfach nicht mehr möglich ist, im Gestus der publizistischen Frühaufklärung aufzutreten."

Besprochen werden die Filme der Woche.

SZ, 04.01.2007

Der Spiegel ist in die "gesetzten" Jahre gekommen, meint Klaus Harpprecht in seinem Geburtstagsartikel auf der Meinungsseite: "Der vorläufige Erbe am Chefschreibtisch verzichtet, klug wie er ist, auf die posthume Konkurrenz. Er politisierte - wie viele Ex-Linke - das Blatt durch eine sacht-smarte Entpolitisierung nach rechts, was für die Auflage bekömmlich ist. Grundhaltung: Opposition, gleichviel, wer regiert... Der Leser glaubt sich informiert. Sein Wohlgefühl wird gefördert von der Grundharmonie, die neuerdings den Spiegel mit der FAZ und dem Springer-Verlag innig verbindet: Frank Schirrmachers Sympathie-Imperium, das sich bei den Großinszenierungen von Günter Grass' später Selbstentblößung und Joachim Fests Wagnerischem Weihetod so eindrucksvoll dargestellt hat. Nein, der Spiegel ist nicht länger ein hassens- oder liebenswertes, vor allem singuläres Monster, sonderlich brüderlich mit der Frankfurter Allgemeinen und der Bild-Zeitung alliiert: Das lockert die Spannung und mindert die Sucht (die noch immer das Ziel der Bindung zwischen Leser und Blatt ist)."

Weitere Artikel: Im Feuilleton hält Jens Bisky nur wenig vom Wortkonservativismus, der für ihn aus Aktionen wie dem Wettbewerb "Das bedrohte Wort", zu dessen Juroren Autoren wie Jakob Hein und Eva Menasse gehören: "Wer Wichtiges, Vielgestaltiges sagen will, braucht verschiedene Stilhöhen und schroffe Gegensätze und mithin auch Wörter, die von der Mehrheit der Sprecher vergessen wurden." Sonja Zekri schreibt, dass seit dem 11. September soviel Deutsche wie nie zum Islam konvertieren und befasst sich mit der Rolle, die diese Konvertiten in den islamischen Communities spielen. Jens-Christian Rabe erzählt, wie Laura Albert als die Frau geoutet wurde, die den jugendlichen Bestseller-Stricher-Autor JT LeRoy kreierte. Gerhard Matzig berichtet, wie Englands Architekten die allgemeine Fettsucht bekämpfen sollen. Jens Malte Fischer gratuliert der Opernsängerin Grace Bumbry zum Siebzigsten. Angesichts der heute anstehenden Bekanntgabe der Entscheidung, ob das abgerissene Potsdamer Stadtschloss als Landtagsgebäude wieder errichtet wird, wägt Gottfried Knapp noch einmal die verschiedenen Plan-Varianten ab.

Besprochen werden Fernando Lean de Aranoas Film über zwei madrilenische Huren "Princesas" ( für Rainer Gansera ein Ereignis, weil der Film weder in die Falle der "Prostituierten-Folklore" noch in die des "sich herabneigenden Sozialrealismus" tappt), Thomas Imbachs moderne Büchner-Verfilmung "Lenz" mit Milan Peschel in der Titelrolle und dem Matterhorn als Co-Star. Shawn Levys Film "Nachts im Museum", Christopher Nolans Magierfilm "Prestige" (außerdem gibt es ein Interview mit Nolan) und Bücher, darunter Carlos Fuentes phantastische Mexiko-Erzählungen "Unheimliche Gesellschaft" (mehr ab in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

FAZ, 04.01.2007

Andreas Platthaus berichtet leicht angewidert über eine Stiftung zugunsten jugendlicher Verbrechensopfer, die der Rechtsanwalt Michael Heuchemer gründen will. Heuchemer hatte Magnus Gäfgen, den Mörder des 11-jährigen Jakob von Metzler verteidigt. Die Stiftung sollte zuerst im Namen Gäfgens gegründet werden, die Behörden gaben dazu jedoch nicht ihre Zustimmung. Nachdem Heuchemer auf den Namen verzichtet hatte, erhielt er jedoch grünes Licht: "Unverdrossen aber verkündete Heuchemer sofort, dass sein Mandant entweder stellvertretender Stiftungsratsvorsitzender oder zumindest Beisitzer im Vorstand werde." Michael Martens besucht Belgrads Akademie der Wissenschaften, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie geholfen hat, den Kosovo in der neuen Verfassung Serbiens als "unabtrennbaren Teil Serbiens" zu verankern. In der Leitglosse mokiert sich Jürgen Kaube über die Ankündigung der Bildungsministerin Annette Schavan, in fünf Jahren die Zahl der Schulabbrecher halbieren zu wollen. Thomas Wagner war bei einem "Designer-Gipfel" in St. Moritz (wo sonst?), der über Schönheit grübelte. Timo John meldet froh, dass Tuttlingens in den Zwanzigern erbautes Krematorium dank einer Bürgerinitiative, die es vor dem Abriss bewahrte, nun ein Kunsthaus ist. Jürgen Kesting schreibt zum Siebzigsten der Sopranistin Grace Bumbry. Andreas Rossmann schreibt zum Tod der Theatermacherin Eva Johanna Heldrich.

Auf der Kinoseite liefert Bert Rebhandl ein schönes Porträt des ehemaligen Staatsanwalts - heute Filmkritiker und Schauspieler - Dietrich Kuhlbrodt, der gerade im Berliner Tip-Magazin versucht hat, sich anlässlich von Dani Levys Film "Mein Führer" und anderen Hitlerfilmen darüber klar zu werden, warum er mit Lachen über Nazis irgendwie ein Problem hat. Auf der Medienseite skizziert Erna Lackner die Probleme, denen sich der neue ORF-Intendant Alexander Wrabetz stellen muss. Auf der letzten Seite berichtet Tilmann Lahme über einen gewissen Herrn H., der als Politoffizier des Berliner Regiments 33 den Tod von Chris Gueffroy an der Mauer mitverschuldet haben soll, gegen Erwähnung seines Namens in diesem Zusammenhang aber - bisher - erfolgreich klagte. Joachim Müller-Jung berichtet über eine Studie von vier amerikanischen Neuroökonomen, die drei Schalter im Hirn geortet haben wollen, die für eine Kaufentscheidung verantwortlich sind (mehr möglicherweise hier). Hansgeorg Hermann stellt die Freud-Forscherin Ilse Grubrich-Simitis vor.

Besprochen werden eine Klee-Ausstellung in Köln und Christopher Nolans Film "Prestige - Meister der Magie" ( an dem Michael Althen nur eins gefällt: David Bowie, der als Nikola Tesla, Erfinder des Wechselstroms, den "lebenden Beweis" dafür liefere, "dass Glamour tatsächlich etwas mit Elektrizität zu tun hat".).

Zu lesen gibt es ein Gedicht von Peter Rühmkorf: "Über den Gartenzaun gesprochen".