Heute in den Feuilletons

Read This, Skip That

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2008. Alle gratulieren dem "genial zuchtlosen" (so Gerhard Stadelmaier in der FAZ) Joachim Kaiser zum Achtzigsten. In der SZ wird das Kränzchen von Martin Walser persönlich geflochten. Die Welt bespricht Til Schweigers neuen Film, und erklärt, warum immer mehr Produzenten immer weniger Kritik wollen. Die NZZ beruhigt: Wer schon reich ist, der hat kaum was zu verlieren. Dem Tagesspiegel geht das Öl aus, nicht aber die geistige Mobilität.

TAZ, 18.12.2008

Elisabeth Raether porträtiert die britische Starjournalistin Tina Brown, die nach Chefredakteursposten bei Vanity Fair und dem New Yorker nun das neue Onlinemagazin The Daily Beast macht. Die Seite funktioniert ähnlich wie The Huffington Post als professionalisiertes Blog: "Pünktlich und schnell, der Ton ist mal witzig und ironisch, mal ernst und emotional, die Themenauswahl ist eigen und kümmert sich nicht um Vollständigkeit... Seiten wie The Daily Beast sind zwar im blogartigen Ton verfasst, richten sich aber an ein größeres Publikum. Sie bringen Ordnung ins wilde Internet, weil sie sortieren und entscheiden, was im Netz relevant ist und was nicht. 'Read this, skip that' heißt der Claim. 'Wir sind wie der Freund, der immer alles mitkriegt, immer die besten Geschichten hört und einem die Links mit einem geistreichen Kommentar weiterleitet', sagt Brown in einer Einführung auf der Website." Willkommen im Club!

Weiteres: Nach der New Yorker Premiere von Bryan Singers Stauffenberg-Film "Operation Walküre" macht sich Cristina Nord ein paar grundsätzliche Gedanken über Filme zu historischen Ereignissen. Dietmar Kammerer schwärmt von Baard Owe, einem der profiliertesten Schauspieler Norwegens, der die Hauptrolle in Bent Hamers Film "Ohorten" über einen Lokomotivführer spielt. Besprochen werden der neue Film von Claude Miller "Ein Geheimnis" und DVDs der Filme von Robert Brankamp.

Hier Tom.

FR, 18.12.2008

In Times mager berichtet Harry Nutt, dass Franco Stellas Entwurf fürs Berliner Schloss aus Kostengründen ein wenig gestutzt werden muss und hier und da einige Portale oder Höfe gestrichen werden. Arno Widmann verbeugt sich vor dem Großkritiker Joachim Kaiser, der heute achtzig wird.

Besprochen werden Bent Hamers Lokführerfilm "O'Horten", Claude Millers Film "Ein Geheimnis", die Minimalismus-Ausstellung in den Berliner Kunstwerken, Elliott Sharps und Bernhard Langs Komposition "War Zones" auf CD, Durs Grünbeins Band "Der cartesische Taucher" ("Ein schöneres Geschenk kann man sich kaum machen", schwärmt Arno Widmann), Eliot Weinbergers Essays "Das Wesentliche" und Biografisches zu Nurejew und Carlos Acosta (mehr 1b 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 18.12.2008

Die Berliner Philharmoniker übertragen ihre Konzerte künftig live und in bester TV- und Klangqualität im Internet, für zehn Euro pro Konzert, berichtet Manuel Brug: "Keiner weiß, wie dieses Projekt angenommen wird. Natürlich haben auch schon andere Orchester Konzerte per Livestream gesendet, aber nie in dieser Qualität und diesem Ausmaß, die die Konserven für jede Art der künftigen Verwertung kompatibel machen. Die wiederum will das Orchester künftig selbst in die Hand nehmen - klar dass die EMI, mit der man gerade wieder einen fünfjährigen CD-Vertrag abgeschlossen hat, davon nicht begeistert ist."

Weitere Artikel: Wieland Freund greift Berichte um Jugendliche auf, die wegen ADS-Medikamenten Selbstmord begangen haben und fragt, ob Mediziner und Eltern bei der Verabreichung dieser Medikamente der Devise "Karriere statt Charakter" folgen. Eckhard Fuhr kommentiert die Meldung, dass beim Wiederaufbau des Berliner Schlosses gespart werden muss. Springer-Chef Mathias Döpfner höchstselbst gratuliert Joachim Kaiser zum Achtzigsten. Und Peter Zander unterhielt sich mit Heinrich Breloer über seine "Buddenbrooks"-Verfilmung.

Auf der Filmseite bespricht Timo Zenker Til Schweigers neuen Film "1,5 Ritter", was insofern bemerkenswert ist, als es gar keine Pressevorführung gab, weil Schweiger auf Kritiken gern verzichtet. Hanns-Georg Rodek und Gerhard Midding liefern den Hintergrund: Immer mehr Produzenten wollen ihre Filme an der Presse vorbeimogeln. Und die Redaktionen stehen vor der Frage, wie sie damit umgehen sollen: "Sie zu ignorieren, ist ein naheliegender Impuls. Ersatzweise auf Porträts oder Interviews zurückzugreifen, spielt nur den Wünschen der Verleiher in die Hände. Beide Alternativen düpieren die Erwartungen ihrer Leser, die ein legitimes Bedürfnis nach kritischer Geschmacksbildung haben. Bleibt wirklich nur die Möglichkeit, sich wie bei den 'Rittern' auf verschlungenen Wegen gegen den Willen der Produzenten einen Blick auf den Film zu verschaffen?"

Auf der Forumsseite schreibt Matthias Kamann über einige neuere Dokumentationen zu aktiver Sterbehilfe, die auch sterbende Menschen zeigen.

NZZ, 18.12.2008

Der Markt für zeitgenössische Kunst ist vielleicht ein wenig eingebrochen, die Alten Meister aber, der Impressionismus, die klassische Moderne und die Juwelen sind stabil geblieben, erklärt Christian Herchenröder: Denn die Reichen sind schon noch reich geblieben. "Die Insolvenzen der Banken, der Kollaps der Immobilienmärkte, die Kursstürze an der Börse, der Zusammenbruch der Hedge-Funds haben Spekulationsgelder und Ausschüttungen aufgezehrt, aber nicht die Vermögen der Superreichen dramatisch reduziert. Der letzte, im Juni diesen Jahres publizierte 'World Wealth Report' resümiert, dass in den Anlageportfolios der weltweiten Vermögensmillionäre sichere Investments wie Festgeld und festverzinsliche Wertpapiere die Hauptrolle spielen, der Anteil der Immobilien an der Anlagestrategie war schon 2007 von 24 auf 14 Prozent gefallen."

Weiteres: Dass auch Proust-Devotionalien einen soliden Markt haben, weiß Jürgen Ritte zu berichten, der dies auf einer Auktion bei Sotheby's erlebt hat. Besprochen werden Wladimir Makanins Roman "Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe", Georges Canguilhems Studie "Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert" sowie ein Buch die Schweizer Sopranistin Lisa Della Casa.

Auf der Filmseite bespricht Alexandra Stäheli Arnaud Desplechins Weihnachtsfilm "Un conte de Noël, Christoph Egger hat sich Bent Hamers Film "Das neue Leben des Herrn Horten" angesehen.

Aus den Blogs, 18.12.2008

Turi2 zitiert aus einem nur im Print verfügbaren Cicero-Interview mit dem Verleger Alfred Neven Dumont: "Die Frankurter Rundschau will er nach rechts respektive 'in die Mitte' führen. Denn: 'Wer weiterhin eine linke Nische bedienen will, der wird keine lukrative Zeitung entwickeln können.' Bei der FR entsprächen die Ergebnisse 'nicht unseren Prognosen'."
Stichwörter: Cicero, Neven Dumont, Alfred

Tagesspiegel, 18.12.2008

Nach der Krise wird nichts mehr so sein wie es vorher war, meint Peter von Becker, denn so oder so, das Öl wird uns ausgehen, und damit wird die Mobilität sinken: "Fliegen zum Beispiel war auch früher schon ein gewisser Luxus und wird es künftig wohl wieder werden. Im übrigen ist es kein Menschenrecht und keine Menschenpflicht für den Mitteleuropäer, seine Ferien auf Mallorca oder in der Dominikanischen Republik zu verbringen."

Auf der Medienseite schreibt Sonja Pohlmann über neue Unruhe beim Berliner Verlag, wo Redakteure eine Resolution verfasst haben: "Sie wollen wissen, welche Konsequenzen die Kündigungen und Einsparungen bei der Netzeitung und beim Internetauftritt der Berliner Zeitung für die Redaktion haben."

SZ, 18.12.2008

Nicht völlig überraschend für den treuen SZ-Leser ist es nun so weit: Joachim Kaiser wird achtzig. Ganzseitig - mit Fortsetzung weiter hinten - gratuliert ihm Martin Walser und würdigt den Kritiker als Musikschriftsteller: "Das ist das Kaisersche Stilparadox. Die glühende Sachlichkeit. 'Am Klavier', sagt er, 'ist gewissermaßen der Anschlag der Mensch.' Es ist ein erfahrungsgesättigtes Funkeln, dieses Schreiben über aufgeführte Musik. Und es wird immer zur Seelenhandlung. Zum Glück schreibt er auch das Schreiben mit. Wenn er 'wahnwitzige Pianissimo-Oktaven' zu beschreiben hat, dann wissen wir von ihm, dass es 'mehr Arten des Pianissimo gibt als Adjektive, sie zu benennen'."

Weitere Artikel: Stephan Opitz erklärt, warum man die Kunstförderung den Händen des Staates entwinden müsste. Christian Jostmann hat beobachtet, wie hochkarätige KulturwissenschaftlerInnen dem Realen nachjagten, das ihm dabei doch sehr wie das Christkind vorkam: "Hat man den Glauben daran erst verloren, gibt es keinen Weg zu ihm zurück." Jens Bisky und Henning Klüver informieren über "Verfeinerungen" des Stadtschloss-Entwurfs. Bisky war auch dabei, als Karl Schlögel und Durs Grünbein über den Schriftsteller Warlam Schalamow diskutierten. Von Jörg Königsdorf erfahren wir, dass die Konzerte der Berliner Philharmoniker ab dem nächsten Jahr per Live-Stream (Zahlung pro Konzert oder im Jahresabo) im Internet übertragen werden. Christine Dössel berichtet vom Forum des Europäischen Theaters in Nizza. Auf der Kinoseite schildert Rainer Gansera eine Begegnung mit der Filmemacherin Agnes Varda in Stuttgart.

Besprochen werden Rene Polleschs in Wien uraufgeführtes neues Stück "Fantasma", ein Münchner Konzert, bei dem Zubin Mehta Mahlers Fünfte dirigierte, Kanye Wests Album "808s & Heartbreak", die Ausstellung "Interieur / Exterieur. Wohnen in der Kunst" in Wolfsburg, und neue Filme, darunter Neil LaButes Thriller "Lakeview Terrace" und Claude Millers Historienfilm "Ein Geheimnis" und Bücher, darunter Tilman Rammstedts Roman "Der Kaiser von China" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 18.12.2008

Karen Krüger teilt mit, dass bereits mehr als zehntausend Türken die im Internet veröffentlichte Entschuldigung an die Armenier unterzeichnet haben. "Die vielen Unterschriften sind schon jetzt eine Sensation, denn eine lange Tradition zivilgesellschaftlichen Engagements gibt es in der türkischen Gesellschaft nicht. Die Liste zeigt einen Querschnitt durch das türkische Volk: Lehrer, Schüler, Kellner, Krankenschwestern, Journalisten, Ingenieure und Anwälte sind darunter, die meisten von ihnen leben in der Türkei."

Lobpreis zum Achtzigsten für Joachim Kaiser vom Kollegen Gerhard Stadelmaier - aber ganz frei von kritischen Anmerkungen ist das durchaus und durchweg nicht: "Dabei war Kaiser nie konkurrenzlos. Er schreibt ja nicht eigentlich bezwingend brillant oder auch nur durchkomponiert. Man merkt seinen Artikeln das Diktierte, aus Augenblicken Reflektierte, das genial Zuchtlose an. Und manchmal rettet er sich in die Manier von Alfred Kerr, die Absätze mit römischen Ziffern durchzunumerieren - ohne aber Kerrs subjektive Verknappung, aber allemal Kerrs Eitelkeit als eine Vermittlungsform glücklichen Überzeugenwollens zu erreichen."

Weitere Artikel: Kein Verständnis hat Andreas Kilb in der Glosse dafür, dass das Berliner Stadtschloss jetzt an allen Ecken und Enden und Kuppeln kleingespart werden soll ("Hat Wolfgang Tiefensee seine eigenen Worte vergessen? Das Berliner Schloss, erklärte er vor vier Wochen im Gespräch mit dieser Zeitung, dürfe nicht wie das Schloss in Braunschweig aussehen, in dem die Fassade nur noch Dekoration für ein postmodernes Einkaufszentrum ist.") Die Positionen der Parteien zum heute im Bundestag auf der Tagesordnung stehenden Thema Spätabtreibungen kommentiert Oliver Tolmein. Edo Reents berichtet quasi live vom roten Teppich der Galapremiere der Breloerschen Mann-Verfilmung "Buddenbrooks" - über den Film verrät er dabei vor allem, dass er "von einiger Länge" ist. Carolin Pirich war dabei, als sich eine neunte Klasse aus Berlin-Marzahn an der Staatsoper mit Macbeth konfrontiert sah. Niklas Maak porträtiert Andreas Beyer, den künftigen Leiter des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris. Andreas Platthaus teilt mit, dass der Streit um die Leipziger Paulinerkirche weitergeht. Für die Forschung-und-Lehre-Seite hat Andreas Eckert die internationale Tagung der Afrikawissenschaftler in Chicago besucht. Der Kirchengeschichtler und Präsident der Humboldt-Universität Christoph Markschies gratuliert dem Theologen Friedrich Wilhelm Graf zum Sechzigsten. Auf der Jahresend-Kinoseite beschreiben die Kino-Redakteure von FAS und FAZ ihre Filmszenen des Jahres. Verena Lueken zieht einen Strich unters Kino der Bush-Ära. Michael Althen erinnert an die verstorbenen Kinogrößen des Jahrs 2008.

Besprochen werden Christof Nels Inszenierung des "Rosenkavalier" in Hannover, ein Frankfurter Konzert der Punk-Band Sham 69, die Ausstellung "Kirchner in Berlin" im Brücke-Museum, Neil LaButes Rassismus-Thriller "Lakeview Terrace" und Bücher, darunter Manfred Flügges Biografie "Die vier Leben der Marta Feuchtwanger" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).