Heute in den Feuilletons

Die Endfalle

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2008. In der FR warnt Rolf Hochhuth: Wir sollen Russland nicht einfach auf Weisung der Amerikaner ein Drittel seines Territoriums (auch Ukraine genannt) wegnehmen! In der SZ schildert Stefan Weidner die Erfolge der Hamas vor der Bombardierung durch Israel. In der FAZ nehmen David Grossman und Fania Oz-Salzberger Stellung zum Gaza-Krieg. Die Zeit sondiert Poes poetologische Poesitionen. Und wir wünschen allen Perlentaucher-Lesern einen guten Rutsch!

Aus den Blogs, 31.12.2008

(Aktualisierung vom 2. Januar: Auf der Suche nach Informationen zum gemeinsamen Auftritt des französischen Komikers Dieudonne und des Holocaust-Leugners Robert Faurisson haben wir hier am 31. Januar, ohne es zu bemerken, auf eine rechtsextreme Seite namens "The Civic platform" verlinkt, die den Westen als genetisch überlegen ansieht und meint, dass "Rasse Kultur prägt", ein Gedankengut, das der Perlentaucher selbstverständlich verabscheut. Der Auftritt Dieudonnes, der in den auf Youtube kursierenden Videos akustisch kaum zu verstehen ist, wurde hier resümiert, inhaltlich offensichtlich korrekt, aber nicht ohne rechtsextreme Schlagseite wie uns bei einer zweiten, weniger oberflächlichen Lektüre auffällt. Wir entfernen diesen Link, weil er der Seite einen "Google Juice" verschafft, den wir ihr nicht wünschen. Und entschuldigen uns für das aus dem mogendlichen Stress zu erklärende Versehen.)

FR, 31.12.2008

Der Dramatiker Rolf Hochhuth hat sich einige geostrategische Gedanken über die Nato-Osterweiterung gemacht und ist sich mit Helmut Schmidt ganz einig, dass man einer Großmacht - gemeint ist Russland - nicht einfach ein Drittel "ihres europäischen Territoriums" abwirbt - gemeint ist die Ukraine. "Dass Amerikaner ohne Not die Russen lebensgefährlicher herausfordern, als die je seit Hitler bedroht wurden; dass der US-Rüstungsindustrie die Gewissheit bleibt, dieser ihr Wiederaufstieg werde ihr selber keine einzige Fensterscheibe demolieren - ist nur eine Seite der Medaille. Die andere: Kontinental-Europäer können dem nur zustimmen, soweit sie so verrückt geworden sind, einem selbstmörderischen Todestrieb zu folgen - völlig bewusstlos, denn mindestens in Deutschland wird ja nicht einmal gesprochen über die Endfalle, in die wir jetzt auf Weisung Washingtons hineintappen!" Außerdem seien die Ukrainer doch "seit aberhundert Jahren Russen".

Weiteres: Vilnius wird zusammen mit Linz europäische Kulturhauptstadt 2009, doch wie Hannes Gamillschegg berichtet, scheint Litauens drohender Staatsbankrott ein wenig die große Feier zu verderben: Bis zur Hälfte der Gelder sollen gestrichen werden. In Times mager gratuliert Sylvia Staude zum Neunzigsten J.D. Salinger, der Gerüchten zufolge auch 40 Jahre nach seiner letzten Verlffentlichung noch jeden Tag an seiner Schreibmaschine sitzt und schreibt. Ulrich Rüdenauer schreibt zum Tod des Trompeter Freddie Hubbard.

Besprochen werden Jon Avnets Krimi "Kurzer Prozess - Righteous Kill" und Kenneth Bis Martial-Arts-Drama "Die Reise des chinesischen Trommlers.

NZZ, 31.12.2008

Andrea Köhler weiht uns - inspiriert von Bernard Madoff - in die Kunst der Hochstapelei ein, zu deren wichtigsten Regeln etwa gehört, dass jeder Schwindler mehr Leute ruiniert als sein Vorgänger: "Was uns am Hochstapler so fasziniert, ist freilich nicht allein seine Fähigkeit, andere Menschen zu täuschen, sondern vielmehr die Blauäugigkeit seiner Opfer. Der Hochstapler gibt uns das unheimliche Gefühl, dass wir dümmer sind, als wir ahnen. Sind wir nicht irgendwie alle Schuldner eines gigantischen Ponzi-Schemas?"

Außerdem gibt die Redaktion einen zweiseitigen Rückblick auf die kulturellen Highlights des Jahres. Besprochen werden die beiden Gerhard-Richter-Ausstellungen im Kölner Museum Ludwig und im Museum Morsbroich in Leverkusen.

Welt, 31.12.2008

Wieland Freund schreibt zum 90. des amerikanischen Schriftstellers J.D. Salinger. Besprochen werden eine Wikinger-Ausstellung in Speyer, Jon Avnets Film "Kurzer Prozess" mit Robert de Niro (Wer den Film sehen will, sollte diese Besprechung nicht lesen, denn gleich im ersten Satz wird der Mörder verraten! Alle anderen lesen hier), eine Filmbiografie Francoise Sagans (mehr hier) und ein Dokumentarfilm über Christoph Schlingensief, "Die Piloten".

TAZ, 31.12.2008

Anhand drei ausgewählter Exempel - "Obama gewählt, Kapitalismus hin, Haider tot" - bilanziert Robert Misik unter der Überschrift "Ende der Voodoo-Ökonomie" das vergangene Jahr und kommt zu der trockenen Erkenntnis: "Es ist eine stetige narzisstische Kränkung für das vernünftige Subjekt, dass der Eigensinn eines Systems bedeutendere Implikationen für die Weltläufe hat als das bewusste Handeln der Individuen. Aber so ist es, kühl betrachtet."

Außerdem: Die Israelis sollten verhandeln, nicht zurückschießen, glaubt Ulrich Gutmair. Besprochen wird Diane Kurys Film "Bonjour Sagan" über die französische Bestsellerautorin Francoise Sagan.

Und Tom.
Stichwörter: Israelis, Misik, Robert

FAZ, 31.12.2008

Die Redaktion hat den im Jahr 1981 geborenen Schriftsteller Jörg Albrecht gebeten, im Anschluss an Stefan Zweigs (Jg. 1881) "Die Welt von gestern" seine Überlegungen über die Zukunft zu notieren. Der Text heißt "The world of morgen" und auf Zweig nimmt er konsequenterweise gar nicht Bezug. Auf das Netz schon: "Erkennen, dass das, was im Web passiert, nur zeigt, wie Identität funktioniert, immer, und dass für die Menschen der vergangenen Jahrhunderte diese Möglichkeit im Dunkeln blieb, weitgehend... Mark Terkessidis sagt: Eine Gruppe, die sich nicht mehr über eine gemeinsame Vergangenheit, sondern über eine gemeinsame Zukunft definiert. Von meiner Vergangenheit brauche ich nichts, nur, was sowieso gespeichert ist."

In einem Pro und Contra plädiert der israelische Schriftsteller David Grossman für die einseitige Einstellung der gegenwärtigen Kriegshandlungen im Nahen Osten: "Dieses eine Mal sollten wir versuchen, gegen unsere eingeübten Reflexe zu handeln. Gegen die tödliche Logik militärischer Stärke und die Dynamik der Eskalation." Die Historikerin Fania Oz-Salzberger sieht dagegen keinen Grund zur Zurückhaltung: "Zum Schaden ihres eigenen Volkes sind die Hamasführer Haled Mash'al und Ismail Hanieh nicht bereit, Frieden oder Kompromisse einzugehen. Wie ihr Freund, der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad, wollen sie Israel tot. So einfach ist die Sache."

Weitere Artikel: Ute Thiel freut sich, dass wenigstens Herculaneum jetzt einen Mäzen gefunden hat, der, anders als in Pompeji, den rasanten Verfall der ausgegrabenen Stadt verhindert. In der Glosse kommentiert jbm. die Auskunft Claudio Abbados, er werde an die Mailänder Scala zurückkehren, wenn man neunzigtausend Bäume für ihn pflanze. Paul Ingendaay gratuliert dem Autor J.D. Salinger zum Neunzigsten. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazztrompeters Freddie Hubbard. Michael Alten hat einen Nachruf auf die Hollywood-Schauspielerin Ann Savage verfasst: "Savage hatte eine eigene Seite bei MySpace, in der sie ihre Interessen neben der Schauspielerei folgendermaßen zusammenfasste: 'Flying, guns, diamonds. Men, movies, mountains.' Das ist gleichzeitig der Stoff, aus dem ihre Filme gemacht sind."

Besprochen werden nur Bücher, darunter Niccolo Amanitis Roman "Wie es Gott gefällt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 31.12.2008

Auf bisher ungeklärtem Wege ist die Zeit vor allen anderen Medien an die Information gelangt, dass Edgar Allen Poe am 19. Januar seinen 200. Geburtstag feiern würde. Die Feuilleton-Redaktion hat sich in der Weihnachtswoche mächtig ins Zeug gelegt, um eine aktuelle Poe-Spezialnummer zusammenzustellen. Den Aufmacher schreibt Peter Kümmel. Auch Ulrich Greiner versucht, "Poe zu fassen". Evelyn Finger liest noch einmal Poes poetologische Schriften. Katja Nicodemus unterhält sich mit Roger Corman über seine Poe-Verfilmungen. Der Autor Sherko Fatah schreibt eine Liebeserklärung an Edgar Allen Poes Roman "Der Bericht des Arthur Gordon Pym". Jens Jessen erinnert an die Verdienste Baudelaires um Poe. Pia Frankenberg besucht Poes letzte Bleibe in der Bronx.

Im Aufmacher des Literaturteils unterhält sich Susanne Mayer mit der schwedischen Autorin Kerstin Ekman. Und Elisabeth von Thadden bereitet uns innerlich auf Jubiläen des Jahres 2009 vor, die sich im nächsten Jahr gewiss wieder in Zeit-Dossiers auswirken werden.

Im politischen Teil schreibt Josef Joffe den Nachruf auf Samuel Huntington. Im Wirtschaftsteil berichtet Götz Hamann über Bernd Kundruns "Abschied auf Raten" von Gruner und Jahr. Die Wissen-Seiten sagen anlassgemäß "Danke, Darwin".

SZ, 31.12.2008

Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner hat einige Zeit vor den jüngsten Ereignissen den Gaza-Streifen besucht und schildert den Alltag in diesem tragischen Zipfel Land: "Die Machtübernahme der Hamas bedeutete vor allem einen Austausch der Führungseliten, eine Neuverteilung der Posten und Pöstchen. Die neuen Leute sind hoch motiviert und in der Regel gut ausgebildet; die organisatorischen Fähigkeiten der Hamas scheinen beträchtlich. Nach der Machtübernahme ist im Gaza-Streifen trotz des heftigen Widerstandes der Fatah-Anhänger und der weitgehenden Blockade kein Chaos ausgebrochen. Die Mafia-ähnliche Position einiger Familienclans, mit denen sich die Fatah stets arrangiert hatte, konnte die Hamas brechen, und als die aus Westjordanland bezahlten Lehrer von der Fatah aus zum Streik aufgerufen wurden, gelang es mithilfe von Studenten der jetzt zerbombten Islamischen Universität, den Unterricht an den meisten Schulen aufrechtzuerhalten. Dennoch scheint die Hamas nicht sehr beliebt."

Weitere Artikel: Auf der Aufmacherseite versucht die Feuilletonredaktion in kurzen Schnipseln "Ideen, die uns bleiben" aus diesem Jahr auszusieben. Dazu zählen seltsamerweise "alte Experten", wie sie bei Maischberger unken dürfen, aber auch Stimmverfremdungstechniken in der neuesten Popmusik und das E-Book und nicht viel mehr. Karl Bruckmaier schreibt zum Tod des Jazztrompeters Freddie Hubbard.

Auf der Filmseite memorieren Filmkritiker der SZ ihre "Magic Moments" des Jahres 2008. Besprochen wird Diany Kurys' Biopic über Francoise Sagan (mehr hier). Auf der Literaturseite werden "vier Bestseller 2009, denen man es nicht zugetraut hätte" versprochen, seltsamerweise handelt es sich dabei aber um Bestseller des Jahres 2008: "Feuchtgebiete", "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" von Michael Winterhoff, Uwe Tellkamps "Turm" und Richard David Prechts "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" Ijoma Mangold denkt über die Magie der großen Zahl nach. Thomas Steinfeld erzählt eine "kleine Geschichte der meistverkauften Bücher". Und Ijoma Mangold unterhält sich mit dem Verleger der "Feuchtgebiete", Marcel Hartges von Dumont.

Auf Seite 2 resümiert Thorsten Schmitz Reaktionen israelischer Schriftsteller auf den jüngsten Gaza-Krieg. Auf der Medienseite erklärt Marc Felix Serrao, warum David Mongomery mit seinem Mecom-Konzern, zu dem die Berliner Zeitung und die teilabgewickelte Netzeitung gehören, in Kontinentaleruopa auf die Nase gefallen ist.