Heute in den Feuilletons

Nicht jedes Tabu ist falsch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2010. Die Welt sucht nach dem großen deutschen Gegenwartsroman, findet ihn aber nicht. Drei ostdeutsche Intendanten verkraften überdies das Trauma der Wiedervereinigung. Die taz bringt aus diesem Anlass einen Appell von Wissenschaftlern, Künstlern und Publizisten gegen Biologismus und die Ausgrenzung von Migranten. Außerdem plädiert die taz für Sprechverbote. Laut FR bringen die SZ und andere Zeitungen große Anzeigen der Jungen Freiheit, die von der Sarrazin-Debatte profitieren will. In der FAZ weist Thilo Sarrazin den Vorwurf des Biologismus zurück: "Mich interessiert das Zusammenspiel von 'Nature' und 'Nurture'." In der SZ erhofft sich Ingrid Thurner Denkanstöße von muslimischen Feministinnen zum Problem der Sexualisierung unserer Öffentlichkeit.

Welt, 01.10.2010

Die Welt ist heute von Georg Baselitz illustriert. Das hat's noch nie gegeben, heißt es auf Seite 1.

Im Feuilleton fragt sich der abgewanderte FAZ-Redakteur Richard Kämmerlings, welche Great German Novel er einem Amerikaner zur Einführung in die deutsche Gegenwart empfehlen würde. Es fällt ihm keiner ein: "Die Stärken der deutschen Literatur liegen klar zu Tage: Sie finden sich im Historischen, in der Beschwörung des Vergangenen, im mikroskopisch genauen Blick auf das Allerkleinste... Die Kehrseite dieser Recherche-Literatur ist der Hang zum Musealen, zum Archiv, zur Vitrine."

Martin Eich unterhält sich mit drei ostdeutschen Intendanten über zwanzig Jahre Einheit, und einer von ihnen, Sewan Latchinian, hat das Trauma bis heute nicht verkraftet. "Mit der Wiedervereinigung wurden auch emanzipatorische Entwicklungen abgewürgt, Lebensläufe entwertet. Das hat Wunden gerissen, die bis heute nicht verheilt sind." Dagegen Tobias Wellemeyer: "Ich habe lange geglaubt, die Mehrheit in der DDR wäre gegen dieses System gewesen - ich glaube das mittlerweile nicht mehr. Und diese Erkenntnis tut weh." Und Wolfgang Engel: "Ich habe mir eher eine Finnlandisierung der DDR gewünscht, so nach dem Motto: arm, aber redlich, ein Puffer zwischen Ost und West."

Weitere Artikel: Andreas Rosenfelder erzählt, "warum die Karlsruher Hochschule für Gestaltung ein Computerspiel über den Mauerstreifen absagt". Harald Peters und Gerd Midding schreiben die Nachrufe auf Tony Curtis (hier) und Arthur Penn (hier). Wieland Freund meditiert über die Tatsache, dass bei Zweitausendeins zur Zeit Altbestände aus Suhrkamp-Archiven verramscht werden. Und Ulf Poschardt beklagt die Gentrifizierung von Berlin-Mitte.

Auf der Forumsseite erzählt Frey Klier die Geschichte des westdeutschen Arztes Werner Mendling und seiner Frau, die unter dem Pseudonym Luise Endlich ein in den neunziger Jahren viel diskutiertes Buch über Überreste der DDR-Mentalität verfasste - nach zehn Jahren Mobbing in Frankfurt an der Oder zogen sie entnervt nach Berlin.

TAZ, 01.10.2010

Auf ihrer Titelseite dokumentiert die taz einen Appell zum 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung, in dem sich über 400 Wissenschaftler und Künstler - darunter der Politologe Elmar Altvater, Maxim Biller, der Bioinformatiker Roman Brinzanik, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu, alle Namen hier - gegen "die Ausgrenzung von Migranten" und "Kosten-Nutzen-Erwägungen" bei der Einwanderungspolitik wenden. "Integration heißt, dass man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, bevor sie gleichberechtigt dazugehören. Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist eine Feindin der Demokratie."

Auf der Meinungsseite erklärt uns Daniel Bax die zivilisierende Wirkung von Tabus: Die deutschen Rassisten dürften nicht salonfähig gemacht werden. Selbst beim Spiegel "zeigte man sich zuletzt ganz erschrocken über die 'sarrazinsche Schlammflut' im Internet und den 'Mob', der den Autor bei seinen Lesungen bejubelt."

Im Kulturteil porträtiert Detlef Diederichsen den argentinischen Musiker Axel Krygier. Sonja Eismann freut sich über die Gründung der "female supergroup" Wild Flag, bestehend aus vier Frauen, die alle in der US-amerikanischen Indie-Szene verwurzelt sind. Jenny Zilka würdigt in ihrem Nachruf den Schauspieler Tony Curtis, der im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Diana Aust unterhält sich mit dem Filmemacher Andreas Dresen über die fünfstündige Dokumentarreihe "20xBrandenburg". Steffen Grimberg informiert über einen Relaunch bei der Jungen Freiheit, die dadurch noch ein bisschen "rechtskonservativer" zu werden hofft.

Besprochen wird das Album "Good Things" des Sängers und Rappers Aloe Blacc, das in der Tradition der Sweet Soul Music steht.

Und Tom.

FR, 01.10.2010

Auf der Medienseite erinnert Hannes Gamillscheg an die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen vor fünf Jahren, der Fleming Rose, zuständiger Kulturredakteur von Jyllands-Posten, nun ein Buch gewidmet hat: "Die Debatte habe ihn gelehrt, sagt der Journalist, dass es in der globalen Öffentlichkeit nur zwei Wege gebe. 'Entweder folgt man der Devise: Wenn du mein Tabu akzeptierst, akzeptiere ich deines.' Dann aber könne jede Äußerung verboten werden, da sie jemanden kränke. Er verficht den anderen Weg: 'Darauf bestehen, dass in einer zivilisierten Gesellschaft niemand ein Sonderrecht beanspruchen kann, nicht gekränkt zu werden.' Mohammed-Zeichnung und Holocaust-Leugnung, Religionskritik und Volksverhetzung, alles erlaubt."

Die rechtspopulistische Postille Junge Freiheit versucht sich mit einem Relaunch ins Gespräch zu bringen, berichtet Andreas Förster. Dabei will man von "glücklichen Zeitumständen" profitieren: "Die Sarrazin-Debatte, die Islamophobie, die Sehnsucht nach einer konservativen Partei rechts von der Union." Und dabei helfen ihr genau Kräfte, die sonst gern vor der Gefahr des Rechtspopulismus warnen. Aber bei "einer Werbekampagne mit halbseitigen Anzeigen in der Süddeutschen, der FAZ und anderen überregionalen Zeitungen" sagen diese natürlich nicht nein - oder?

Auf seiner Reise durch Deutschland hat Arno Widmannn hinter Neuötting wieder Sonne gesehen, und das Neandertal. Daniel Kothenschulte schreibt den Nachruf auf den großen Arthur Penn.
Besprochen werden die neueste Produktion des Performance-Duos Gintersdorfer Klaßen "Eleganz ist kein Verbrechen", die CD "Officium Novum" von Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble und Hanns-Josef Ortheils Roman "Die Moselreise" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 01.10.2010

Sieglinde Geisel berichtet von der verdienstvollen und offenbar recht erfolgreichen Arbeit interkultureller Mediatoren an Neuköllns Schulen, deren weitere Finanzierung allerdings offen ist. Jenny Berg erklärt die Vorteile der nun als "historisch informiert" titulierten Aufführungspraxis auch bei Klassik und Romantik. Besprochen wird Luc Bondys Ionesco-Inszenierung "Les Chaises" in Nanterre.

Susanne Ostwald verabschiedet Hollywoods großen Bilderstürmer Arthur Penn. Patrick Straumann liefert den Nachruf auf Tony Curtis, Christoph Egger schreibt zum siebzigsten Geburtstag des Filmemachers Fredi M. Murer.

FAZ, 01.10.2010

Ab heute ist Thilo Sarrazin ein vom Bundesbankamt eher unfreiwillig befreiter Mann - und sitzt als solcher auf der FAZ-Titelseite hinter vielen Büchern am Tisch. Frank Schirrmacher nutzt die Gelegenheit zu einem sehr langen Gespräch über umstrittene Thesen, intellektuelle Gewährsleute und mögliche Konsequenzen von Sarrazins Bestseller. Einig ist man sich - was Wunder - in Sachen demografische Entwicklung, den Vorwurf, er verbreite biologistisches oder eugenisch inspiriertes Gedankengut weist Sarrazin entschieden zurück: "Biologismus meint, dass Soziales auf Biologisches oder meinetwegen Genetisches reduziert wird. Das lehne ich ab. Mich interessiert das Zusammenspiel von 'Nature' und 'Nurture', von Angeborenem und Umweltfaktoren." Und zu den angeblich eugenischen Vorschlägen zur Migrationssteuerung: "Heute betreiben die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien oder Neuseeland eine stark gesteuerte Einwanderungspolitik. Dies führt dazu, dass die Pisa-Ergebnisse der Migranten-Kinder dort über dem Niveau der einheimischen Bevölkerung liegen. Wer für Deutschland eine Einwanderung nach einem qualifikationsabhängigen Punktesystem will, geht in dieselbe Richtung. Mit Eugenik hat das nichts zu tun."

Weitere Artikel: Constanze Kurz weist in ihrer "Aus dem Maschinenraum"-Kolumne auf das Diskriminierungspotenzial neuer Sicherheitstechniken hin, vom neuen Personalausweis bis zu den Nacktscannern. In der Glosse kommentiert Tilman Spreckelsen in einem offenen Brief geäußerte Vorwürfe der Joyce-Erben gegen den Suhrkamp-Verlag, man werde ja wohl über gar nichts mehr informiert, was beim deutschen Joyce-Verlag so läuft. Joseph Croitoru liest in osteuropäischen Zeitschriften Aufsätze über das recht ungebrochene Fortleben alter Macht-, Einfluss- und Denkstrukturen in Slowenien. Vom neuen Schostakowitsch-Festival im sächsischen Gohrisch berichtet Christian Wildhagen. Eduard Beaucamp denkt in seiner Kunst-Kolumne über die venerable Tradition des Künstlermuseums nach. Bei der Verleihung des Eichendorff-Preises an den Schriftsteller Christoph Hein im oberschwäbischen Wangen war Maria Frise zugegen. Verena Lueken schreibt zum Tod des Filmregisseurs Arthur Penn ("Bonnie & Clyde", "Little Big Man"), den Nachruf auf den Schauspieler Tony Curtis hat Michael Althen verfasst.

Besprochen werden ein Konzert von Alison Goldfrapp in Köln, Luc Bondys Pariser Inszenierung von Eugene Ionescos Klassiker "Die Stühle", und Bücher, darunter Georg Kleins Erzählungsband "Die Logik der Süße" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 01.10.2010

"Das gediegene Münchner Bürgertum hat sich schrecklich danebenbenommen", bekundet Peter Fahrenholz nach einem Sarrazin-Auftritt, den das Münchner Literaturhaus veranstaltete: "Da wurde gezischt, gebuht und lautstark dazwischengerufen, wenn die beiden anderen Podiumsteilnehmer, Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingart und der Soziologie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Armin Nassehi, es wagten, Sarrazin zu kritisieren. In der Münchner Reithalle herrschte ein Hauch von Sportpalast."

Ingrid Thurner schließt sich den Forderungen islamischer Feministinnen nach dem Selbstbestimmungsrecht der Frau über den Grad der Verhüllung ihres Körpers in der Öffentlichkeit an und gibt schon einmal die Denkrichtung vor: "Hat schon einmal jemand praktizierende Muslime gefragt, was sie über die allgegenwärtige Nacktheit und zunehmende Sexualisierung vieler Lebensbereiche denken?"

Weitere Artikel: In der Rubrik "Das dreckige Dutzend" stellt Karl Bruckmaier neue, teils entbehrliche Compilations neu aufgetischter Musik aus exotischen Gegenden vor. Helmut Mauro ist nach Tiflis gefahren (wer die Reise bezahlt hat, erfährt man nicht), und bringt einen sehr freundlichen Bericht über den grundrenovierten Konzertsaal und die generelle Kulturentwicklung der georgischen Hauptstadt mit - allerdings muss er auch vom an dessen Geldforderungen gescheiterten Versuch, das New York Philharmonic Orchestra zur Eröffnung einzufliegen, berichten. Zum Tod von Tony Curtis schreibt kurz Susan Vahabzadeh, der längere Nachruf auf den Regisseur Arthur Penn kommt von Tobias Kniebe. 

Besprochen werden Claus Peymanns Mark-Ravenhill-Abend "Freedom and Democracy I Hate You" am Berliner Ensemble ("rührende Unterkomplexität" bescheinigt Peter Laudenbach Inszenierung wie Vorlage), die Londoner Uraufführung von Russell Maliphants Tanzstück "AfterLight", Burhan Qurbanis Debütfilm "Shahada" (mehr) und Bücher, darunter John Darwins Geschichte großer Reiche "Der imperiale Traum" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).