Heute in den Feuilletons

Nach Homers Art

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2010. So richtige Beisterung kommt in den Feuilletons über den Literaturnobelpreis für Mario Vargas Llosa nicht auf. Die NZZ porträtiert ihn als Selbstdarsteller. Die taz findet ihn zu neoliberal. Die SZ nicht kühn genug. Nur FAZ und Welt freuen sich. Außerdem: Die SZ erklärt am Beispiel der Bloggerin Shiva Nazar Ahari, was es bedeutet, im Iran zur "Feindin Gottes" erklärt zu werden. Die Welt porträtiert die Heimatschriftstellerin Maria Beig.

FR, 08.10.2010

Karin Ceballos Betancur schildert den literarischen und den politischen Werdegang des Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa. An der herausragenden Bedeutung insbesondere der frühen Romane besteht für sie kein Zweifel: "'Das grüne Haus' gilt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts. Ebenso virtuos wie experimentell verknüpft Vargas Llosa darin auf unterschiedlichen Handlungsebenen Regionen, Milieus und gesellschaftspolitische Fragen Perus zu einem beeindruckenden Kaleidoskop und löst damit den hohen, in einer eigenen Literaturtheorie formulierten Anspruch der 'novela total', des totalen Romans ein." In einer Times Mager meint Judith von Sternburg: Die Wahl Vargas Llosas war so "naheliegend" war, dass nur wenige darauf wetten wollten.

Weitere Artikel: Arno Widmann unterhält sich mit dem Kirchenhistoriker Hubert Wolf über den Index verbotener Bücher und Wolfs wissenschaftliches Projekt einer Gesamtdarstellung der katholischen Buchzensur von 1542 bis 1966. Einen bestens aufgelegten Alexander Kluge erlebte Harry Nutt beim Suhrkamp-Kritikerempfang auf der Buchmesse. Nicht völlig uneinleuchtend fand Stefan Michalzik, was Rowohlt als sein um multimediale Inhalte angereichertes "Digitalbuch plus" vorstellte. 

Besprochen werden ein Steve-Winwood-Konzert in der Frankfurter Alten Oper, eine Ausstellung über argentinische Comics im Museum für Kommunikation in Frankfurt und Bücher, darunter der Auftakt von Cornelia Funkes "Reckless"-Saga (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 08.10.2010

Auf der Forumssteite porträtiert Eckhard Fuhr die Heimatschriftstellerin Maria Beig, die heute 90 Jahre alt wird: "Als 1982 ihr erster Roman "Rabenkrächzen" erschien, war das, zumindest im deutschen Südwesten, ein literarisches Ereignis. Das Buch kam sofort auf Platz eins der Bestenliste des Südwestfunks. Noch einmal sei Martin Walser zitiert, der das Staunen über dieses Debüt in folgende Worte fasste: '"Rabenkrächzen" ist ein einzigartiges Buch. Ein Buch, als gebe es kein anderes, müsse nie ein anderes geben. Es besteht nur aus Namen und Mitteilungen. Eine Tat nach der anderen. Keine Schilderung, fast kein Erzählen. Nur ein Sagen. Die Autorin ist allen Personen gleich nah. Nach Homers Art. Aber sie stammt überhaupt nicht aus der Literatur. Aber sie ist auch nicht naiv.'"

Im Feuilleton freut sich Marko Martin über den Literaturnobelpreis für Mario Vargas Llosa, einen "erklärten Gegner von Menschenschindern jeglicher Couleur". Martin Eich porträtiert die Schauspielerin Anita Vulesica, die ab heute in dem Stück "Bakunin auf dem Rücksitz" im Deutschen Theater in Berlin spielt. Die Stuttgarter Regierung könnte einiges von Paul Bongatz, dem Architekten des alten Bahnhofs lernen, meint Dankwart Guratzsch, vor allem die Kunst des Ausgleichs. Der Comiczeichner Don Rosa spricht im Interview über seine Arbeit für Disney. Besprochen wird eine Aufführung der Oper "Adriana Lecouvreur" an der Deutschen Oper Berlin.

TAZ, 08.10.2010

Recht zwiespältig fallen die Urteile zum Literaturnobelpreis für Mario Vargas Llosa aus. Mit der politischen Haltung des Neoliberalen, über die Knut Henkel etwas ausführlicher schreibt, kann auch Ralf Leonhard wenig anfangen, lobt aber das Frühwerk und die Tatsache, dass aus den Romanen generell "der schroffe Antikommunismus, der seine Zeitungskommentare durchzieht, nicht herauszulesen ist." Valentin Schönherr hält fest, dass die große Zeit des Autors schon lange vorbei ist: "Das lateinamerikanische Erzählen hat sich seit der 'Boom-Generation' von Marquez & Co stark weiterentwickelt. Die argentinischen Titel auf der Frankfurter Buchmesse zeigen: Der Anspruch, mit 'großen' Romanen die ganze Welt erklären zu wollen, ist vom Tisch. Mit ihm haben auch die großherrlichen Autoren an Einfluss verloren, die ihn hochhielten. Dass mit Vargas Llosa nun ausgerechnet der Dinosaurier dieser Generation ausgezeichnet wird, ist eine bittere Pille."

Weitere Artikel: Julian Jochmaring stellt das bestens in die aktuelle Szene passende Ausgrabungsprojekt "G.I. Disco" der DJs Daniel W. Best und Karsten Grossmann vor, die in einer Compilation die höchst einflussreiche Musik neu präsentieren, die einst in denn Discos der in Deutschland stationierten US-Soldaten gespielt wurde. Auf der Buchmesse bewegt sich Dirk Knipphals in konzentrischen Kreisen von Melinda Nadj Abonji hin zu Alexander Kluge

Besprochen werden in Andreas Hartmanns "Achse der einsamen Geister" neue Platten, von Hildur Gudnadottirs isländischem Cellominimaljazz bis zu Sam Prekops ganz und gar auf den Synthesizer gestützter Postrockverweigerung und Fabian Casas' Erzählungen "Lob der Trägheit gefolgt von Die Panikveteranen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 08.10.2010

Die NZZ ist heute morgen noch nicht im Netz, darum kaum Links.

Ohne große Sympathie porträtiert Uwe Stolzmann den Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa: Zumal in den letzten Jahren habe er fast nur noch "für den Markt" geschrieben und das Zeitgeschehen kommentiert. "Nach jedem Desaster in der spanischsprachigen Welt erhebt er in El Pais die rhetorisch geschulte Stimme, er geißelt, wettert, richtet. Über die Gefahren von Tabakkonsum und Nationalismus sinniert er ebenso wie über das globale Dorf - Mario Vargas Llosa, ein begnadeter Selbstdarsteller. Zeitlebens hat er an seinem Selbstbildnis gearbeitet, hat nicht nur retuschiert, ergänzt, verfeinert, sondern das eigene Porträt hin und wieder mit kräftigem Strich auch gänzlich übermalt. Nun endlich bekommt er den höchsten Preis. Andere, herausragende Autoren des Subkontinents erhielten ihn nie. Aber die haben auch nicht so laut getrommelt."

Weitere Artikel: Joachim Güntner schickt Notizen von der Buchmesse. Stefan Hentz erinnert an John Lennon, der vor 30 Jahren ermordet wurde. Alfred Zimmerlin hörte Werke von Oscar Bianchi und Iannis Xenakis beim Musica-Festival in Straßburg.

Besprochen werden Jochen Heckmanns Choreografie des "Sommernachtstraums" in Luzern und eine Ausstellung über Vorarlberger Architektur in Dornbirn.

SZ, 08.10.2010

Anna Weiß nimmt die Anklage (mehr hier) gegen die iranische Bloggerin Shiva Nazar Ahari, die als Moharebeh, als "Feindin Gottes" zum Tod verurteilt werden sollte, zum Anlass, den Hintergrund dieses - auch unter den iranischen Geistlichen - umstrittenen Paragrafen zu erzählen: Ajatollah Khomeini erließ kurz vor seinem Tod eine Fatwa, wonach jede Kritik an Irans geistiger Führung mit "Kampf und Feindschaft gegen Gott" gleichzusetzen ist. Und der Ajatollah Mesbah Yazdi, Berater Ahmadinedschads, "erklärte in einer Rede Anfang September, dass Personen, die gegen die gewählte Regierung kämpfen, Gottesfeinde sind: 'Wenn sie offen auf den Straßen demonstrieren und krakeelen, oder wenn jemand mit Waffen hantiert, gibt es keinen Raum mehr für Ratschläge.'" Im Fall von Shiva Nezad Ahahri gelang es der Verteidigung, dass der Anklagepunkt fallen gelassen wurde und das Urteil jetzt lautet: "6 Jahre Gefängnis und 74 Peitschenhiebe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, Zusammenrottung und Propaganda gegen das System." (mehr hier)

Lothar Müller würdigt den neuen Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa und gibt zu verstehen, dass dieser unter den lateinamerikanischen Autoren vielleicht nicht die beste Wahl war. "Er gehört zu den Autoren, die die Wege, die sie beschildern, dann doch nicht gehen. Er hat in 'Die ewige Orgie' (1975) eine Hommage auf Gustave Flaubert geschrieben, sich dann aber von dessen asketischem Prosa-Ideal verabschiedet. Er hat Juan Carlos Onetti gelobt, ohne ihm in die Regionen der Bitterkeit und Finsternis allzu weit zu folgen. Und sein Beitrag zum Genre des Diktatorenromans 'Das Fest des Ziegenbocks' (2000) über den General Trujillo und die Dominikanische Republik von 1961 verzichtet auf die formalen Kühnheiten" eines Gabriel Garcia Marquez oder Augusto Roa Bastos.

Weitere Artikel: Peter Burghardt schildert die politischen Wandlungen und den "Rechtsruck" des Nobelpreisträger, der vom glühenden Anhänger zum scharfen Kritiker Fidel Castros wurde und auch an Hugo Chavez nichts Positives findet. Der Staat Bayern hält sich mit einem verwaltungsrechtlichen Trick bei seinen eigenen Museen für restituierte Kunst schadlos, berichtet Ira Mazzoni. Jonathan Fischer befragt Ice Cube zu seiner neuen CD: "Werden Sie alt?" Antwort: "Hören Sie, ich bin jetzt 41 Jahre alt, erwarten Sie da ernsthaft, dass ich Musik für junge Clubgänger produziere? ... Ein junger Sänger könnte kaum die Gefühle eines gereiften B-Boys oder B-Girls ausdrücken, deshalb übernehmen das wir Veteranen."

Besprochen werden die Ausstellung "Typisch! Klischees von Juden und Anderen" im Jüdischen Museum München, Thomas Arslans Film "Im Schatten" (Lob von Fritz Göttler), Robert Lepage und James Levines "Rheingold", der erste Teil des neuen New Yorker Ring (dem Stephan Speicher eine kritische, aber viel interessantere Besprechung als die NYT widmet), die Ausstellung "Weltenwandler. Die Kunst der Outsider" in der Frankfurter Schirn und Bücher, darunter Philipp Meyers Roman "Rost" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 08.10.2010

Der Nobelpreis für Mario Vargas Llosa wird auf der Titelseite von Felicitas von Lovenberg und im Feuilleton viel ausführlicher dann noch von Paul Ingendaay begrüßt. Ingendaay feiert die Wahl nicht zuletzt als Triumph des "leuchtenden Aufklärers" bzw. auch des politischen Autors als Antirevolutionär: "Was er herausgefunden hat, war zweierlei: erstens, dass sich der lateinamerikanische Kontinent mit der Utopie eines revolutionären Wegs (Castro oder Chavez, der Name spielt keine Rolle) selbst zugrunderichten würde; und zweitens, dass jeder Schriftsteller, der diese Utopie mitträumt und in seinen Schriften verteidigt, sich mitschuldig macht." Unter den weiteren Stimmen die Daniel Kehlmanns, der Vargas Llosa lang schon bewundert und vor Freude fast platzt: "Eine bessere Wahl wäre nicht möglich gewesen."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube glaubt, dass Hans-Ulrich Wehlers (teilweise) Verteidigung von Thilo Sarrazins Buch (in der Zeit) die SPD in "fast unlösbare Argumentationsschwierigkeiten" bringen dürfte. Ein im Netz nicht genannter Autor erklärt dagegen, warum die Rede von "Tabus", die es zu brechen gelte, bei Sarrazin & Anhängern ein interessegeleiteter Unsinn ist. Gina Thomas stellt ein nun im Nachlass des Schriftstellers Ted Hughes entdecktes Gedicht über die letzten Tage seiner Frau Sylvia Plath vor. Am Beispiel eines aktuellen Falles schildert Julia Voss die Absurdität, dass bayerische Museen, die unrechtmäßig in ihren Besitz gelangte Werke restituieren, diese nicht nur (versteht sich) verlieren, sondern dem Staat den Geldwert noch obendrauf ersetzen müssen. In der Glosse macht sich Andreas Kilb über die Berliner Lust an der Zwischennutzung im allgemeinen und über die so viel- wie kleinteiligen für den Ex-Flughafen Tempelhof im besonderen lustig. Tilman Spreckelsen freut sich in einer Buchmessen-Skizze, dass das tapfere Island auch in Krisenzeiten wie diesen auf der Messe präsent ist.

Besprochen werden Akram Khans Tanzperformance "Vertical Road" bei der Ruhrtriennale, Thomas Arslans Gangsterfilm "Im Schatten" (mehr) und Bücher, darunter Theodor Buhls Roman "Winnetou August" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).