Heute in den Feuilletons

Wir brauchen totale Sanktionen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2010. In der taz lässt sich Gabriele Goettle erzählen, wie man als 67-Jährige mit 287 Euro Rente und vier Putzjobs über die Runden kommt. Junge libanesische Literatur interessiert sich nicht mehr für Politik, berichtet die NZZ. Mit Bhutan geht's aufwärts, meldet die Architektin Ingeborg Flagge in der FR: Jetzt haben auch buddhistische Mönche ein Handy. In der SZ fordert die weißrussische Kulturszene von der EU totale Sanktionen gegen die Regierung Lukaschenko. In der FAZ erklärt Daniel Bayaz, warum die "Mehmet-Scholl-Türken" nicht über Integration debattieren wollen.

TAZ, 27.12.2010

Gabriele Goettle erzählt vom Arbeitsleben einer 67-Jährigen, die sich mit 287 Euro Rente und diversen Putzjobs über Wasser hält. So fängt es an: "Eine kleine Vorbemerkung: Noch nie musste ich nach einer geneigten Person so lange suchen wie dieses Mal. Ich erhielt eine Absage nach der anderen, keine der Frauen mit kleiner Rente und Überlebensjob wollte sich öffentlich zu ihrer Misere erklären. Armutsrentnerinnen sind so zahlreich wie verschwiegen. Sie führen ein Schattendasein, mitten in unserer Gesellschaft. Schon die Tatsache, dass man sie überhaupt darauf anspricht, löst tiefes Erschrecken aus. Das kann ja nur bedeuten, dass man es ihnen ansieht. Eine 75-jährige Berlinerin, die frühmorgens Zeitungen austrägt, sagte: 'Nee, det könnense verjessen. Ick will nich in die Öffentlichkeit. Den letzten beißen die Hunde!' Als ich schon resignieren wollte, war dann Frau G. zu einem anonymen Porträt bereit, wofür ich ihr sehr dankbar bin."

Weiteres: Der amerikanische Künstler Gregg Gillis alias Girl Talk spricht im Interview über das Recyclen fremder Songs und den Rechtsgrundsatz des "Fair Use". Besprochen werden die Ausstellung von Hans Holbeins "Die Graue Passion" in der Staatsgalerie Stuttgart und Wolfgang Sandners Miles-Davis-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 27.12.2010

Hannes Stein befragt einen Juden, einen Muslim und einen Jesuiten, ob es in ihrer Religion auch was zu lachen gibt. Hanns-Georg Rodek berichtet, was auf Franklin Leonards Black List steht, einer Leider-Leider-Liste mit Filmen, die in diesem Jahr nicht gedreht wurden. Johny Erling erzählt, wie enorm populär Chopin in China ist.

Besprochen werden eine Retrospektive zum Werk des Fotografen Dirk Reinartz im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen und einige CDs.
Stichwörter: China

NZZ, 27.12.2010

Mona Naggar wirft einen Blick auf die junge libanesische Literatur, die sich offenbar von politischen Themen abgewendet hat: "Vertreter der jüngeren Schriftstellergeneration haben nicht mehr die Gesellschaft als Ganzes im Blick; Themen wie die Unterdrückung der Frau, gesellschaftliche Brüche und die Nachwirkungen des Bürgerkrieges, die noch allerorten spürbar sind und das Land prägen, treiben sie offenbar nicht mehr um. Samira Aghacy diagnostiziert eine Art Flucht in überschaubare, individuelle Welten; die Literaturschaffenden produzieren Schnappschüsse von Menschen, die ebenso gut auch in New York oder Delhi entstanden sein könnten."

In einem Hintergrundartikel schildert Marcia Pally eine neue Strömung von liberale Evangelikalen, die sich gegen theokratische Gesellschaftsmodelle sperren und auf progessive Traditionen des 18. Jahrhunderts zurückgreifen: "Die individualistische Prägung des Glaubens machte die Evangelikalen zu Verfechtern einer antielitistischen, antiautoritären, wirtschaftspolitisch populistischen Position und zu aktiven Kämpfern für die Rechte des 'Mannes auf der Straße'."

Karin Hellwig besucht in Madrid eine Ausstellung zur Malerei des Siglo de Oro aus dem spanischen Großreich im Palacio Real und im Museo del Prado. Florian Coulmas erzählt von seinem digitalen Alltag in Tokio.

FR, 27.12.2010

Die Architektin Ingeborg Flagge war in Bhutan und kann bestätigen, dass Shangri-La in der Moderne angekommen ist: "1972 war das Land eines der ärmsten der Welt. Das hat sich geändert. Die Analphabetenquote ist drastisch zurückgegangen, die einst weltweit höchste Säuglings- sterblichkeit auch. Die Lebenserwartung ist seit 1982 von 43 auf 66 Jahre gestiegen. Es gibt eine kostenlose gesundheitliche Versorge, Internet, Telefon und Fernsehen. Viele Menschen haben ein Handy; im idyllisch gelegenen Kloster Chimi telefoniert der oberste Mönch während einer Zeremonie zu Ehren seiner Gäste laut und lang. Die Moderne scheint Buddha nicht zu stören."

Weiteres: Elke Brüns bilanziert die Anstrengungen des vergangenen Jahres im Kampf gegen die Armut. Daniel Kothenschulte gratuliert Michel Piccoli zum 85. Geburtstag. Judith von Sternburg liest eine Sammlung von Thomas-Bernhard-Texten "Der Wahrheit auf der Spur" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 27.12.2010

Ingo Petz beschreibt die deprimierende Lage in Weißrussland, wo am 19. Dezember zehntausende Menschen zusammengeknüppelt wurden, als sie gegen den Wahlbetrug Lukaschenkos protestierten. In den darauf folgenden Tagen wurde Hunderte verhaftet, darunter der Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikau und der Dichter und Präsidentschaftskandidat Uladzimir Njeklaev. "Die Kulturszene hält den Dialog mit dem Regime für endgültig gescheitert, fordert härtere Maßnahmen gegen das Regime und kritisiert immer schärfer die EU für ihren diplomatischen Kurs. 'Wir brauchen totale Sanktionen gegen die Regierung Lukaschenko', sagt der Linguist Ljawon Barschtscheuski, 'damit wir die vom Regime genommenen Geiseln alle frei bekommen.'" (Mehr bei Spiegel online und hier ein Video. Die Überwachungstechnologie zum Aufspüren Oppositioneller hat Ericsson geliefert, mehr hier.)

Wenig Vertrauen in die EU setzt auf den vorderen Seiten Robert Amsterdam, Strafverteidiger Michail Chodorkowskis, der den "westlichen Opportunismus" gegenüber demokratiefeindlichen Ländern wie Russland beklagt: "Politiker und Wirtschaftsführer beweisen erstaunliche Einbildungskraft, wenn es um Rechtsstaatlichkeit in Russland geht: Blind vertrauen sie darauf, dass die Institutionen legal und unabhängig operieren, sich an imaginäre Verhaltensregeln halten. Diese Angewohnheit, Gegebenheiten hinzunehmen, ist desaströs für die Menschenrechte."

Der Historiker Hans Mommsen präzisiert seine Einwände gegen die Studie "Das Amt" und kommt dann auf das Vergabeverfahren zu sprechen: Es "bestehen grundsätzliche Bedenken gegen eine um sich greifende Vergabe von Forschungsaufträgen seitens der Bundesministerien an sogenannte 'unabhängige Historiker' wie in diesem Fall. [...] Vielleicht sollte die Bundesregierung sich auf indirekte Forschungsförderung beschränken und es dem Spiel der freien Kräfte der Geschichtswissenschaft überlassen, welche Forschungsgegenstände sie aufzugreifen gedenkt."

Weitere Artikel: Tobias Moorstedt stellt das Vogel-Spiel "Angry Birds" vor, die meistverkaufte App für das Iphone. Wikileaks hat eine Fülle von neuen Enthüllungsplattformen inspiriert, die sich allerdings zumeist noch in der Startphase befinden, berichtet Michael Moorstedt. Adrienne Braun berichtet über ein neues Probenzentrum des Staatstheaters Stuttgart (mehr in der Stuttgarter Zeitung).

Besprochen werden die von Luc Tuymans kuratierte Ausstellung "The Reality of the Lowest Rank" in Brügge, Matthias Hartmanns Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Wiener Burgtheater, einige DVDs und Bücher, darunter eine Biografie des Freiherrn von Ungern-Sternberg mit dem sprechenden Titel "Der blutige weiße Baron" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 27.12.2010

Der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Bayaz erklärt, dass es eine schweigende Mehrheit bestens integrierter Deutscher mit (nicht mehr sehr prägendem) Migrationshintergrund gibt, die über die Sarrazin-Debatte eher desinteressiert als empört den Kopf schüttelt. Bayaz nennt die Vertreter dieser Gruppe die "Mehmet-Scholl-Türken": "Sie haben keine Lobby und sie brauchen keine. Für sie ist nicht wichtig, ob eine Ministerin Özkan oder Müller heißt, solange sie gute Politik macht... Warum überlassen sie der Leitkultur-Multikulti-Achse die Bühne? Weiß die gefühlte Minderheit denn nicht, dass sie eigentlich das Potential zur Meinungsführerschaft hat? Die Mehmet-Scholl-Türken wollen gar nicht das Bild der öffentlichen Diskussion prägen. Die einen debattieren über die Gesellschaft, die anderen haben Besseres zu tun."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann glossiert die sogenannte "Kulturkooperation" deutscher Opernhäuser mit der Bahn, die BahnCard-Besitzern vergünstigten Eintritt in die Aufführungen verschafft. Jordan Mejias blickt in amerikanische Zeitschriften und sieht vor allem Bestenlisten. Die Berliner Wirren um Kürzung der Gelder für das bzw. gar der Abschaffung der Berliner Rundfunkorchester und -chöre GmbH (ROC) schildert Jan Brachmann. In Rolf Dobellis "Klarer Denken"-Reihe geht es heute um die Tücken von Anreizsystemen.

Besprochen werden eine Düsseldorfer Wiederaufführung mit gealterten Figuren von Botho Strauss' im Jahr 1975 entstandenem Stück "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle", die Ausstellung "Thomas Lawrence, Regency Power and Brilliance" in der National Portrait Gallery in London, und Bücher, darunter Benoit Peeters bislang nur auf französisch erschienene Derrida-Biografie und mehrere Übersetzungen aus dem Werk des slowenischen Autors Boris Pahor (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).