Heute in den Feuilletons

Der Irrtum als Weg

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2011. Abschied von Christa W.: Arno Widmann erinnert sich in der FR an ihre Kassandra-Vorlesungen Anfang der achtziger Jahre in Frankfurt: "Niemand konnte sich diesem Sog entziehen. Es war ganz klar." Frauke Meyer-Gosau (taz) fehlte zuletzt ihre Stimme im Chor der achtzigjährigen Stimmführer Habermas, Enzensberger, Walser. Tilman Krause erinnert in der Welt an die schmerzhafte Debatte um ihre Stasi-Akte, die ihre Stimme verstummen ließ. Lothar Müller schreibt in der SZ über die kranken Frauen in ihrem Werk.

FR/Berliner, 02.12.2011

"Ich liebte Christa Wolf", schreibt Arno Widmann und erinnert mit einem Rückblick auf ihre Frankfurter Kassandra-Vorlesungen Anfang der Achtziger daran, was Christa Wolf einmal bedeutet hat: "So viele Frauen hatten wir in der Universität noch nie zusammen gesehen. Die Frankfurter Kassandra-Vorlesungen waren auch ein Moment, in dem die Frankfurter Studentinnen erkannten, dass sie keine kleine Minderheit waren. Es war ein Augenblick der Bewusstwerdung. Nicht erst durch das Zuhören und durch das Nachdenken über das, was Christa Wolf vortrug über die Jahrtausende alte Zurückdrängung der Frauen aus dem öffentlichen, aus dem politischen, aus dem geistigen Leben, sondern schon durch das bloße Dabei sein. Niemand, der in einer der vier Vorlesungen war, konnte sich diesem Sog entziehen. Es war ganz klar."

In einem ausführlichen Nachruf würdigt Volker Müller die sich stets selbst befragende Christa Wolf.

Weiteres: Robert Kaltenbrunner denkt über das Verhältnis von Form und Zweck in der aktuellen Architektur nach. Besprochen werden eine Ausstellung über das Neue Bauen im Palästina der dreißiger Jahre, eine Schau des Bildhauers Thomas Rentmeister im Kunstmuseum Bonn und Eran Riklis' Film "Die Reise des Personalmanagers".

TAZ, 02.12.2011

Als "Kulturdenkmal" ehrt die die taz Christa Wolf auf der Titelseite und widmet der verstorbenen Schriftstellerin gleich vier Nachrufe. Frauke Meyer-Gosau würdigt ein Lebenswerk, das "unsere höchste Achtung verdient" und vermisste zuletzt Wolfs Stimme im Konzert der inzwischen 80-Jährigen, "deren Einlassungen zum Zustand der Republik, Europas oder des Glaubens öffentlich am meisten Gehör finden: Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser". Anja Maier erinnert sich an die Bedeutung, die die Lektüre ihrer Bücher in der DDR für sie hatte, und an den ernsten Witz ihrer Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Bettina Gaus, deren Eltern mit dem Ehepaar Wolf eng befreundet waren, erinnert sich an den "unprätentiösesten Menschen, dem ich je begegnet bin. Bescheiden, uneitel, redlich." Susanne Messmer erinnert sich an die Rezeption von Christa Wolf an den Westunis in den Achtzigern: "Christa war cool. Sie war Avantgarde, auch im Westen. Der malträtierte Körper der Frau ist es, das Echte und das Eigene, das an Christa Wolfs Werk so in den Bann schlug. "

Weiteres: Katrin Bettina Müller unterhält sich mit dem finnischen Regisseur Kristian Smeds, der mit seiner Performance "12 Karamasows" nach Dostojewski Gast auf dem Nordwind Festival in Berlin und Hamburg ist, über die Krisenangst in Europa: "ein langweiliges Stück, von gut bezahlten Politikern gespielt". Christian Werthschulte porträtiert das 1997 gegründete Kölner Elektroniklabel Sonig, das jetzt ein Boxset mit Various Artists herausbringt, als "ein Label mit langem Atem, im besten Sinne anachronistisch".

Und Tom.

Welt, 02.12.2011

Tilman Krause erinnert an die hohe Zeit von Christa Wolfs Ruhm in den achtziger Jahren und an das, was danach kam: die bittere Debatte um "Was bleibt" und ihre im Grunde unbedeutende IM-Akte: "Vergeblich verwiesen sie und andere darauf, dass sie in ihren Berichten niemandem geschadet habe und dass die Behörden bald so unzufrieden mit 'IM Margarete' wurden, dass sie begannen, diese selbst zu überwachen. Ein Denkmalssturz sollte inszeniert werden, und es trat dabei jene Lust an der Demaskierung zutage, von der Fritz J. Raddatz einmal schrieb, in einem Land, das mit sich im Reinen ist, verbiete sich dergleichen eigentlich schon aus geschmacklichen Gründen von selbst."

Weitere Artikel: Marc Reichwein spießt in seiner Feuilletonkolumne Thor Kunkels Feuilletonistinnen-Beschimpfung "Occupy the Feuilleton" auf. Dankwart Guratzsch erzählt, "wie linke Fundamentalisten und bürokratische Zauderer den Wiederaufbau der Leipziger Paulinerkirche verhunzten". Und Manuel Brug unterhält sich mit dem Jazzer und Filmkomponisten Michel Legrand, dessen Ballett "Liliom" am Sonntag unter John Neumeier in Hamburg uraufgeführt wird.

Tagesspiegel, 02.12.2011

Gregor Dotzauer charakterisiert Christa Wolf: "Ihr ging es immer nur darum, gerade den Irrtum als Weg zu begreifen. Skeptizismus war für sie das beste Mittel gegen die Selbstgewissheiten allen ideologischen Denkens, weshalb sie nicht ohne Hoffnung blieb, dass es auch ein richtiges Leben im falschen geben könne, weil viele richtige Leben ja auf Dauer in der Lage sein müssten, das umfassend Falsche zu korrigieren."
Stichwörter: Wolf, Christa

NZZ, 02.12.2011

Martin Krumbholz schreibt zum Tod Christa Wolfs: "Die Texte der Christa Wolf berühren umso nachhaltiger, je persönlicher sie sind: Das gilt für 'Christa T.' und 'Kindheitsmuster', aber auch für das Journal 'Ein Tag im Jahr', das über vier Jahrzehnte hinweg jeweils den 27. September dokumentiert, wie für die Poetik-Vorlesungen zur Entstehung der 'Kassandra', die interessanter und lebendiger sind als das in edlen Stein gemeißelte antikisierende Werk selbst."

Roman Hollenstein staunt, wie bedächtig und respektvoll Rem Koolhaas den Neubau der offenbar noch recht solventen Rothschild-Bank in Londons City konzipiert hat. Er lässt sich das aber gern gefallen: "Wie Rogers' Hightech-Juwel lebt auch der minimalistisch-skulpturale Rothschild-Turm von unterschiedlichen Volumen und feinen Proportionen, die - von Westen aus gesehen - im stillen Dialog mit dem Kirchturm von St Stephen Walbrook besonders schön zur Geltung kommen. Die Subtilität von Koolhaas' Bankgebäude zeigt sich aber auch darin, dass es die Kirche schützend zu umarmen scheint, während ein dunkler, an einen plump wabbelnden Pudding erinnernder Neubau von Norman Foster sie von Süden her zu ersticken droht."

Besprochen werden eine Beethovens Sinfonien in einer Aufnahmen mit dem Gewandhausorchester und Riccardo Chailly und ein Pariser Gastspiel des frankokanadischen Kollektivs Les 7 doigts de la main.

SZ, 02.12.2011

Lothar Müller erzählt in seinem Nachruf, wie Christa Wolf das "Thema Krankheit in der Leistungs- und fortschrittstrunkenen DDR" entdeckte: "Die kranken Frauen bei Christa Wolf und Brigitte Reimann waren Gegenbilder zu den - wie man jetzt weiß, gedopten - Spitzensportlerinnen, die mit ihren Medaillen die Weltniveau-Ansprüche der DDR bekräftigten. Über das Ende der DDR hinaus, bis zur Erzählung 'Leibhaftig' (2002) und in die 'Stadt der Engel' hinein ist die Krankheit ein Lebensthema - und ein Motiv der Selbstbehauptung - im Werk Christa Wolfs geblieben." Daneben erinnern sich Künstlerkollegen, darunter etwa Frank Castorf, in kurzen Notizen an Christa Wolf, dokumentiert sind weiterhin knappe Trauerbekundungen von Personen des öffentlichen Lebens.

Weitere Artikel: Tobias Kniebe berichtet vom Filmabend mit Peer Steinbrück bei der Deutschen Filmakademie, wo der SPD-Politiker den Michael Ciminos Vietnamfilmklassiker "Die durch die Hölle gehen" vorstellte. Noch'n Plagiat? Jochen Arntz spricht mit Helmut Kohls Söhnen Walter und Peter Kohl über Heribert Schwans Hannelore-Kohl-Biografie, in der Peter Kohl zahlreiche Übereinstimmungen mit seinem eigenen Buch über seine Mutter entdeckt haben will.

Auf Seite 3 finden wir ein Porträt der Filmverleiherin Olga Papernaja, die derzeit den Chodorkowski-Film in Russland ins Kino bringt - mit bezeichnendem "Erfolg": Es sei "als handele sie mit etwas Anrüchigem, Gefährlichem, als vertreibe sie geklauten Schmuck oder falschen Kaviar. In Moskau hat der Chodorkowski-Film an diesem Freitag Premiere. Eine heikler Zeitpunkt. Nur zwei Tage später, am Sonntag, finden in Russland die Parlamentswahlen statt. Für viele wirkt der Film deshalb wie eine Provokation (...) Am Ende ist außer einer Kunstgalerie nur ein einziges Kino in der russischen Hauptstadt übriggeblieben, das ihn zeigen wird."

Besprochen werden "Wer hat Angst vor Viriginia Woolf?" (mehr) und Elfriede Jelineks "Winterreise" (mehr) am Theater Oberhausen, ein Verdi-Konzert von Christoph Marthaler in Basel und Bücher, darunter Alfred Neven DuMonts neuer Roman "Vaters Rückkehr" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 02.12.2011

Ingeborg Harms würdigt Christa Wolf: "Mochte sie ihren Schreibtisch auch als Foltertisch empfinden, so erwarb sie an ihm doch das Anrecht auf die Rolle einer protestantischen Diva, einer Priesterin im Tempel der höheren Vernunft: 'Einem Menschen, der nicht auffallen will, fällt bald nichts mehr auf. Der entsetzliche Wille zur Selbstaufgabe lässt das Selbst nicht aufkommen.'" Marcel Reich-Ranicki weiß im beigestellten Kurz-Interview nur Gutes über Christa Wolf zu sagen: "Auf jeden Fall ist sicher, dass Christa Wolf eine sehr selbständige Autorin war und von vielen Lesern geschätzt wurde"

Weiteres: Tomasz Kurianowicz hat in Warschau Janusz Palikot besucht, dem mit seiner Protestpartei Ruch Palikota gerade aus dem Stegreif der Eingang ins Parlament gelungen ist. Patrick Bahners erläutert Hintergründe eines Rechtsstreits in der Winckelmann-Gesellschaft, in dem es um die Zusammenarbeit mit Raubgräbern geht. Jan Brachmann berichtet vom "Yeah"-Festival für Musikvermittlung. in Osnabrück. Gina Thomas hat sich im frisch entsubventionierten Tricycle Theatre in London das Stück "The Riots" angesehen, das sich mit den Unruhen im vergangenen Sommer befasst.

Besprochen werden die Ausstellung "Neue Sachlichkeit in Dresden" in der Dresdner Galerie Neue Meister, eine Wald-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin, "Brand", der neue Kinofilm mit Josef Bierbichler, und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).