Heute in den Feuilletons

Eisesbeherrschungsglut

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2012. Die Debatte über Beschneidung geht weiter: Feridun Zaimoglu hat sie als eine idyllische Szene in Erinnerung, die er sich laut FAZ-Interview auch von der Aufklärung nicht vermiesen lassen will. Der Schwulenaktivist der Piraten, Ali Utlu, erzählt in der Siegessäule, was sie für seine Sexualität bedeutet: Er hat Orgasmusschwierigkeiten. Die SZ erkundet die afghanische Filmszene. Der Bayreuther "Holländer" hebt laut übereinstimmender Auskunft der Feuilletons nicht ab. Alle Feuilletons sind bestürzt über den Tod Susanne Lothars.

Weitere Medien, 27.07.2012

Im Siegessäule-Interview mit Christian Mentz spricht der Schwulenaktivist der Piraten Ali Utlu dankenswert konkret über seine Beschneidung mit sieben Jahren, die er als brutalen Akt in Erinnerung hat, und über die Folgen für die Sexualität: "Ich hatte als junger Mann massive Probleme zum Orgasmus zu kommen. Ich kann das ja ruhig offen sagen, ich hatte Probleme einen Orgasmus zu bekommen, wenn mir einer einen geblasen hat. Und wenn das dann immer ewig dauert, dann nervt einen das und das ist auch peinlich. Der Akt ist damit eigentlich kaputt." Mentz fragt: "Wie ist es, wenn man dann noch ein Kondom überzieht?" Antwort: "Das funktioniert gar nicht mehr. Und ich habe in der letzten Zeit bei Facebook viele Zuschriften bekommen, viele Beschnittene sagen mir, dass sie mit Kondom einfach nicht kommen können."

Seltsam verdreht haben sich die Diskursformationen im Streit um die Beschneidung, konstatiert Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen. Aber er sieht's gelassen: "Zu sehr strapazieren wird der Vorhautstreit die Freundschaften auf Dauer nicht. Der Bundestag wird das Problem in guter deutscher Konsensmanier demnächst so regeln, dass Beschneidungsgegner wie -befürworter damit leben können. Falls nicht, setze ich auf den nächsten Nahostkrieg und/oder darauf, dass Günter Grass wieder schlechte anti-israelische Verse absondert. Spätestens dann werden die bewährten Fronten wieder stehen."

Ein Satz von Philip Roth über Beschneidung, zitiert in torchweb.org: "It's hard to understand how serious this circumcision business is to Jews. I asked several of my equally secular Jewish male friends if they could have an uncircumcised son, and they all said no, sometimes without having to think about it and sometimes after the nice long pause that any rationalist takes before opting for the irrational."

40 Jahre nach dem Attentat auf die israelische Olympiamannschaft durch ein palästinensisches Terrorkommando hat der New Yorker E. J. Kahns recht unsentimentalen Livebericht aus dem Jahr 1972 online gestellt.

FR/Berliner, 27.07.2012

Nach dem "Skandälchen à la Nazi-Tattoos" kommt eine Inszenierung, die nun gar kein Skandal ist, schreibt Hans-Klaus Jungheinrich in einer mäßig begeisterten Kritik des Bayreuther "Holländers": "Das Deutungs-Biedermeier hält seinen Einzug." Der Ersatz-Hollädner Samuel Young hat Jungheinrich aber überzeugt: "Die charakteristische Stimme hat in der Tiefe nicht allzu viel zu bieten, setzt sich in der Höhe aber mit präzis metallisch 'gerahmter' Tonprägung durch."

Außerdem schreibt Dirk Pilz zum Tod von Susanne Lothar. Und der Philosoph Ludger Schwarte diagnostiziert eine Gefährung der Demokratie durch immer wilder wucherndes Recht.
Stichwörter: Lothar, Susanne

Welt, 27.07.2012

Ulrich Weinzierl würdigt die mit 51 Jahren gestorbene Schauspielerin Susanne Lothar: "Meist verkörperte sie eine aus der unendlichen Schar der Erniedrigten und Beleidigten, verhehlte dabei jedoch nie, dass in Opfern potenzielle Täter stecken. Das verlieh ihren Gestalten wundersame Ehrlichkeit und Würde, den Anschein eines Rests von Freiheit im Zwang."

Weitere Artikel: In der Glosse informiert Dankwart Guratzsch über einen Streit um die Berliner Gaslaternen: für 4.000 Euro pro Laterne will der Senat sie gegen Elektrolampen auswechseln lassen. Doch Frankfurt und Düsseldorf, die das schon durchexerziert haben, zahlten 11.000 Euro pro Laterne. Francois Hollande hat jetzt anerkannt, so Tilman Krause, was Bernard-Henri Lévy bereits 1981 beschrieb: die französische Verantwortung für die Judendeportationen 1942. Marc Reichwein widmet seine Feuilletonkolumne dem T wie Tattoo - mit Rekurs auf Gabriele Goettles Reportage aus dem Jahr 2007 über ein Tätowierstudio. Eva Munz informiert uns über die Tweets von Bret Easton Ellis. Museumsdirektor Veit Löhrs schreibt den Nachruf auf den Wiener Bildhauer Franz West.

Besprochen werden Jan Philipp Glogers "ein wenig musterknabenhafte", so Manuel Brug, Inszenierung des "Fliegenden Holländers" in Bayreuth und die Ausstellung "Lost Places. Orte der Photographie" in der Hamburger Kunsthalle.

NZZ, 27.07.2012

Der Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland beschert mit der Braunkohle einem anachronistischen Energieträger eine "machtvolle Renaissance", berichtet Joachim Güntner: "Sie liefert zuverlässig Energie zum Wohle der Allgemeinheit, ruiniert mit gravierenden CO2-Emissionen das Klima, setzt Zehntausende in Arbeit, frisst mit ihren wandernden Tagebauen Dörfer und raubt Menschen die Heimat. Man rühmt sie, eine Industrie zu sein, die ohne Subventionen auskommt, indes beansprucht die Beseitigung ihrer Altlasten in hohem Maße Steuermittel. Erdrutsche, Nässeschäden durch wieder steigendes Grundwasser oder heillos vergiftete Flüsse wie Leipzigs Pleiße gehen aufs Konto der Braunkohle."

Weitere Artikel: Seit den sechziger Jahren war Manhattans Lower East Side ein Magnet für Künstler und Musiker, erzählt Christoph Wagner. Wegen dramatisch gestiegener Mieten wandern die Kreativen nun in günstigere Stadtteile aus. Barbara Villiger Heilig schreibt den Nachruf auf Susanne Lothar.

Besprochen werden Jan Philipp Glogers Inszenierung des "Fliegenden Holländers" in Bayreuth (der Peter Hagmann "die Spannung einer Seminararbeit" bescheinigt), eine Ausstellung von Adrien Rovero im Lausanner Designmuseum Mudac und eine Ausstellung über jüdische "Kontingentflüchtlinge" nach dem Ende der Sowjetunion im Jüdischen Museum in München.

TAZ, 27.07.2012

Facebook hat das Titelbild des Zeit Magazins gelöscht, weil darauf ein ein männliches Geschlechtsteil zu sehen ist, berichtet Laura Wösch - was die These des Zeit-Artikels bestätigt, dass die Darstellung des Phallus' tabuisiert ist. Hubert "Hubsi" Kramar, ein "Urgestein" der freien Szene in Wien, schließt sein Theater, informiert Uwe Mattheis. Cristina Nord und Esther Slevogt nehmen Abschied von Susanne Lothar.

Besprochen werden die Bayreuth-Inszenierung des "Fliegenden Holländers" von Jan Philipp Gloger (die Regine Müller "herzlich brav" findet) und das Debütalbum der Londoner Sängerin Lianne La Havas.

Und Tom.

FAZ, 27.07.2012

Gerhard Stadelmaier erinnert sich in seinem Nachruf auf Susanne Lothar an eine ihre letzten Rollen, als "Gurkenkönigin" im "Polizeiruf 110": "Eine bleiche, vor Eisesbeherrschungsglut vibrierende Statue. Voller Gier auf ein höheres, tolleres, wilderes, eigensinnigeres Leben, das nur ihr gehören könnte, wenn die anderen sie ließen. Und in das hinein sie über Leichen gehen würde, wenn andere nicht schneller töteten. Susanne Lothar wirkte da wie eine Klytämnestra des Spreewalds."

Eleonore Büning übt sich nach dem Bayreuther "Holländer" in demonstrativer Rezensionsverweigerung. Vier Sätze, schreibt sie, reichen völlig aus: "Musiziert wird himmlisch vielfältig. Die Szene ist hölzern einfältig. Die Chöre, einstudiert von Eberhard Friedrich, sind eine Wucht. Zwei Sänger ragen heraus", nämlich Benjamin Bruns und Samuel Youn.

Anders als Ali Utlu hat Feridun Zaimoglu seine Beschneidung nicht als Trauma empfunden und erzählt sie eher als eine bukolische Szene: "Es ging blitzschnell; ehe ich mich versah, saß ich auf den Schultern meiner Mutter. Die Verwandten und Freunde klatschten und riefen: 'Vorbei und beendet - gelobt sei Gott!'", erzählt er im Interview mit Eren Güvercin. Und er schimpft auf die Aufklärung: "In einem säkularen Staat dürfen keine Partei und keine Anschauungsschule den Unfrieden wagen. Die Beschneidung ist eine Prophetenvorgabe und damit nicht verhandelbar. Der Gläubige glaubt. Der Liberale biegt und beugt, bis die Gottesliebe zur bloßen Ideentapete verkommt."

Weitere Artikel: Timo John plädiert für die Sanierung und den Erhalt der Böblinger Pirschgänge aus dem 18. Jahrhundert (mehr). Gerhard Stadelmaier schreibt den Nachruf auf Susanne Lothar, Rose-Maria Gropp den Nachruf auf den Künstler Franz West.

Besprochen werden eine Ausstellung über die griechischen Götter in der Glyptothek in München, die Ausstellung "Ghosts in the Machine" im New Museum in New York und Bücher, darunter Zachary Masons Roman "Die verlorenen Bücher der Odyssee" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 27.07.2012

Tim Neshitov schaut sich in der afghanischen Filmszene um und trifft den Autorenfilmer Siddiq Barmak, der mit seinem Film "Osama" 2004 einen Golden Globe gewonnen hatte. Für seinen nächsten Film hat Barmak noch kein Geld gefunden, es soll ein Film über Kinder werden: "'Über Kinder, die sich verloren haben', sagt er. 'Über Kinder, die leben wollen.' Das Budget würde bei 700 000 Dollar liegen, das Drehbuch steht schon. Unweit des US-Stützpunkts Bagram sammeln Kinder die bärtigen Leichen getöteter Taliban. Sie verkaufen sie an die Taliban zurück, damit diese ihre Kampfbrüder bestatten können. Ein zwölfjähriger Leichenhändler liebt ein zwölfjähriges Mädchen. Das Mädchen ist geisteskrank, kriegskrank. Die Großmutter des Mädchens sagt zu dem Jungen: Du bekommst meine Enkelin nur, wenn du mir die Leiche von Mullah Omar bringst. Die Leiche des obersten Talib."

Sehr durchwachsen findet Reinhard Brembeck die aktuelle Inszenierung des "Fliegenden Holländers" von Jan Philipp Gloger auf dem Grünen Hügel: "Das ist der Ausverkauf des Mythos und entsprechend siegen in Bayreuth Kunsthandwerk und Provinz. Kein Wunder, dass das Regieteam kräftig ausgebuht wird, während Sänger und Musiker ein lautstarker Jubel empfängt. "

Weitere Artikel: Der Comiczeichner Reinhard Kleist verrät Christoph Haas im Gespräch, wie er von der Lebensgeschichte des jüdischen Boxers und Auschwitzüberlebenden Hertzko Haft erfuhr, über den er gerade eine (von Gottfried Knapp besprochene) Graphic Novel veröffentlicht hat. Petra Steinberger erfährt bei Psychologen, dass Menschen, die sich aus politischen Gründen in der Öffentlichkeit anzünden, "bereits latent suizidal und depressiv sind". Franziska Brüning stellt das - ihrer Ansicht nach reichlich konventionelle - Konzept für das geplante Münchner NS-Dokumentationszentrum vor, mit dem der neue Direktor Winfried Nerdinger das lange brach liegende Projekt voranbringen will. Burkhard Müller liest in der neuen Ausgabe von Sinn und Form Kulturkritisches über das Lesen im digitalen Zeitalter. Catrin Horch schreibt den Nachruf auf den Künstler Franz West. Christine Dössel nimmt Abschied von der großen Schauspielerin Susanne Lothar.