Heute in den Feuilletons

Da steht ein vollkommen hoffmannsches Haus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2013. Die EU könnte sich das Parlament des Habsburger Reichs zum Vorbild nehmen, empfiehlt Timothy Snyder in der NZZ. In der Abendzeitung vergießt Joseph von Westphalen Tränen der Entscheidungsschwäche. Die taz hält Rückschau auf die Verblichenen der letzten zwölf Monate. Die SZ stößt bei einer Reportage über die Porno-Abmahnwelle auf mauernde Anwälte und Schweizer Briefkastenfirmen. In der FAZ erinnert Olga Martynova an Ossip Mandelstams Studienzeit in der Puppenstadt Heidelberg.

NZZ, 21.12.2013

So wie Christopher Clark in seiner Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, bricht auch Timothy Snyder in einem Essay, den die NZZ aus der IWM-Zeitschrift übersetzt, mit der offenbar weit verbreiteten angelsächsischen Verachtung für das Habsburgerreich. Es sei ein auf Kompromiss begründetes Imperium gewesen, von dem die EU einiges lernen kann (so wie von seinem Zusammenbruch, meint Snyder). Eins der Vorbilder war sein Parlament: "Wenn man vom Ausschluss der Frauen absieht, war es ein unglaublich repräsentatives Parlament. Zum Vergleich: Als Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkriegs seine berühmte Rede über das 14-Punkte-Friedensprogramm hielt, gab es im amerikanischen Kongress keinen einzigen schwarzen Abgeordneten. Im österreichischen Parlament dagegen war jede einzelne Nationalität präsent."

Weiteres in Literatur und Kunst: Geneviève Lüscher besucht eine Straßburger Ausstellung mit Memorabilien aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Besprochen werden einige Bücher zum Ersten Weltkrieg, darunter der schon erwähnte Band von Christopher Clark, und Stevenson-Neuübersetzungen.

Fürs Feuilleton begutachtet Roman Hollenstein immer neue Wolkenkratzer in Dubai. Besprochen wird außerdem eine Wiederaufnahme von Maurice Béjarts "Sacre"-Choreografie in Lausanne.

Weitere Medien, 21.12.2013

Heute beweint Joseph von Westphalen in seiner Kolumne für die Abendzeitung mit Augustinus auf einem Gemälde des Meisters von Uttenheim seine Entschlusslosigkeit: "Wie Augustinus da mit ausgestreckten Armen flach auf dem Rasen liegt und ihm die Tränen der Entscheidungsschwäche aus den Augen kullern, das drückt überzeugend aus: Vergib mir, ich leide unter einer Geschenk-Entscheidungsschwäche."

TAZ, 21.12.2013

Sehr nekrologisch gibt sich die heutige taz am Wochenende mit ihrer Rückschau auf die Verblichenen der letzten zwölf Monate. Zu den unterhaltsameren Texten in diesem Zusammenhang zählt Annabelle Seuberts Reportage über eine Fahrt nach Brandenburg, die, soweit eben möglich, der Route der beiden Jungs aus Wolfgang Herrndorfs Roadmovie-Roman "Tschick" folgt. Eine Reise, die bald richtig verwegen wird: Seuberts Begleitung David "findet, wir müssen wie die im Buch was Illegales tun ... Als nächstes fotografiert er das Waldwegschild mit dem durchgestrichenen Auto und schiebt eine Schranke beiseite, muss wohl eine Beiseiteschiebeschranke sein, und dann treffen wir auf Matsch. Links taucht eine versteckte Industrieanlage auf, die irgendwie gar nicht mehr aufhört und bis zu der Betonwand reicht, auf die wir stoßen, und bis zu der Betonwand sind wir uns auch sicher, dass das jetzt der ganz große Coup wird, weil wir es hier mit einem Crystal-Meth-Labor zu tun haben." Wobei sich das mutmaßliche Drogennest dann doch nur als Kleingartenkolonie entpuppt.

Ansonsten eine Auswahl: Felix Zimmermann unterhält sich mit Inge Jens, der Witwe des Philologen Walter Jens, über dessen letzten Lebensjahre. Waltraud Schwab erinnert hier an die 1981 gestorbene Künstlerin Gertrude Sandmann, sowie hier an den Schauspieler Otto Sander. Peter Unfried schreibt über den Fußballer Ottmar Walter, der die deutsche Nationalmannschaft 1954 mit zum Weltmeistertitel kickte. Christoph Braun verabschiedet sich von der Popsängerin Almut Klotz, Udi Shayshon sich vom israelischen Rockmusiker Arik Einstein.

Außerdem stellt Claudia Borchard-Tuch den technischen Fortschritt im Bereich des E-Papiers vor. Cristina Nord unterhält sich mit Jim Jarmusch über Vampire und seinen neuen Film "Only Lovers Left Alive", der kommende Woche startet. Robert Matthies empfiehlt das Hamburger Jahresausklangfestival für experimentelle und elektroakustische Musik.

Besprochen werden die Ausstellung "Hitlers Schreibtischtäter" in Berlin und Bücher, darunter Maxim Billers Novelle "Im Kopf von Bruno Schulz" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 21.12.2013

"In allen Darstellungen blieb er stets ein junger Mann. Es schien, als habe es ihn immer schon gegeben und als stehe er über Zeit und Geschichte, wie ein Gott" - und zwar in allen Winkeln seines Reichs." Höchst instruktiv für die Geschichte politischer Inszenierung ist die große Augustus-Ausstellung in Rom, findet Thomas Schmid: "Die Ausstellung präludiert die im kommenden Jahr anstehenden Feierlichkeiten zum 2000. Todestag des Imperators. In ihrer thematischen Engführung setzt sie sich radikal von der bisher letzten großen Augustus-Ausstellung in Rom ab. Diese fand 1937 zum 2000. Geburtstag des Herrschers statt und nahm Augustus dreist, aber nicht ungeschickt, für Mussolinis Kolonialpolitik in Afrika in Dienst."

Weiteres: Tim Ackermann geht mit dem Künstlerduo Michael Elmgreen und Ingar Dragset, die vom angesagten Berlin ins finanziell ansprechendere London umgezogen sind, im Gastropub York & Albany unweit des Regent's Park essen. Besprochen wird Frank Castorfs Dramtisierung von Balzacs Roan "La Cousine Bette" in der Volksbühne.

In der Literarischen Welt stellt Berthold Seewald Werner Dahlheims Studie über die Welt zur Zeit Jesu vor. Inga Pylypchuk unterhält sich mit dem Niederländer Herman Koch über seinen Roman "Odessa Star". Sascha Lehnartz porträtiert David Foenkinos. Und Wieland Freund erzäht eine Weihnachtsgeschichte für Kinder.

Besprochen werden weiter Bernie Krauses Buch "Das große Orchester der Tiere - Vom Ursprung der Musik in der Natur", Brigitte Kronauers Roman "Gewäsch und Gewimmel", eine Neuübersetzung von Thackerays "Barry Lyndon" und Alfred van Cleefs Reisereportage "Die verborgene Ordnung - Eine Reise entlang des Nullmeridians".

SZ, 21.12.2013

Auf Seite Drei versucht Johannes Boie Licht ins Dickicht der Redtube-Abmahnwelle zu bringen, stößt aber auf mauernde Abmahnanwälte und die verschlossenen Türen der Schweizer Briefkastenfirma The Archive. Bei den Programmierern Justus Wingert und Sven Krohlas erfährt er mehr darüber, wie es den Abmahnern gelungen sein könnte, an die nötigen IP-Nummern gekommen sein könnten: Sie sind "davon überzeugt, dass abgemahnte Nutzer gezielt auf die urheberrechtlich geschützten Filme geleitet worden seien - ohne dies zu wollen und im Zweifel sogar von The Archive selbst. 'Das ist freakig', sagt Krohlas, 'es ist, als erteile ein Ladeninhaber einem Menschen Hausverbot, um ihn dann in den Laden zu schubsen, wo er ihn wegen Missachtung des Hausverbots belangt.'" Mehr dazu, wie man sich das vorstellen muss, hier. Ferner sehr zu empfehlen sind die fortlaufenden Recherchen und Zusammenfassungen des IT-Technikers Klemens Kowalski, die an Informationen und Erkenntnissen alles toppen, was die Zeitungen bislang zum Thema gebracht haben.

Weiteres im Feuilleton: Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp ist bei den in seinem Buch "Galilei der Künstler" präsentierten, angeblich authentischen Zeichnungen aus der Feder Galileis einem Fälscher aufgesessen, berichtet Stephan Speicher unter Rückgriff auf eine aktuelle Reportage des New Yorker (online nur der Einstieg). Tim Neshitov stellt die chinesische Opentradition vor, die, unter Mao einst unterdrückt, heute von der Regierung als Symbol für kulturelle Unabhängigkeit vom Westen umhegt, insbesondere beim jungen Publikum aber wenig gefragt ist. Ira Mazzoni befasst sich mit Georges Michels "Landschaft mit Dorf und Windmühle" aus Gurlitts Kunstsammlung.

Auf der Medienseite schreibt Hilmar Klute einen recht erschöpften Vorab-Nachruf auf die Harald Schmidt Show, deren Zeit er mit der Absetzung nun auch bei Sky endgültig für beendet erklärt, "weil die Harald-Schmidt-Story zu Ende erzählt ist. Man weiß inzwischen, dass großer, intelligenter Witz nicht besser zu machen ist. .. [Sky ruft] noch etwas von 'großartigem Job', zwei tollen Jahren und Meilenstein hinterher. Schmidt sagt knapp 'Okay' - und in ein paar Tagen ist Weihnachten." Außerdem empfiehlt Jens Bisky Paul Plampers heute beim WDR ausgestrahltes, "provozierend intimes" Hörspiel "Stille Nacht (Ruhe 3)".

Besprochen werden eine Ausstellung von Iwan Baans Fotografien in Herford, Frank Castorfs Adaption von Balzacs "La Cousine Bette" in Berlin, Claus Guths Inszenierung von Schuberts "Lazarus" in Wien, Jay Bulgers Dokumentarfilm "Beware of Mr. Baker" über den Cream-Schlagzeuger Ginger Baker, das in Bonn aufgeführte Theaterstück "Helmut Kohl läuft durch Bonn", ein Konzert von Arcadi Volodos und das Journal der Brüder Goncourt, das im übrigen auch in den kommenden Monaten beim Merkur gelesen werden wird (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 21.12.2013

Zum 75. Todestag Ossip Mandelstams erinnert Olga Martynova in einem sehr persönlichen Text an seine Studienzeit in Heidelberg, wo er sich als Josef Mandelstamm eingeschrieben hatte: "Manche Häuser, die mit verjüngten Ecken in Straßenkreuzungen einschneiden, sehen wie entfernte Verwandte solcher Petersburger Häuser aus, über die russische Passanten einander sagen: 'Schauen Sie, da steht ein vollkommen hoffmannsches Haus.' Nur ist alles klein hier in Heidelberg, nicht furchterregend, und verhält sich zu Petersburg wie ein Puppenhaus zu einem echten."

Weitere Artikel: Kerstin Holm kommentiert immer verrücktere Ideen der orthodoxen Kirche in Russland, in der einige Priester alleinerziehende Mütter offiziell als Huren titulieren wollen. Ein höchst beeindruckter Dieter Bartetzko trifft im Kloster Maria Laach den jungen Bruder Stephan, der sich durch Blumenkunst hervortut. Die Medienseite ist großenteils Harald Schmidt gewidmet, der seine Show nun auch bei Sky aufgibt. Auf der letzten Seite erklärt der Architekt der Berliner Gemäldegalerie, Hilmar Sattler, im Gespräch mit Andreas Kilb, was man am missglückten Kulturforum in Berlin alles besser machen könnte.

Besprochen werden die Ausstellung "Dix/Beckmann: Mythos Welt" in der neu hergerichteten Kunsthalle Mannheim, eine von Frank Castorf besorgte Dramatisierung von Honoré de Balzacs "Cousine Bette" an der Berliner Volksbühne, ein neuer, in Wien aufgeführter Liederzyklus Manfred Trojahns und Bücher, darunter Vladimir Jabotinskys neu übersetzter Roman "Richter und Narr" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Die Frankfurter Anthologie wartet mit einem alten Artikel Marcel Reich-Ranicki über Goethes "Die schwebende Pein" auf:

"Freudvoll
Und leidvoll
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt."

Nebenbei gefragt: Was wird eigentlich aus der Frankfurter Anthologie? Lasst sie weitergehen!