Vorgeblättert

Jorge Edwards: Der Ursprung der Welt. Teil 3

21.02.2005.
II
Es lebte gut, wer sich gut versteckte. (Ovid)


"Schau, Patito", sagte Felipe Diaz, "es ist so ?" - und wenn die Erinnerung an den Freitag vergangener Woche mich nach allem, was geschehen ist, nicht täuscht, setzte er einen schelmischen, ja euphorischen oder vielleicht unschlüssigen Gesichtsausdruck auf und machte bei dem Einleitungssatz eine Pause, als wollte er die Wichtigkeit des kommenden unterstreichen. Er machte es sich auf dem Stuhl bequem, ließ den Blick aus den beschwipsten, geröteten, stupiden Augen über die lärmende Ecke wandern, wo sich so viele Straßen und Boulevards treffen, schaute unnachsichtig, mit der Verachtung des alten Parisers, auf die Touristen mit kurzen Hosen und Turnschuhen, die diszipliniert bei Grün über die Straße gingen, und schickte sich an, mir die echte Wahrheit zu sagen. Die "unerschütterliche", wie man im hohen Norden und im tiefen Süden meines Landes sagt.

Obwohl sein Gesicht von Alkohol und Exzessen jedweder Art gezeichnet war, zu denen auch gelegentliches und in der letzten Zeit vielleicht nicht mehr ganz so gelegentliches Koksen gehörte, sah Felipe immer noch gut aus und er unterstrich das durch ein paar kokette Details bei der Kleidung. Er gehörte zu der menschlichen Spezies des lateinamerikanischen Intellektuellen, der pflichtgemäß zum kommunistischen Glauben konvertiert war, aber, wie man dort und hier sagt, "aus guter Familie" stammte und niemals die Verhaltensweisen, das Benehmen, seine Eleganz und im Grunde auch die Arroganz des Söhnchens aus gutem Hause abgelegt hatte.

Er war einmal in ferner Jugend mit einer Chilenin aus seiner Gesellschaftsschicht verheiratet gewesen, eine von diesen Bohnenstangen aus einer Großgrundbesitzerfamilie, bei denen man trotz ihrer Blasiertheit, ihren Seidenblusen und Cartieruhren hört, daß sie aus Colchagua stammen. Mit dem Landmädchen aus Colchagua, das, wie er mir erzählte, lebenslänglich zur geistigen Familie des fröhlichen Landmädchens der kreolischen Mythologie gehörte, hatte er ein paar Kinder, von denen er wenig sprach und die nur selten ein Lebenszeichen von sich gaben. Bei einer dieser Gelegenheiten schaffte er es sich scheiden zu lassen, man fragt sich wie, denn das Landmädchen war strenggläubige Katholikin, um in Paris eine Französin zu heiraten, die Silvia und ich kennenlernten, fromme Anhängerin einer anderen, damals, ich weiß nicht ob heute immer noch sehr mächtigen Kirche, der Partei. In den letzten zwanzig und noch was Jahren hatte er allein gelebt, eine Eroberung war der nächsten gefolgt, mit manchmal blitzartiger Geschwindigkeit, meist aufgrund ihrer Schönheit oder anderen Talenten außergewöhnliche Frauen, die uns, Silvia, mich, unsere Freunde, sprachlos machten (die Silvia faszinierten? verführten?) und die in unsere von ideologischen Litaneien und endlos wiederholten Witzen gesättigten Gesprächsrunden wie Meteoriten einfielen, die Neues brachten, und mehr als das: sie brachten Licht, Echos, Reflexe von anderen verführerischen, fremden, für uns verbotenen Planeten. Es heißt, die Bilderkommission mit ihrer uns allen bekannten Strenge und tödlichen Multiplikatorwirkung wäre der Hauptgrund für seine Entfernung von der Partei gewesen, und seine immer häufigere, immer explizitere und indiskretere Kritik, seine abweichlerischen, intellektuellen Reden, seine immer leidenschaftlichere Distanz zu dem Sowjetischen Block schon lange vor dem Mauerfall und zum Castrismo, der neuen, unantastbaren, reinen Revolution, wie es damals hieß, wären eine spätere oder zumindest die Funktion einer Ursünde hatte. Ich meinerseits habe mich mit dieser Erklärung nie zufriedengegeben. Ich hatte immer das Gefühl, es handele sich um eine Erklärung für den internen Gebrauch, die man als barmherzig bezeichnen könnte. Barmherzig gegenüber uns, gegenüber unseren Illusionen! Trotz seiner offenkundigen, nie verschleierten Frivolität, verschlang Felipe Diaz Zeitungen, Bücher, alles Gedruckte.

Er hatte eine durchdringende, gut trainierte Intelligenz, eine Aufnahmefähigkeit wie ein Schwamm, ein Elefantengedächtnis, und ich weiß, er hatte in den sechziger Jahren und sogar noch in den Jahren vor dem XX. Kongreß der KPdSU und dem geheimen Bericht von Nikita Chruschtschow angefangen, an unserer "Sache" zu zweifeln (nicht einmal jetzt können wir die Sprache der Eingeweihten, den Jargon, vermeiden). - Er war der einzige von uns, der immer, seit den Anfangsjahren, eine von spaßhaften, offen respektlosen Bemerkungen durchsetzte Antipathie gegenüber Fidel Castro zeigte, den er zu unserer Entrüstung als "Langbart" bezeichnete, und wenn er ein paar Gläser intus hatte, imitierte er sehr komisch die Sprechweise der Kubaner, und ich habe den Verdacht, all seine Zweifel erreichten den Höhepunkt oder traten offen zutage, bekamen sozusagen die Erlaubnis sich frei zu bewegen, als die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschierten. Von dem Zeitpunkt an hatte ich den merkwürdigen, ganz persönlichen Eindruck - und ich verspürte dabei Wut, Erbitterung, vage Eifersucht -, er ersticke die Klagen um den verlorenen politischen Glauben in den Armen oder der Vagina der Frauen, und beide Extreme, der politische Skeptizismus und "das Fleisch, das uns mit seinen frischen Zweigen versucht", um unseren Ruben Dario zu zitieren, der seine poetischen Kunstwerke vielleicht in denselben Gefilden, in der Nähe der metaphysischen Ecke von der Rue Delambre und des Boulevard de Montparnasse verfaßt hatte, würden sich gegenseitig verstärken. Felipe Diaz, das ist klar, brauchte keine Vorwände oder größeren ideologischen Konflikte, um sich in seine Abenteuer zu stürzen, aber in den intensiven Tagen des Gnadenjahres 1968, zwischen dem Pariser Mai und dem Prager August, zog er einen endgültigen Schlußstrich unter seine Ehe mit der Französin, seiner zweiten Frau, die in jener Zeit des Linksextremismus, des "Gauchisme", der linken Kritik am Stalinismus, eine Stalinistin nach Stalin war, eine Stalinistin aus Berufung, die den Stalinismus erfunden hätte, wenn es ihn nicht gegeben hätte, wie viele andere, die ich kenne; er hat also mit der Französin Schluß und sein eigenes Ding gemacht, bevor die Unruhen übergangsweise in der Gesellschaft einer überspannten Architekturstudentin endeten; er befreite sich parallel dazu ebenfalls endgültig von den Fesseln der Partei, was ja nur konsequent war, und stürzte sich in ein neues Leben als entfesselter Don Juan, Orgien ohne Ende, in den freien lichten Momenten verfaßte er gar nicht so schlecht geschriebene antikommunistische Pamphlete (das mußten wir damals schon anerkennen), ein paar zu vernachlässigende phantastische Romane, ein Genre, das nicht zu ihm paßte, Bastarde der Erzählungen von Borges und Julio Cortazar und ein tendenziöses, geradezu desaströses Theaterstück, dessen Aufführung zur Folge hatte, daß seine Ex-Kommunistenfreunde (ausgenommen Silvia und ich) Krallen und Hauer wetzten. Plötzlich sahen wir, wie sich die geifernde Meute erhob, und wir wollten ihn verteidigen, Silvia mit mehr Überzeugung und Energie als ich (das muß ich mir jetzt im nachhinein eingestehen), aber Felipe Diaz hatte es uns mit seiner verrückten, im Grunde prätentiösen Idee, an einem Wochenende ein Theaterstück schreiben zu können, nicht gerade leichtgemacht. Und so mußten wir von unseren Logenplätzen aus dem Scheitern und dem nachfolgenden Gemetzel tatenlos zusehen. Silvia war sichtlich traurig, bei mir vermischten sich Traurigkeit, Rachegefühle und eine nicht zu knappe Portion schlechte Laune.

Nun, um zum Thema zu kommen: er erzählte mir an jenem Freitagvormittag auf der Terrasse des Dôme, begleitet vom Klirren der Eiswürfel in seinem dritten Whisky, daß ihn eine Mexikanerin japanischer Herkunft besucht habe, was für eine Mischung!, aber das Ergebnis dieser Mischung könne sich sehen lassen, ein Traum!, er hatte sie kürzlich auf einer Reise durch die Schweiz kennengelernt, wo sie in der Nähe von Basel mit einem jungen, wohlerzogenen Schweizer lebte, der etwas darstellte, aber keinen Pep hatte und so fade wie ein Glas Leitungswasser und noch dazu Professor für Literaturtheorie war.
"Und sie?"

Teil 4