Vorgeblättert

Leseprobe Chinelo Okparanta: Unter den Udala Bäumen - Teil 2

02.10.2018.
Kapitel 45

Ndidi hatte mich eingeladen, öfter zu ihr zu kommen, und so begann ich sie abends regelmäßig zu besuchen, sobald Mama und ich den Laden zumachten. Wenn ich bei ihr eintraf, musste sie meist noch ein oder zwei Stunden arbeiten. Trotzdem wollte sie unbedingt, dass ich kam, weil sie, wie sie sagte, meine Anwesenheit genoss, selbst meine stumme Anwesenheit.
     Sie besaß einen Plattenspieler, der auf einem Tisch neben ihrem Fernseher stand. Während sie die Hausaufgaben ihrer Schüler korrigierte, saß ich auf dem Sofa, hörte leise Musik und beobachtete, wie sie die Stirn runzelte oder die Lippen aufeinanderpresste. Und ich las Bücher aus ihrem Regal. In dieser Zeit las ich sehr viel, über Monate hinweg jeden Abend mindestens zwei Stunden lang: Agatha Christies Kriminalromane, Der Palmweintrinker von Amos Tutuaola. Efuru von Flora Nwapa. Jane Eyre von Charlotte Brontë. Sturmhöhe von Emily Brontë. Alles zerfällt, das ich ein paar Jahre zuvor gelesen hatte, las ich noch einmal, einfach, weil es bei ihr im Regal stand.
     Hin und wieder legte Ndidi beim Korrigieren eine kurze Pause ein. Dann ging sie zum Kühlschrank und kam mit zwei Flaschen Fanta zurück, einer für sich und einer für mich. Wir tranken einträchtig, ohne uns groß zu unterhalten, und manchmal sahen wir uns auch nur an und kicherten wie kleine Mädchen.
     An einem Freitag tranken wir gerade unsere Fanta, als Ndidi sagte: »Ich würde dir gern einen ganz besonderen Ort zeigen. Ich glaube, er wird dir gefallen.«
     »Was für einen Ort denn?«
     »Das ist eine Überraschung«, sagte sie. »Aber dort läuft gute Musik und man kann tanzen.«
     »Gern«, sagte ich. »Wann denn?«

     Sie grinste frech. »Wenn du willst, jetzt gleich.«

     Es war fast acht Uhr abends. »Mama wird mich ausschimpfen, wenn ich zu spät nach Hause komme.« Ich setzte ein strenges Gesicht auf und ahmte Mama nach: »Ein anständiges junges Mädchen verbringt nicht die halbe Nacht auf der Straße.«
     Ndidi kicherte. »Das klingt ja, als wollte ich eine Prostituierte aus dir machen.«
     »Vielleicht nicht gleich eine Prostituierte, aber–«
     »Wir müssen ja nicht lang bleiben«, sagte Ndidi. »Nur ein, zwei Stunden.«
     Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa. Jetzt streckte sie die Hand aus und strich mir sanft mit den Fingern über den Arm. Zwischen uns gab es eindeutig eine Anziehung, und aus diesem Grund steckte ich in einer Zwickmühle. In meinem Kopf herrschte Chaos. Zuerst war da das Problem mit Amina. Jedes Mal, wenn ich mir eingestand, dass ich mich zu Ndidi hingezogen fühlte, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht Amina war. Ich hatte den Eindruck, Amina zu hintergehen, wenn ich für jemand anders Gefühle entwickelte. Dabei hatte sie eigentlich mich hintergangen. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen.
     Dann war da das Problem mit Mama. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit ihr unter einem Dach zu leben und mich gleich- zeitig auf Ndidi einzulassen. Je größer der Abstand, desto kleiner das Pflichtgefühl. Oder anders herum: Je mehr Nähe, desto größer das Pflichtgefühl. Jetzt, wo ich wieder mit Mama zusammenlebte, fühlte ich mich – viel stärker als an der Obodoañuli Academy – verpflichtet, ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Vor allem, nachdem mir das, was zwischen mir und Amina gewesen war, auf die Füße gefallen war. Würde mir so etwas wie- der passieren? Würde ich mich Ndidi öffnen, nur um am Ende sitzengelassen zu werden, so wie von Amina?
     »Also, was ist?«, fragte Ndidi. »Hast du Lust, mit mir da hinzugehen?« An ihrem Gesicht sah ich, dass sie meine Antwort schon kannte, aber ich sprach es trotzdem aus: »Ja«, sagte ich.
     Trotz meines Dilemmas war das die Wahrheit. Wo auch immer sie mit mir hinwollte, ich würde mitgehen.
     »Prima«, sagte sie. Sie setzte die Fantaflasche an die Lippen, verharrte in der Bewegung und sah mich an. »Sicher?«
     Ich nickte. »Sicher.«
     Während wir uns die Haare kämmten und unser Makeup auffrischten, sagte Ndidi: »Eins solltest du noch wissen.«
     »Was denn?«, fragte ich.

     »Über den Ort, wo wir hingehen.«

     »Was ist damit?«

     »Es ist nicht die Art von Ort, über den man mit anderen sprechen kann. Du musst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen.«
     »Warum?«, fragte ich. »Was ist das für ein Ort?!«
     »Das wirst du schon noch früh genug herausfinden. Aber zu- erst musst du mir versprechen, dass du niemanden davon er- zählst. Nicht einmal deiner Mutter. Du darfst ihr gegenüber kein Wort darüber verlieren. Wenn du es mir nicht versprichst, können wir nicht hingehen.«
     »Ich habe nicht vor, Mama davon zu erzählen«, sagte ich.
     »Gut. Denn wenn du es herumerzählst, könnte das einige von uns das Leben kosten, wenn nicht sogar uns alle.«
     Ich lachte über den Ernst in ihrer Stimme. »Jetzt übertreibst du aber. Was soll das denn für ein Ort sein, den man besucht und dann stirbt?«
     Sie lachte ebenfalls. »Es klang dramatischer, als ich wollte. Aber andererseits ist es auch dramatisch. Also versprich mir einfach, dass du kein Wort sagst. Zu niemandem.«
     »Ich verspreche es.«

Die Kirche war klein und schwach beleuchtet und stand an ei- ner unbefestigten Straße, in die man von der Main Aba Road einbog. An einer Außenwand hing über einem großen weißen Kreuz ein Schild mit der Aufschrift: FRIEND IN JESUS CHURCH OF GOD. Zwei blauweiße Säulen flankierten eine ge- schnitzte Holztür, und darüber war ein Banner gespannt, auf dem in großen lila Lettern stand: FOUNTAIN OF LOVE, Quelle der Liebe.
     »Wir gehen in eine Kirche?«, raunte ich Ndidi zu, als wir vor der Holztür standen.
     »Lass dich überraschen«, antwortete sie.
     Wir betraten das Gebäude. Drinnen blinkte Stroboskoplicht. Die Fenster waren mit schwerem lila Stoff verhängt. An den Wänden standen Tische, auf denen jeweils eine Kerze brannte. Um jeden Tisch waren zwei oder drei Stühle gruppiert, und die meisten waren besetzt. Die Leute unterhielten sich angeregt.
     Es lief Musik, allerdings nicht besonders laut. In der Mitte des Raums tanzten mehrere Paare eng umschlungen. Der Geruch von Whiskey und Bier hing in der Luft.
     Wir setzten uns an einen Tisch mit zwei freien Stühlen. Eine Frau mit einem recht gewöhnlichen Gesicht kam auf uns zu. Sie trug ein weißes Hemd, das sie in ihre khakifarbene Schlaghose gesteckt hatte, und hatte lange, dünne Dreadlocks. Von ihren Ohrläppchen hingen große silberne Kreolen.
     »Ah, Ndidi, wir dachten schon, du hättest uns vergessen!«, sagte die Frau.
     Ndidi stand auf und umarmte die Frau. »Ich hatte viel zu tun. Die Schule, du weißt schon.«
     »Ach, komm!«, sagte die Frau neckend. »So viel kann das nicht gewesen sein! Für andere Dinge hattest du ja offenbar auch Zeit. Gut siehst du aus!«
     Ndidi winkte ab. Dann sagte sie: »Das ist Ijeoma, eine Freundin. Ijeoma, das ist Adanna.«
     Adanna verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Ach soo- ooo.« Sie zog das Wort in die Länge. »Das ist also der Grund, warum du so beschäftigt warst.« Sie schüttelte mir die Hand.
     Ndidi ignorierte die Bemerkung und sagte: »Ijeoma ist zum ersten Mal hier. Also benimm dich, sonst traut sie sich nie wieder her.«
     Adanna lachte. »Schon gut, schon gut. Ich reiße mich zusammen.«
     Dann wandte sie sich an mich. »Willkommen, Ijeoma. Ich hoffe, es gefällt dir bei uns. Falls du Lust hast zu tanzen, nur zu. Die Tanzfläche steht allen offen. Allerdings unter einer Bedingung: Du musst mir versprechen, später mit mir zu tanzen.« Sie zwinkerte mir zu.
     Eine Frau mit einem dichten Afro, die einen weißen Rock trug, stellte sich neben Adanna, hakte sich bei ihr unter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Adanna sagte zu Ndidi: »Zum Glück gibt es heute Abend keinen Mangel an Frauen.«
     Sie zwinkerte Ndidi zu und ließ sich von der anderen Frau davonziehen.

»Seit wann finden in dieser Kirche solche Partys statt?«, fragte ich später auf der Tanzfläche.
     »Schon lange«, antwortete Ndidi. »Seit mehreren Jahren. Und diese Kirche ist nicht die erste. Früher fanden die Partys in einer anderen Kirche statt, ein Stück außerhalb der Stadt. Aber sie wurde niedergebrannt. Jemand hatte herausgefunden, dass es keine richtige Kirche war. Ein paar Leute haben sich zusammengerottet und sie angezündet. Zum Glück geschah das mitten am Tag. Niemand war in dem Gebäude, deshalb gab es keine Todesopfer. Mit dieser Kirche hier ist es anders. Tagsüber ist es eine echte Kirche. Leute kommen zum Gottesdienst her, das ist eine viel bessere Deckung. Im Moment läuft alles gut. Bisher sind wir nicht aufgeflogen.«
     Wir tanzten weiter. Nach einer Weile fragte ich: »Und zwischen Adanna und dir, ist da was?«
     Ndidi lachte. »Nein«, sagte sie dann.

     »Das sah aber anders aus.«
Ndidi begann zu protestieren, besann sich dann aber eines
Besseren. »Wir sind befreundet. Wir unterrichten an derselben Schule. Sie hat mich zum ersten Mal mit hergenommen. Es kann sein, dass sie sich ein bisschen für mich interessiert.«
     »Aber du interessierst dich nicht für sie?«
     Sie schüttelte den Kopf. »Sie ist eine gute Freundin, mehr nicht. In Moment nimmt jemand anders meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.«
     Ich wusste, dass sie mich damit meinte. Wieder musste ich an Amina denken. Mein Magen zog sich zusammen: Warum hatte ich so starke Gefühle für jemand anderes als Amina? Erneut fühlte ich mich, als würde ich fremdgehen, dabei hatte Amina mich sitzengelassen.
     Von Amina kam ich auf Mama und unsere Bibelstunden. Ich musste daran denken, wie der Lehrer mich und Amina ausgeschimpft hatte und wie er gedroht hatte, man würde uns steinigen. Auch wenn ich nicht von Mamas Auslegung der Bibel überzeugt war, überfiel mich eine lähmende Angst. Tausend Fragen geisterten mir im Kopf umher: Was tat ich hier? An diesem verruchten Ort? Gehörte sich das für ein anständiges junges Mädchen?
     In diesem Moment wurde die Musik lauter und brachte meine Gedanken zum Schweigen. Ndidi zog mich näher, presste sich an mich, und es beruhigte mich, ihren Körper zu spüren. Noch nie hatte ich auf diese Weise mit einer Frau getanzt. So unbefangen. Ich verbannte alle Gedanken an Amina und Mamas Bibelstunden und die Worte des Lehrers und die Steinigungen. Ich befahl mir selbst, den Moment zu genießen. Genießen, genießen, genießen!
     Ndidi und ich tanzten lange Zeit miteinander, und ich fühlte mich so frei wie nie zuvor.

Ndidi brachte mich nach Hause, bis ganz in die Nähe von Mamas Bungalow. Kurz vor dem Tor blieb sie stehen. »Ich hoffe, ich kann dir vertrauen. Du darfst niemandem von heute Abend erzählen.«
     »Natürlich kannst du mir vertrauen.«
     Sie nahm kurz meine Hand. »Danke für den wunderschönen Abend.«
     »Danke, dass du mich mitgenommen hast.«
     »Ich fahre übers Wochenende nach Obigbo, meine Eltern und meinen kleinen Bruder besuchen. Vielleicht können wir nächste Woche, wenn ich wieder da bin, ja noch einmal ausgehen.«
     »Sehr gerne«, sagte ich.
     Dann standen wir ein paar Sekunden verlegen herum und sahen uns in die Augen. In einer anderen Welt hätten wir uns vielleicht geküsst. Wir hätten einander vielleicht in den Arm genommen, so wie Verliebte es tun. Aber das ging nicht. Mama war ganz in der Nähe. Sie konnte jeden Moment auftauchen, und dann wäre die Hölle los. Irgendein Nachbar könnte auftauchen, mit derselben Folge.
     »Bis nächste Woche dann«, sagte Ndidi schließlich.
     »Bis nächste Woche.«
     Während sie die Straße entlangging und ich ihr nachsah, war ich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Am liebsten hätte ich die Zeit vorgedreht bis zur folgenden Woche.

Kapitel 46

     »Wo warst du?«, brüllte Mama.

     »Nur bei Ndidi«, antwortete ich.

     »Nur bei Ndidi? Und warum kommst du erst jetzt nach
Hause? Weißt du, wie spät es ist?«

     Es war nicht einmal elf, also eigentlich nicht besonders spät.
Aber das sagte ich besser nicht zu Mama. Stattdessen sagte ich: »Es tut mir leid, Mama. Ich habe nicht auf die Uhrzeit geachtet.«
     »Du hast nicht auf die Uhrzeit geachtet?«, zeterte sie. »Du hast nicht auf die Uhrzeit geachtet? Wenn du nicht aufpasst, wird die Uhrzeit irgendwann nicht mehr auf dich achten! Und ich hoffe, du verstehst, was ich damit meine.«
     Sie schimpfte weiter vor sich hin: »Wenigstens warst du bei Ndidi. Wenigstens steht dieses Mädchen mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Es hätte noch viel schlimmer sein können.«
     Allein in meinem Zimmer war ich voller Gedanken an Ndidi. Während ich mein Nachthemd anzog und mich ins Bett legte, füllte sie mich ganz und gar aus, bis in den hintersten Winkel meines Kopfes. Ich konnte nicht anders, obwohl Mama im Zimmer nebenan war. In meinen Gedanken reagierte mein Körper auf sie. Mein Begehren wuchs, mehr und mehr, und ich konnte mir nur Erleichterung verschaffen, indem ich mich selbst befriedigte, etwas, was ich bis dahin nur selten getan hatte – vielleicht ein- oder zweimal im Internat in Oraifite. In diesem Moment war mir egal, was Mama über Onan und die Verschwendung seines Samens gesagt hatte, dass nämlich jede Form von Selbstbefriedigung eine Sünde gegen Gott sei.
     Das alles war mir egal. Ich tat es trotzdem. Ich fing langsam an, ganz sanft und wurde dann immer schneller. Nach kurzer Zeit stöhnte ich auf, und eine Welle der Erfüllung und Erleichterung durchströmte mich. Schuldgefühle hatte ich keine.
     Mit einem Gefühl tiefer Befriedigung schlief ich ein, aber schon nach wenigen Stunden schreckte ich wieder hoch.
     Erinnerungen an meine Bibelstunden mit Mama überfielen mich, ganz gleich, wie sehr ich versuchte, sie aus meinen Ge- danken zu verbannen. Anklagende Worte prasselten auf mich nieder wie ein Platzregen, und ich drohte, in ihnen zu ertrinken. Ich war so glücklich gewesen wie schon lange nicht mehr, und jetzt zerstörte dieser Albtraum alles. Er schien sich über mich lustig zu machen und mich fragen zu wollen, wie ich nur hatte glauben können, ein Anrecht auf Glück zu haben.
     In dem Traum hatte ich zusammengekrümmt auf dem Boden gelegen. Mama beugte sich mit drohendem Zeigefinger über mich wie eine zornige Lehrerin, in ihren Augen schimmerten Tränen, und sie funkelte mich vorwurfsvoll an. Sie schrie: »Die unachtsame Fliege folgt dem Teufel ins Grab.«
     Als ich aus dem Traum hochschreckte, hallten die Worte in meinem Kopf wider.


     Die unachtsame Fliege folgt dem Teufel ins Grab.
     Die unachtsame Fliege folgt dem Teufel ins Grab.
     Die unachtsame Fliege folgt dem Teufel ins Grab.


Ich kniff die Augen zusammen und zwang mich, wieder einzuschlafen, aber sobald ich wegdämmerte, ging der Traum von vorne los, und die Worte rissen mich wieder aus dem Schlaf:


     Die unachtsame Fliege folgt dem Teufel ins Grab.
     Die unachtsame Fliege folgt dem Teufel ins Grab.
     Die unachtsame Fliege folgt dem Teufel ins Grab.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags das Wunderhorn

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