Vorgeblättert

Leseprobe Dennis Jelonnek: Fertigbilder Teil 2

19.05.2020.
Aus dem Kapitel: Kunstproduktion als Konsumerfahrung – Andy Warhols Porträtpraxis

Die Verkettung von bildnerischen Techniken und die Inszenierung ihres Gebrauchs
Bereits die Dollar Bills als früheste von Warhol realisierte Siebdrucke stellten aufgrund der millionenfachen Verbreitung und flächendeckenden Popularität ihres Motivs ein Beispiel für den Typ von Vorlagen dar, mit denen Warhol zu Beginn hauptsächlich arbeitete: Seine Gegenstände waren die alltäglichen, zirkulierenden, fertig vorgefundenen Bilder, die er nicht veränderte, sondern lediglich nach seiner Vorstellung beschnitt. Bei der Siebherstellung durch das von Warhol beauftragte Unternehmen wurde diese Vorlage nach seinen Wünschen in ein kontrastreiches Raster „ohne zu viele Abstufungen“ überführt und dabei vergrößert oder verkleinert. Neben dieser ungenierten Verwendung teilweise urheberrechtlich geschützter Medienbilder hatte Warhol für seine Auftragsporträts, die er ein Jahr nach seinen Dollar Bill-Siebdrucken im Jahr 1963 zu produzieren begann, bereits eine alternative Bildquelle erschlossen: Für sein erstes Auftragswerk, die 36-fache Abbildung der Unternehmergattin Ethel Scull in einem Siebdruck-Tableau verwendete Warhol fotografische Vorlagen, die Scull auf Warhols Geheiß in einem nahegelegenen Fotoautomaten von sich aufnehmen musste.

Diese fotografische Ablichtung in der Kabine des Automaten wurde vom ersten Auftragsporträt an zum ritualisierten ersten Schritt auf dem Weg zum Siebdruckporträt, für das die Modelle sich allein oder in Warhols Begleitung, der Legende nach ausgestattet mit einer Tüte voller Münzen im Wert von mehreren hundert Dollar, in einer Kabine in zahlreichen variierenden Posen fotografierten, woraufhin aus den Resultaten geeignete Exemplare zur Weiterbearbeitung ausgewählt wurden. Die Tatsache, dass die Modelle die Automatenbilder von sich selbst anfertigen mussten verweist auf eine bedeutende konzeptionelle Regel, die sich Warhol auch bei der Anfertigung von Siebdrucken nach fertig vorgefundenen Vorlagen aufgab: die an Duchamp gemahnende Zerstreuung der Autorschaft durch die Mechanisierung der Bildherstellung, die einerseits den Aspekt des Maschinellen und der damit verbundenen Freiheit der Bilder von menschlicher Intention und andererseits die betonte Unabhängigkeit der Darstellungen von der Künstlerhand garantierte. Auch weiterhin sollte diese fotografische Schnittstelle zwischen dem abzubildenden Motiv oder Modell und dem resultierenden Siebdruck der neuralgische Punkt im Produktionsprozess bleiben, an dem Warhol sein Konzept am stärksten im Hinblick auf eine Entkopplung von seiner Künstlerhand ausrichtete.

Die Vorgehensweise Warhols, seine Modelle für aktuelle Fotografien in einen Fotoautomaten außerhalb der Factory zu schicken – oder sie dorthin zu begleiten –, gründete dabei auf der als zu kompliziert verworfenen Alternative, selbst Fotografien seiner Auftraggeberinnen und Auftraggeber anzufertigen. So hatte Warhol kurz nach einem Urheberrechtsstreit, in dem es um die Verwendung der Vorlage für seine Flowers-Siebdrucke ging, zwar kurzzeitig versucht, sich das Fotografieren mit einer Spiegelreflexkamera beizubringen, doch hatte er die Idee, diesen Apparat in seiner alltäglichen Praxis einzusetzen, rasch wieder verabschiedet. Die Unzufriedenheit mit komplizierten Kameras, Negativfilmen, aber auch mit den umständlichen Automatenfotos sollte schließlich den Beweggrund für Warhol darstellen, im Jahr 1971 auf ein neues Polaroid Kameramodell namens „Big Shot“ umzusteigen, mit dessen weitgehend automatisierter Bildherstellung die Ausflüge zu den Photo Booths der Umgebung schlagartig ein Ende fanden.

Die Aufnahme dieser spezifischen Sofortbildkamera in das Repertoire der Warhol’schen Bildtechniken, in dem sie ausschließlich für die Siebdruck-Porträtproduktion zum Einsatz kam, brachte zugleich auch eine entscheidende konzeptuelle Neuausrichtung mit sich, deren Auswirkungen auf Warhols Idee von Porträts und ihrer Produktion bislang nur unvollständig erfasst wurden. So bestand ein bedeutender Vorteil des Umstieges auf die Polaroid Sofortbildtechnik in der bislang ungekannten raumzeitlichen Verdichtung der Bildproduktion, durch die Warhol erst vollständige Kontrolle über deren Ablauf erhielt: Von der fotografischen ‚Gewinnung’ der Gesichter als Rohmaterial, über sämtliche folgenden ‚Veredelungsstufen’ bis hin zum letzten händischen ‚touch’, den Warhol den Siebdruckgemälden mit dem Pinsel gab, wurden nun alle Arbeitsschritte mit Ausnahme der externen Siebherstellung in den vier Wänden der Factory konzentriert, die sich den Auftraggebern der Porträts bei ihren Besuchen als ein kundenfreundlicher und engagierter Dienstleister präsentierte.

Die Neuheit dieser Vorgehensweise zeigt sich im Rückblick auf die Anfertigung der Porträts „tragischer“ Frauenfiguren von 1963 besonders deutlich und lässt die völlig unterschiedlichen Intentionen Warhols hervortreten, die er innerhalb der Gattungsgrenzen des Porträts realisierte. So transportierten die frühen Porträts von Marylin Monroe, Liz Taylor und Jacqueline Kennedy wie etwa auch die Wiedergaben von Leonardo da Vincis Mona Lisa eine Problematisierung der Aspekte von technischer Reproduzierbarkeit und Bildkult, eine durch ihre in den Medien kursierenden Vorlagen hervorgerufene Engführung, wie sie in ähnlicher Weise bereits Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz von 1936 leitmotivisch durchzieht. Obwohl dieser Text Benjamins zum Zeitpunkt von Warhols frühen Porträts noch nicht in englischer Übersetzung vorlag, entsteht retrospektiv der Eindruck, als ob Warhol den darin enthaltenen Thesen zum Verlust der Aura mit einer gnadenlosen Kaskade von immer neuen, immer entfernteren Abbildern eines sich zugleich ebenso entziehenden Originals entgegentrat, um die von Benjamin fein säuberlich sezierten Mechanismen der massenhaften Bildverbreitung und die Thesen einer Gründung des Kultes im ursprünglichen Unikat in situ auf den Kopf zu stellen: Indem Warhol Bilder von Bildern schuf, die er sowohl als neue, jeweils einzigartige Originale wie auch erneut als entwertete Massenbilder auf Tüten und ähnlichen Werbeträgern in die Welt entließ zeigte er, dass die Quantität der Bilder und ihre technische Reproduzierbarkeit neuen Formen des Kultes den Weg bereiten, der dort seinen Ort hat, wo wirtschaftliche Interessen der Konsumindustrie sich mit den von den Medien erzeugten Spektakeln überlappen und dabei populäre ‚Ikonen’ erzeugen. Weit davon entfernt, solche ökonomisch motivierten Mechanismen zu kritisieren, nahm Warhol diese auf, um selbst weitere Bilder solcher bereits etablierter ‚Ikonen’ in die Gesellschaft einzuspeisen, die er im Siebdruck schematisierte und auf eine kontrastreiche Farbigkeit reduzierte. Diese Manipulation ihres ‚Images’ ließ die Porträts der Stars zwischen einer zugespitzten Wiedererkennbarkeit und einer von ihrem Vorbild sich abkoppelnden Verschleifung in eine reine Bildlichkeit oszillieren, in der die in sich kreisende Logik medialer Weiterverbreitung sowohl eine extreme Wirksamkeit entfaltet, als auch offen als Anwendung einer Strategie erkennbar wird.

Diese Arbeitsweise, die sich einer inflationären Reproduktion bestehender Bilder bediente, wurde von Warhol in den späteren Porträts, für die er sich der Fotoautomaten und der Polaroid-Kameras zur Generierung der Vorlagen bediente, nicht weiterverfolgt, sondern unter Zuhilfenahme der nun zu integrierenden Techniken konsequent neu gedacht. Durch die Abkehr von bereits medialisierten Bildern von Berühmtheiten und mit der dezidierten Hinwendung an ein größeres Publikum zahlungskräftiger Kunden trat an die Stelle der Ikonizität von Bildern die Eitelkeit und Vergänglichkeit des Individuums, die in der ursprünglichen Doppelbedeutung der Bezeichnung als „vanity portraits“ mitklingt. Um diesem Fokus der Auftragsbildnisse in vollem Umfang gerecht zu werden steigerte Warhol ab 1971 die Bedeutung des Herstellungsvorgangs, der zu einem Ereignis und Erlebnis für seine jeweiligen Kunden werden sollte, die von diesem Zeitpunkt an als Mittelpunkt und Gegenstand einer nicht unwesentlich performativen künstlerischen Dienstleistung fungierten.

Warhol bediente mit diesen Porträts nach eigens angefertigten Fotografien einen Markt, den er selbst mit den vorherigen Porträts nach gefundenen Medienbildern und dem daraus resultierenden Begehren vermögender Betrachter nach einer vergleichbaren Ikonisierung geschaffen hatte. Diesem von ihm geschaffenen Begehren begegnete Warhol nun mit marktwirtschaftlichem Kalkül, indem er die der Welt des Konsums inhärenten Rituale und individualistischen Praktiken des Anfertigen-Lassens, des Auswählens und des Erwerbens auf die Erneuerung oder Weiterentwicklung seines Porträtkonzepts unmittelbar übertrug. Ein grundlegender Kunstgriff Warhols bestand dabei darin, die Verantwortung für das resultierende Porträt so weit wie möglich an das Modell als einem „Prosumer“ abzugeben und damit die Eitelkeit seiner Kundschaft zu befriedigen, die sich selbst nach Lust und Laune in Szene setzen durfte. Die zuvor beschriebene Position des weitgehend unbeteiligten, stets affirmativen Vermittlers einnehmend verlagerte sich Warhol konzeptionell auf eine zirkulär reflexive Praxis des Porträtierens, die exemplarisch „für eine Kultur steht, in der Knöpfe gedrückt und Auslöser betätigt werden.“ In ihr manifestiert sich die situationistische Charakterisierung des Spektakels in Reinform: „Der zutiefst tautologische Charakter des Spektakels geht aus der bloßen Tatsache hervor, daß seine Mittel“ – also die bedachte Inszenierung der Porträtsitzungen als Chance zur Selbstdarstellung für die Modelle – „zugleich sein Zweck sind“ – nämlich die Zelebrierung dieser Individuen im Herstellungsvorgang der bildlichen Repräsentation ihrer äußeren Erscheinung: „Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst“ – und Teilnehmer an diesem Spektakel, so könnte der Gedanke Debords im Sinne Warhols fortgeführt werden, wollen nichts anderes als diese Spektakelhaftigkeit unmittelbar am eigenen Leib erfahren.

Mit freundlicher Genehmigung der Edition Metzel.

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