Vorgeblättert

Leseprobe zu Bernard-Henri Levy: American Vertigo. Teil 3

12.03.2007.
(Seite 71-74)

Tocqueville in Minneapolis

Ein Einkaufszentrum. Das größte in den Vereinigten Staaten. Das zweitgrößte der Welt nach dem im kanadischen Edmonton. 500 Läden in einem einzigen Gebäude am Eingang der Stadt, in dem ich hier und dort Baseballschläger "made in Honduras", T-Shirts "made in Peru", Gartenzwerge und Strandartikel "made in Bangladesh", Puppen "made in Mexico", die aussehen wie Reagan, Kennedy oder Clinton, und alle Arten "Americanas" gesehen habe, die in Sri Lanka, Ägypten, Jamaika, auf den Philippinen, in Chile, Indien, Korea und Indonesien hergestellt wurden, doch kaum ein Produkt "made in America". Ein New-Age-Konsumtempel, eine Kirche - noch eine - zum Ruhm des siegreichen Kapitalismus und des Seins-für-den-Handel des Neo-Amerikaners. Nur dass es - und hier wird die Sache interessant! - auch ein Ort der Gastlichkeit und des Lebens sein soll. Dies sei der Ort von Min­neapolis oder sogar von ganz Minnesota, erklären mir John Wheeler und Anna Lewicki, der Vizepräsident und die PR-Chefin der Mall of America, an dem vereinsamte, gesellschaftlich im Abseits stehende, dem Internet und den virtuellen Welten verfallene Menschen hinkom­men, um ein wenig Wirklichkeit zu spüren und sich einen Schuss Ge­meinschaftsgefühl zu verpassen. Hier gibt es Kinderkrippen, Gaststät­ten, Kinosäle, die bestes Hollywoodkino zeigen, eine Bank, bei der man sein Geld einzahlt, bevor man es ausgibt, Stätten für den Gottesdienst, einen Vergnügungspark namens Camp Snoopy mit Sandkästen, Ach­terbahn, Wildwasserbahn und einen trügerischen Freibadgeruch, der die Hirnrinde von Kindern stimulieren soll, ohne dass sie Gefahr lau­fen, in ein Becken zu fallen, das Lego Imagination Center mit seinen Lego-Dinosauriern, eine Business School, die National American Uni­versity für fleißige Jugendliche. Man findet dort Grünanlagen, eine Kli­nik, eine Bibliothek, die wie ein Lunapark aussieht, ein Beerdigungs­unternehmen. An was haben die Planer der Mall nicht gedacht? Für welche Lebensumstände findet sich kein Rahmen in dieser Seifenblase, diesem rosaroten Metropolis, dieser Megakirche der Ware, in der man im Prinzip sein Leben verbringen könnte?

Man kommt schon morgens her, bevor die Geschäfte öffnen, rein zum Vergnügen. Zur Mittagszeit, um sich zu bewegen statt zu essen. Es gibt die "Mall Walker", ungefähr 200 Menschen täglich, die nichts kau­fen, nur zum Joggen kommen, weil es nichts kostet, weil es gut tut, nie zu heiß und nie zu kalt ist, und vor allem, weil es "safe" ist, ungefähr­lich, rund um die Uhr bewacht. Zu guter Letzt hat man Kindern ohne Begleitung von Erwachsenen Freitag- und Samstagabends nach 18 Uhr sogar den Zutritt verboten, weil das Gerücht umging, Banden verwahrloster Kinder würden sich wie die Wölfe hier zusammenrotten, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Deshalb patrouillieren hier die Frei­willigen, "Mighty Moms" und "Dedicated Dads", die "strengen Tan­ten" und "lieben Onkel", die an den Wochenenden auf ungezogene Kin­der Acht geben und sie maßregeln. Du musst also warten, bis du fünfzehn bist, wenn du das Allerheiligste betreten und richtig "zur Mall gehören" willst. Viele wünschen sich, ihren 18. Geburtstag dort zu feiern. Ganze Bevölkerungsteile der Zwillingsstädte Minneapolis und Saint Paul träumen davon, die großen Anlässe ihres Lebens dort zu begehen, in diesen langen, fensterlosen Schläuchen, in denen es keine Frischluft, aber umso mehr Schnüffler und Überwachungskameras gibt, wo es laut und schwül ist. Hier kommt man her, um jemanden anzumachen, um zu flirten, um sich aufzurichten, wenn es einem schlecht geht, wenn man Zeit totschlagen will. Hier feiert man Flitterwochen, heiratet. Ja, die Hochzeit gehört unbedingt dazu. In der obersten Etage bietet eine ku­gelrunde Frau, die wie aus der Maschinenpistole redet, die Trauung in einer winzigen Kapelle an, die an ein Geschäft für Hochzeitskleider und -accessoires angrenzt. Man hat die Wahl zwischen "Wedding Premiere" (einstündige Trauzeremonie, Musik, Champagner, voreheliche Bera­tung im Gesamtpaket, montags und mittwochs für 669 Dollar, an allen anderen Werktagen für 699 Dollar, samstags 799 Dollar), einer "Little Wedding Plus" (halbstündige Trauung, fünfzig Gäste anstelle von sieb­zig zum Preisen von 569, 599 oder 699 Dollar), einer "Kleinen Hoch­zeit" (dreißig Gäste, 469, 499 oder 599 Dollars), einer "Traumhoch­zeit" (zwanzigminütige Zeremonie, zwei Gäste, 269, 299 oder 399 Dollar) oder einer "Traumhochzeit Plus" (dasselbe mit zwölf Gästen und zu einem Preis, der auf 369, 399 und 499 Dollar steigt).

Die Mall ist ein Abenteuer, und was für eines: städtisch, modern und alle Sinne umfassend! Sie ist - wenn ich von dem Menschenandrang vor dem Souvenirgeschäft ausgehe, in dem Tassen, Gläser, Bierkrüge, T-Shirts und anderer Nippes mit den Wappen und den Farben der Mall selbst verkauft werden - ein Erlebnis für sich und für diejenigen, die sie entdecken, ein außerordentliches Ereignis! Und was erfahren wir durch dieses Erlebnis? Was erfahren wir an dieser Grabstätte der Ware, von dieser Pyramide unnötiger Waren, nach denen keiner verlangt, in die­sem Endzeitambiente über die amerikanische Kultur? Welche Wirkung hat dieser Zwinger, dieses Aquarium, in dem anscheinend nichts zu fin­den ist außer dem Ersatz fürs Leben, auf die Amerikaner von heute? Man fühlt sich an den herdenhaften, beinahe tierischen Anblick erin­nert, den die Menschheit laut Alexandre Kojeve am unmittelbar bevor­stehenden Ende der Geschichte bietet. An die "bevormundende" Macht, die Tocqueville angekündigt hat: "Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild", ihr hervorste­chendes Merkmal ist das Bestreben, die Menschen "unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, dass die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, dass sie nichts anderes im Sinne haben, als sich zu belustigen."* In beiden Fälle packt einen ein finsterer Schre­cken. Als ob man plötzlich das wahre Gesicht von Big Brother sähe: bestrickend und verführerisch, reine Liebe, und daher umso bedrohli­cher, gefährlicher.


(Seite 98 ff)

Die Mauer des Pazifik
Von Seattle nach San Diego


Seattle, mon amour

Das Schönste an Seattle ist die Ankunft.
     Mir hat die Stadt wirklich gefallen.
     Mir gefällt diese weite Öffnung auf die Bucht hinaus und die frische Brise, die trotz des Hochsommers durch die Stadt zieht.
     Mir gefallen ihre schwankenden, sonnendurchfluteten Docks, das bunte, hektische Leben in den Markthallen, in denen spezialisierte Buchhandlungen, Läden für Plakatsammler und Bars zwischen zwei Fischhändlern eingeklemmt sind. Tagsüber ist die Brise angenehm, die sich von den Fjorden erhebt, als wollte sie die Straßen weiten, und abends der wattige, etwas graue Sommerdunst, der unerklärlicherweise auf Höhe der Waterfront Halt macht. Mir gefallen ihre Hügel und ihre endlosen Treppen, die Pontonbrücke über den Lake Washington, die Schiffe, die nach Panama oder Alaska auslaufen. Ich mag diese "Bou­levards ohne Hektik, ohne Geschäfte" rund um die First Avenue, wo die Phantome von Jack London, Jack Kerouac und Allen Ginsberg durch die Straßen streifen, und "die Großstadttrunkenheit", die über dem Capitol Hill und seinen Bürgersteigen schwebt, in die bronzene Tanzschritte gegossen sind. Und mir gefällt das Museum, von dem ich nicht weiß, wie ich es nennen soll, ob Jimi-Hendrix-, Paul-Allen- oder Frank-Gehry-Museum*, denn wie soll man ein Projekt nennen, wenn der großzügigste aller Mäzene dem größten Architekten die Hand reicht, um das außergewöhnlichste Rockmuseum zu bauen? Mir gefällt das Klima von Freiheit und Nonkonformismus, das im Wirtschaftszentrum dieses Bundesstaats regiert, von dem es während der großen Streiks in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hieß: "Die Vereinigten Staaten bestehen aus 47 Staaten plus dem Sowjet von Washington." Und ich bin beeindruckt, wie diese beinahe kanadische und schon asia­tische Stadt, diese chinesische Stadt, die in einer weit zurückliegenden Vergangenheit die schlimmsten Ausschreitungen gegen Asiaten in der Geschichte der Vereinigten Staaten erlebt hat und in die heute wieder mehr kluge Köpfe aus Taiwan, Hongkong, Seoul und Peking strömen als je zuvor, wie diese post-amerikanische Metropole, der man als Ein­ziger zutraut, dass hier die Kultur der Vereinigten Staaten von Morgen erfunden wird, allen anderen Einflüssen zum Trotz so hartnäckig eu­ropäisch bleibt.

Mir hat Frank Blethen gefallen, ein junger, weißbärtiger Mann, der aussieht wie Hemingway. Als Chef der Seattle Times kämpft er mit Zei­tungszar Hearst um die Kontrolle über seine Zeitung und für das Über­leben der unabhängigen lokalen Presse in Amerika, mit deren Schick­sal seiner Ansicht nach auch das der Demokratie verbunden ist.

In Redmond besuche ich den Firmensitz von Microsoft, eine Stadt in der Stadt, umgeben von Pinien, Wiesen und kleinen Seen, wo ich ei­nige der Ingenieure aus Mexiko, Frankreich oder Indien kennen lerne, die sich anschicken, die Sprache und die Umgangsformen der Zukunft zu entwickeln. Ich schätze diese Atmosphäre von Fantasie, Jugendlich­keit, schicker, ungewöhnlicher Boheme, Respektlosigkeit, Kosmopo­litentum, Kultur, Intelligenz, die von dieser seltsamen Fauna ausgeht - all die neuen Forschungen, wie zum Beispiel auf dem Gebiet der Bild-erkennung, den Enthusiasmus angesichts der Aussicht, mit dieser Technik die Handschriften von Joyce, Dostojewski oder Dickens zu entziffern, so dass dieselbe Technik, die ausgefeilteste Informations­technologie also, Schriftsteller von heute vielleicht dazu anregt, zum traditionellen Schreiben zurückzukehren, den frischen Wind, der durch das leere, weiß gestrichene, keimfreie und doch warme Zimmer weht, die ausgelassene Freude beim bloßen Gedanken daran, dass sie, die Söhne von Bill Gates, diese Ungeheuer der Wissenschaft und der Kultur beherrschen, über die Mittel verfügen, die am weitesten voran­getriebene Moderne mit dem Inbegriff des Altertümlichen zusammen­zubringen.

Ich besuche die Fabriken von Boeing, verbringe einen halben Tag in einer Landschaft mit riesigen Stahlträgern und Seilwinden, die eines Fernand Legers würdig sind, mit Minigebäuden unter gigantischen Hallen, mit Wänden aus Kontrollbildschirmen, mit monströsen Röh­ren und verchromten Raupen, riesigen Laufstegen, kolossalen Arbeits­bühnen, offenen Flugzeugbäuchen und stählernen Eingeweiden, mit Rümpfen und Panzerungen, in der sich jenes Wunder der Hochtechno­logie ereignet, das der Zusammenbau eines neuen Flugzeugs bedeutet. Und mir gefallen die Priester dieses Wunders, diese Arbeiter, auf deren Schultern eine Verantwortung lastet, die durch die Sicherheitsanforde­rungen und die terroristische Bedrohung noch größer geworden ist, die mit ihrem im Nacken zusammengebundenen Haar bei der Arbeit wie die Hippies, cool, zu einem Hit der Stones tänzeln.

Mir gefällt an der 1st Avenue, Ecke Virginia Street das Bistro "Le Pi­chet", dessen Schild auf Französisch verkündet, dass man dort tagsüber eine Bar und abends ein Cafe betreibt mit "regionalen Spezialitäten zu jeder Tageszeit". Ich habe mich dort mit Ron Reagan wiedergetroffen, dem Sohn von Ronald und Nancy, dessen Plädoyer für die Stammzel­lenforschung neben der Rede Barack Obamas das zweite große Ereig­nis auf dem Nominierungskonvent der Demokraten 2004 in Boston war, und ich freute mich darüber, ihn dort ganz "zivil" zu sehen, mit Jeansweste, Khaki-T-Shirt, struppig und unausgeschlafen, und auch er improvisierte in der Morgensonne einen Tanzschritt (schließlich ist er, im Gegensatz zu Barack Obama, tatsächlich Tänzer! Präsident Rea­gans Sohn ist wie der Sohn Prinz Sihanouks von Beruf Balletttänzer). Es war ein Vergnügen, ihn an jenem Vormittag wiederzusehen, als er fröhlich und entspannt die Plumpheit Bushs beim Begräbnis seines Va­ters mimte: "Na los, George", wisperte Nancy ihm zu, als sie sah, wie verschüchtert er sich im Kreis der Familie Reagan bewegte, mit hän­genden Schultern, eines Präsidenten unwürdig, so stark beeindruckt, dass er kein Wort herausbrachte, "na los, George, Sie werden uns doch bestimmt etwas sagen wollen!" - und er, versteinert, mit ständig auf und ab hüpfendem Kehlkopf, brachte nicht mehr heraus als ein erstick­tes "Wie geht’s?" Und mir gefällt auch die Geschichte über die Hinter­gründe seiner Rede in Boston, als ihm die "Speech Writers" der Partei noch am Morgen einen Schlüsseltext unterjubeln wollten, der voller Klischees und Floskeln für die Presse war, woraufhin er ihnen beschied, nein danke, das kann ich unmöglich sagen, entweder ich nehme mei­nen Text oder keinen, und wenn ihr ihn nicht wollt, kein Problem, dann fahre ich eben unverrichteter Dinge nach Seattle zurück.
     Kurz, in Seattle hat mir einfach alles gefallen.
     Stünde ich vor der Wahl, in welcher amerikanischen Stadt ich leben wollte, müsste ich einen, einen einzigen Ort in Amerika auswählen, an dem ich das Gefühl hätte, meine verloren gegangenen Spuren wieder­zufinden, dann wäre das Seattle.

Und wenn ich einen Augenblick dieser Entdeckung auswählen müsste, wenn ich einen Moment angeben müsste, an dem sich alles ent­schieden hat und der mir auf einen Schlag den ganzen Genius dieser Stadt offenbart hat, so wäre es eben jener erste - der Augenblick, als ich von Spokane aus über den Highway 90 ankam, nachdem ich am späten Nachmittag in einem Motel in Moses Lake Rast gemacht hatte, um ein Sandwich zu essen, durch die Kiefernwälder des Staates Wa­shington, die Weinberge der Wenatchee Mountains und über die Ho­mer M. Hadley Bridge gefahren war, und plötzlich wie eine Fackel zwi­schen zwei reglosen Wolken vor einem dunkelrosa gefärbten Himmel, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte, die Spitze eines Wolkenkrat­zers erblickte, den Space Needle, der schon vollständig beleuchtet war und der in meiner Vorstellungswelt auf einmal alles verkörperte was mich schon immer von Amerika träumen ließ: Poesie und Modernität, Vergänglichkeit und technologische Herausforderung, Leichtigkeit der Formen und zugleich das Babel-Syndrom, Lichter der Großstadt und panische Angst vor der Dunkelheit, ein Wald aus Stein - schon als Kind habe ich so gern "Wolkenkratzer" gesagt.

Mit freundlicher Genehmigung des Campus Verlages
(Copyright Campus Verlag)


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